Vielleicht beim nächsten Mal
Er sass im Zug. Rechts von ihm hinter dem schmutzigen Glasfenster eilten bröckelnde Häuserwände, langgezogene Bäume und endlos graue Strassen in wilder Hast getrieben vorbei.
Es war ein langer Tag gewesen. Frühmorgens war er aufgestanden, als es draussen noch dunkel war. Und jetzt als er sich im Zug befand, dämmerte es bereits schon.
Anton streckte seine Beine aus. Er fühlte wie sich eine lähmende Müdigkeit über ihn ausbreitete. Er versuchte sich so gut es ging zu entspannen. Sein Kopf wurde schwer und fühlte sich an, als würde er nur noch von einem dünnen Draht gestützt werden, der jederzeit drohte, einzuknicken.
Er war schon bereits dabei, die Realität zu verlassen und in die verworrene Welt der Träume einzutauchen, als er geweckt wurde.
"Ist der Platz noch frei?", fragte eine unbekannte Stimme. Sie klang warm und ein wenig rauh. Er kniff die Augen zusammen und setzte sich aufrecht hin. „Klar!“, sagte er noch halb verschlafen. Als er sie erblickte, setze sein Herz für einen Schlag aus. Schnell spürte er seinen Puls und das Blut in seinem Körper rauschen.
Es war ihm ein wenig unangenehm, dass sie ihn so gesehen hatte.
Dunkle Locken fielen sanft auf ihre Schultern. Die Augen konnte er nicht erkennen, da sie aus dem Fenster schaute. Bestimmt waren sie grün. Er mochte grüne Augen. Als sie sich vorhin gesetzt hatte, hatte er einen leichten Duft von Vanille wahrgenommen.
Er schloss für einen Moment die Augen und versuchte sich auf ihren Duft zu konzentrieren, doch roch er nichts mehr. Vielleicht hatte er es sich auch bloss eingebildet.
Ganz in seinen Gedanken über die schöne Unbekannte, stellte er sie sich vor, wie sie in einer weissen Vanilleblüte stand, umgeben von saftigen grünen Blättern. Ein türkisfarbener Schmetterling mit schwarzen Tupfen (falls es überhaupt einen solchen gab, aber das war ihm egal. Einen Realitätsanspruch an seine Phantasie hatte er noch nie gestellt) näherte sich ihr und setzte sich auf ihre Stirn. Blass schimmerte ihre Elfenbeinhaut hervor. Sie hob ihre Hand und zog eine Linie in die Luft, aus welcher Tausende von kleinen Sternen auf sie und die Vanilleblüte herabregneten.
„Nächster Halt Hauptbahnhof!“, ertönte eine mechanische Stimme aus dem Lautsprecher.
Er sah sie wieder an. In der Zwischenzeit hatte sie einen Discman hervorgenommen und hörte Musik. Er überlegte sich, was sie wohl gerne hören mochte. Vielleicht Rock oder Elektro?
„Entschuldigung!“, sagte Stefan zu ihr. Sie schaute ihn etwas überrascht an, nahm den Kopfhörer ab und sagte „Sprichst du mit mir?“. „Ja Entschuldigung, wenn ich dich gestört habe, aber ich habe mir überlegt, was du dir wohl gerade anhörst.“ „Kennst du Morcheeba? Fragments of Freedom.”
“Ja, die ist toll. Die habe ich au zu Hause stehen. Bis wohin fährst du? Vielleicht können wir uns ja noch ein wenig unterhalten. Das wäre echt toll.“
„Ich muss die nächste raus, aber wenn du Lust hast, kannst du mir ja deine Nummer geben und ich rufe dich an, dann könnten wir zusammen bei einem Tee ein wenig über Musik quatschen, wenn du magst.“
„Nächster Halt, Altstetten!“, hörte Stefan den Lautsprecher erneut. Er öffnete die Augen und sah sich um. Sie stand schon beim Ausgang. Die Tür öffnete sich und sie trat heraus auf den Bahnsteig. Nachdem sie ihre Tasche zurechtgerückt hatte, lief sie Richtung Busstation. Sie drehte sich nicht ein einziges Mal um. Ob sie überhaupt Notiz von ihm genommen hatte?
In diesem Moment fühlte Stefan einen tiefen Schmerz in seinem Innern, gefolgt von Wut über seine Unfähigkeit, sich der Realität zu stellen. In seinen Träumen und Gedanken war er ständig der Held, doch im wahren Leben nutzte er keine der Chancen, die sich ihm anerboten. Viel zu scheu und unsicher war er. Er schaute ihr noch lange hinterher, obwohl sie schon längst nicht mehr zu sehen war, bis der Zug davonfuhr.
Das sachte Rütteln des Zuges beruhigte ihn ein wenig, doch diese Begegnung würde er so schnell nicht mehr vergessen. Vielleicht würde er sie ein anderes Mal wieder sehen und dann würde er sich getrauen, das wusste er ganz tief in sich. Dann würde er keine Hemmungen mehr haben und sie so lange umwerben, bis sie gar nicht anders konnte, als sich mit ihm zu verabreden. Ja vielleicht würde er sie nochmals sehen. Vielleicht.