Vertrauen gewinnt man nicht mit Zahnpasta
Lässig lehnt er sich an das weiß gestrichene Treppengeländer, eine Tasse voll schwarzen Goldes in der rechten Hand und ein Lächeln auf den Lippen. Den Ausblick, den er genießt, stiehlt ihm aufs Neue jede Möglichkeit in zusammenhängenden Gefügen zu denken. Die Tür ihres Zimmers schließt sie nie, wenn sie arbeitet - sie erträgt die Abgeschiedenheit nicht.
Ihre kräftigen, zugleich wundersam geschmeidigen Beine übereinandergeschlagen sitzt sie auf ihrem schwarzen Arbeitsstuhl. Eine Spezialanfertigung, um ihren emotional überlasteten Rücken während des Sitzens bestmöglich unterstützen zu können.
Ein Teil ihres Körpers, den er bereits stundenlang begutachtete. Mit seinen Fingern fuhr er entlang ihrer dunkler Pigmentflecken, die ein sonderbares Muster auf ihrer weichen Haut bilden. Die kleinen, hellen Härchen entlang ihrer Wirbelsäule stellten sich dann ein wenig auf, als hätten auch sie seine Berührungen genossen und würden sich ihm entgegenstrecken wie ein Hundekopf, der liebevoll gekrault wird.
Sie kann sich ihm gänzlich hingeben, sich vollends auf ihn einlassen und ihn walten lassen. Womöglich bezeichnet man dieses „Talent“ der Hingabe auch ganz banal als Vertrauen. Lange kennt er sie noch nicht, mit Sicherheit wird er alle Nuancen ihres Charakters und ihres Verhaltens auch nie gänzlich kennen lernen und deuten können – aber sie ist wertvoll für ihn. Alles, was er über sie weiß, und es ist wahrlich nicht viel, reicht tief. Ein konfuses Innenleben, das nicht so recht zu ihrem starken Auftreten passen will und von dem er so viel weiß wie von Raumfahrt. Er weiß, was benötigt wird, um zu großen und bedeutenden Reisen aufbrechen zu können – aber wo er schlussendlich sein und was er entdecken wird, kann er nur erahnen. Er weiß nicht, was sie gerne isst oder welcher Zahnpastageschmack ihr der Liebste ist. Vertrauen gewinnt man nicht mit Zahnpasta.
An Sonntagen kümmert sie sich nicht allzu sehr um ihr Äußeres, ihre dunklen Haare stehen dann ungebürstet etwas von ihrem Kopf ab, Kleidung wird an diesen Tagen ihrer Meinung nach überbewertet und genauso wichtig wie das, sind ihr dann auch Mascara und Make-up - ihre strahlenden Augen machen den entscheidenden Unterschied. Jeder, der sie in diesen Momenten beobachten könnte, hätte womöglich ähnliche Empfindungen wie er. Freude, Stolz, Verliebtheit, Vertrauen und eine unterschwellige Art von Fremde.
Würde sie aufstehen, könnte man ihren, wie auch den Rest des Körpers, leicht gebräunten Po begutachten, der nicht so ganz in ihr kurzes Freizeithöschen passen will. Man würde erkennen, dass ihre weiche Haut nicht perfekt ist und sich der Schönheitsfehler auf ihrem Rücken auch auf diesem Teil des Körpers breit gemacht hat. Dennoch trägt sie ihre Fehler mit einem überwältigenden Selbst-Bewusstsein.
Im Grunde genommen ist es auch genau das, was diesen Menschen ausmacht. Sie kennt ihre Schwächen, sie liebt ihre Fehler und kann damit umgehen. Und noch mehr ist sie sich ihrer fantastischen, wahrlich anziehenden Seiten bewusst. Ihr eng anliegendes Tanktop bietet einen offenen Ausblick auf die Wölbung über ihrem Herzen, gekonnt unbewusst in Szene gesetzt.
Warum sie dieses Maß an Vertrauen zu ihm hat und diesen immensen Umfang an Nähe zu ihm benötigt, kann er nicht sagen. Schon an ihrem ersten Abend miteinander war sie, wie ein aus dem inneren heraus sehender Blinder, zutraulich und nahe.
Sie hat ihm ein mausgroßes Schlupfloch in ihrer Fassade geöffnet und ihn in den Vorraum ihres Seelentraktes vordringen lassen. Ob er wirklich dort stehen wollte, ein Raum mit glatten, grauen Wänden, leicht rauchig und nach Putzmitteln riechend, auch das kann er nicht sagen. Er stand da, etwas befremdlich war es – aber er hat jede Sekunde darin genossen. Als er seine Nase wieder in die frische Luft hielt, konnte er sich kaum aus ihrer Festung lösen. Lieber hätte er versucht, den kaum als Tür zu erkennenden Durchgang in ihr Wohnzimmer zu durchbrechen. Auch jetzt fragt er sich, was ihn dort wohl erwarten würde.
