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"Videochallenge"
Videochallenge
Raffi steckt das Modul in sein mittlerweile ehrenhaft gealtertes Nintendo 64 und ich greife nach dem schwarzen Controller. Staubkörner schwirren in der schwülen Sommerluft umher und erstrahlen hell, als auf dem großen Fernsehgerät das Logo von „Super Smash Brothers“ aufflimmert. Eigentlich stand ich nie auf Kampfspiele, aber dieses hat es mir angetan. Früher haben wir Tag für Tag nach der Schule hier gesessen und in jeder freien Minute entbrannte der Kampf zwischen den zwölf beliebtesten Helden des Nintendo-Universums. Eins gegen Eins, bis einer keine Leben mehr hat.
Heute sind wir älter, 19, packen die alte Konsole nur noch selten aus, aber ab und zu kommt es noch zum Duell, das nie verjähren wird. Blind rauscht Raffi durch das Menü, die Einstellungen sind noch so vertraut wie damals. Er wählt, wie immer, Fox McCloud, den coolen Fuchs mit der Laserpistole. Mein Favorit ist Kirby, der ein bisschen aussieht wie eine rosafarbene Kaugummiblase.
Dann geht es los. Der frenetisch-monotone Kommentator, dessen Wortschatz wir bereits in- und auswendig kennen, zählt den Countdown runter und das unsichtbare Publikum begrüßt uns mit einem lauten Jubeln. Ich werfe Raffi noch einen letzten funkelnden Blick zu, doch dann endet die Freundschaft und wir sind beide wieder ganz in unserem Element. Von einem Schlag getroffen fliegt mein Kirby einige virtuelle Meter in die Luft, doch nicht weit genug. Denn die Regeln sind einfach: Wer den Bildschirmrand verlässt, der stirbt. Virtuos und mit rasender Geschwindigkeit bearbeiten wir unsere Gamepads, alle Tastenkombos sind uns mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen. Meine Hände sind feucht vom Schweiß, während ich mit verkreuzten Beinen auf dem alten, muffigen Futon sitze. Raffi hat die Beine ausgestreckt, sein Blick gilt ausschließlich dem flimmernden Bildschirm, und nur durch einen Schlitz im Fensterladen zerschneidet ein Lichtstrahl der gleißenden Mittagssonne das dunkle, allein vom Fernseher erhellte Wohnzimmer. Tip-Tip-Tip-Tip-Tip. Ab und zu ertönt ein Schrei, dann jubelt das Publikum. Ich sage keinen Ton, denn Konzentration ist das Wichtigste: Einmal zu blinzeln bedeutet, seine Deckung aufzugeben und anfällig zu werden für den tödlichen Schlag, der ein Leben und damit das Match kosten kann.
Es ist ein Duell zweier ebenbürtiger Gegner, und in diesem Moment ist es mehr als nur ein Spiel. Es ist eine Rivalität, die in den vielen Jahren zum Selbstzweck geworden ist. Heute vermisse ich diese Art des Wettkampfs. Ich mag Spiele, weil sie leicht zu überblicken sind, sie besitzen klare Regeln und haben einen Rahmen, in dem ich mich bewegen und experimentieren kann. Wenn man eines verloren hat, dann startet man von neuem, und alle Chancen sind wieder bei Null. In der Realität, so habe ich das Gefühl, macht man Fehler und kriegt häufig keine zweite Chance. Die wohltuenden Grenzen sind hier unsichtbar und die Möglichkeiten und ihre Konsequenzen sind komplex und unüberschaubar. Daher finde ich es heute beruhigend, wenn ich zumindest für kurze Zeit aus dem großen in das kleine Spiel zurückkehren kann.
Obwohl es sehr gut für mich aussah, habe ich übrigens letztendlich gegen Raffi verloren. Entkräftet sacke ich zusammen und lasse mich nach hinten in die weichen Kissen fallen. Sein triumphierendes Grinsen gibt mir den Rest. Aber es gibt mir auch Sicherheit. Denn hier geht es, egal wie oft man danebenliegt und scheitert, immer wieder von vorne los.