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Voll da
Ich bin noch voll da. Daran besteht kein Zweifel. Ich könnte mir mit dem Zeigefinger der linken Hand an die Nasenspitze fassen, könnte einbeinig einen Streifen entlang hopsen, könnte alle Bundesländer mit den dazugehörigen Hauptstädten aufzählen und das wäre beachtlich, denn das mit den Hauptstädten krieg ich sonst nie hin. Wie gesagt: Ich bin voll da.
Dirk nicht. Dirk sagt: „Glaub mir. Ich bin voll da.“
Aber er sagt es so, dass ich denken muss, er ist nicht voll da. Er sagt das – und es tut mir weh, es zu sehen – er sagt es wie ein Irrer. Er sagt: „Du hältst mich jetzt für verrückt.“
Ich greife mir mit der Hand an den Mund, so als müsste ich nachdenken, wobei mein Urteil natürlich schon lange feststeht, aber ich greife mir mit der Hand an den Mund und mache „Tjoar“, ein Geräusch, das soviel sagen soll wie: „Wenn du das sagst“, aber ich sag nicht „Wenn du das sagst“, ich nehme meine Hand an den Mund, mache „Tjoar“, schaue ihn an und nicke.
„Du denkst, dass Verrückte immer sagen, dass sie nicht verrückt sind.“
„Nein“, sage ich. „Daran dachte ich nicht. Ich dachte an … eigentlich hab ich gerade an gar nichts gedacht.“
Dirk sagt: „Ich bin voll da.“
Ich sage: „Dirk, du bist voll da.“
Dirk sagt: „Du sagst nur, dass ich voll da bin, weil du denkst, dass ich hören will, dass ich voll da bin.“
Ich sage nichts.
Dirk sagt: „Jemand, der nicht voll da ist, würde kaum feststellen, dass der andere vermutlich vermutet, dass dass dass…“
Ich sage: „Ja, du hast Recht.“ Weil Dirk auf den Boden starrt, auf seine Füße, auf seine Zehen, weil seine Augen wie bei einem Tennismatch von links nach rechts geschleudert werden, sich nicht entscheiden können, zu welcher Seite sie gehören. Ich sage: „Empathie?“
„Aphasie“, sagt Dirk. „Ha! Damit hast du nicht gerechnet!“
Ich sage: „Okay, du bist voll da, worum geht’s?“
„Ich hab's rausgefunden“, sagt Dirk und das war es fürs Erste. Er steht hastig auf, reibt sich seine schweißnassen Hände an der Jeans ab, so als wären sie Schlangen und müssten dringend gehäutet werden.
„Was?“, frage ich.
„Unsere Generation. Das Problem unserer Generation!“, sagt Dirk, während er seine Schlangen knetet.
„Tjoar“, mache ich. „Da lehn ich mich doch mal gespannt zurück.“ Und dann tue ich das, ich lehne mich zurück, nicht sonderlich gespannt, aber voll da.
„Wiederholungen amerikanischer Sit-Coms!“, sagt Dirk. Also eigentlich hat er es nicht so gesagt. Er ist viermal vor mir hin und her getigert, hat die Spannung bis ins noch gerade so Ermessliche hinausgezögert, dabei wild gestikuliert und mich schließlich über die Schulter mit diesem irren „Ich bin nicht irre“-Blick angestarrt und gemurmelt: „Wiederholungen amerikanischer Sit-Coms!“ und jede Silbe hat er betont wie einen Paukenschlag.
Ich sage: „Tjoar, das hab ich auch schon vermutet.“
„Hast du nicht!“, schreit Dirk.
Und ich sage: „Nein, hab ich nicht.“
Dirk sagt: „Es ist doch klar, das macht uns total fertig. Weil die schneller altern als wir. Du guckst die Serie und die scharfe Tochter ist noch gar keine scharfe Tochter, sondern vielleicht zehn und du bist vierzehn. Und drei Monate später ist die Tochter sechzehn und rattenscharf, aber du bist immer noch vierzehn. Und du willst sie unbedingt ficken, aber du weißt ja, dass sie eigentlich erst zehn ist.“
„Dirk“, sage ich. „Ich habe mich geirrt. Du bist voll da.“
Und Dirk sagt: „Danke. Das wollte ich nur wissen.“
„Kann ich gehen?“, frage ich.
Dirk nickt.
Auf dem Weg nach draußen, muss ich meine Füße über Pillenschachteln heben und über kleine Röhrchen, die auf dem versifften Teppichboden liegen, der mal weiß war und jetzt braun ist, und als ich die Tür öffne, die Klinke ist schmierig und fühlt sich an wie abgeworfene Haut, schaue ich über meine Schulter und sage: „Eigentlich hab ich mich nicht geirrt, ich wusste ja, dass du voll da bist.“
Aber Dirk sitzt schon auf seinem Sofa und irgendwie ist er jetzt woanders.