Wäre es ein Raum voller Wärme, vielleicht mit einem von züngelnden Flammen gefüllten Kamin, Ledersofas und indirekter Beleuchtung? Oder wäre es nur eine Fortsetzung des ihm schon bekannten Vorraumes. Grau, kühl und ohne jegliche Ausstattung? Aber was ihn auch erwarten würde, er würde es voller Freude aufnehmen und sich für ihre Züge begeistern können.
Was sie miteinander verbindet, außer der selben Adresse, auch das konnte noch nicht in sein Bewusstsein vordringen. Zuerst war es pure Anziehungskraft, bis heute ist diese Art von „Kommunikation“ jedem Menschen unerklärlich. Dann war es Energie sexueller Art, die sie näher zueinander geführt hat. Und jetzt ist es ein dringendes Bedürfnis nach Nähe und menschlicher Wärme. Ihm kann sie diese Wärme geben, vor allem, wenn er einen Schritt zu nahe an sie heran tritt, seine leicht schwieligen Gitarristenhände an ihre Hüfte legt und mit dieser bis zu ihrem Po wandert.
Das sind Momente, in denen sie ohne den Kopf zu heben, aufblickt, ihren Körper an den seinen drängt und leise aufstöhnt. Ein hämisches Grinsen formt sich dann auf ihren Lippen, wenn sie ihn am Kragen packt und auf sich zieht.
Sie legt ihre Beine um seine Hüfte, beißt ihm etwas zu fest in den Hals und drängt ihre Hüfte an sein Glied. Sie weiß was sie will und sie weiß, was sie tun muss, um es zu bekommen. Ohne die erst später hoch kochende Erregung zu verspüren, stöhnt sie ihm ins seine großen, leicht abstehenden Ohren und weiß, dass er nachgeben muss. Er öffnet mit einer Hand Gürtel und Hose, während er sie grob an Hals und Brüsten küsst.
- Ich kann das nicht.
. *seufzen
- Ich kann es nicht.
. Du tust es nicht das erste Mal.
- Ja. Aber ich will, dass es ehrlich ist. Es soll keine Lüge sein.
. Es ist eine Lüge.
Sie beobachtet mich intensiv. Ich kann ihrem Blick nicht standhalten, sie kann meine Gedanken lesen, sie blickt durch mich hindurch und deckt mein Innerstes innerhalb von Sekundenbruchteilen auf – zerlegt und analysiert mich.
Als ich mich dennoch dazu aufraffe in die dunkelsten Augen zu sehen, die ich je erblickt habe, erkenne ich das erste Mal Trauer. Ich kenne diese Augen noch nicht lange, aber sie waren mir so schnell bekannt, dass ich jede Nuance von Gefühlen in ihnen erkennen kann. Trauer und Müdigkeit konnte ich bisher noch nie darin erblicken. Üblicherweise sind sie gefüllt mit Freude - unbändiger, kindlicher Freude. Nach außen strahlt sie momentan eine tiefe Ruhe aus, doch ich weiß genau, dass sie innerlich aufgewühlt ist.
. Ich mag dich.
- Ich weiß.
- Kleines, du weißt es doch. Was willst du hören?
. Nichts mehr, ich hab schon zuviel gehört – vor allem gestern Nacht.
- Das kann ich ihr nicht vorenthalten, nur weil du jetzt auch hier bist.
. Du könntest Rücksicht nehmen.
- Du stehst hier aber nicht an erster Stelle.
.*ruckartiges aufblicken
. Offensichtlich.
- Küss mich, Kleines.
. *seufzen
. Es hat geklingelt.
- Dann müssen wir wohl aufmachen.
.Wegen mir kann sie auch wieder heim fahren.
- Du weißt, dass ich da hingehöre. Bei ihr bin ich zu Hause.
Langsam windet sie sich unter mir hervor und schwingt ihre Beine auf den Boden. Ihr Ausdruck verrät mir nichts mehr. Das mausgroße Loch hat sie in Kürze wieder gestopft. Während sie nach oben in ihr Zimmer geht, das direkt neben meinem liegt, würde sie trotz all ihrer Trauer den Kopf nicht senken. Erhobenen Hauptes geht sie ruhig davon und ich weiß, dass ich nie wieder die Chance bekommen werde, ihr kleines Wohnzimmer zu sehen.