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Voller Schreibtisch

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22.01.2005
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Voller Schreibtisch

Ich erinnere mich.
Der Schreibtisch war leer.
Rechts der Posteingang. Nichts.
Links der Postausgang. Nichts.
Aber in der Mitte die gummierte Schreibunterlage.
Säuberlich aufgereihte Bleistifte und Kulis. Ein Spitzer. Ein unbenutztes Lineal.
Jetzt konnte das Arbeiten am Schreibtisch beginnen, dachte ich mir.
„Wolfgang, kommst du bitte zum Essen!“, rief meine Mutter, und ich kletterte geschwind den zu hohen Stuhl hinab.
„Und ruf Papa, er hat sicher nichts gehört wegen der Musik“, fügte sie an, hinter der Küchentür hantierend.

Ich trabte zum Arbeitszimmer meines Vaters. Bachsche Orgelmusik empfing mich tosend. Wie immer sonntags.
Der Schreibtisch war übervoll.
Rechts der Posteingang. Werbeprospekte, aufgerissene Briefe, Fotokopien, Notizen, wissenschaftliche Hefte.
Links der Postausgang: säuberlich frankierte, dicke Briefumschläge, weiß und braun, groß und klein.
Zwischen den beiden Türmen in sein wichtiges Studium vertieft, die Brille fast auf der Nasenspitze thronend, den Rücken über das Papierchaos gebeugt, aber dennoch über alles erhaben... mein Vater. Den Taschenrechner im Anschlag, wilde Zahlen malend, Rechnungsblätter kreuz und quer.
„Essen!“, rief ich gegen den Lärm an.
„Einen Moment noch, ich rechne noch gerade mein neues Abschreibungsmodell durch“, rief Papa zurück.
Am Mittagessentisch angekommen, schüttelte Mama wieder den Kopf: „Es wird doch kalt.“

Jetzt ist mir wirklich kalt. Muss die Heizung hochdrehen. Besser sofort machen. Ich krieche unter der Tischplatte zum Heizkörper, drehe den Thermokopf auf. Die Wärme steigt durch das gusseiserne Ding hoch.
Ich setze mich wieder hin.
Mein Schreibtisch ist leer.
Rechts der Posteingang. Nichts.
Links der Postausgang. Nichts.
In der Mitte die gummierte Schreibunterlage.
Säuberlich aufgereihte Bleistifte und Kulis. Ein Spitzer. Ein unbenutztes Lineal.
Jetzt könnte das Arbeiten am Schreibtisch beginnen, denke ich mir.
Ich schlage wieder mein Kundenheftchen auf, blättere die Seiten von vorne nach hinten, von hinten nach vorne. Alle schon angerufen. Keiner ruft zurück. Das tut weh.
Es wäre übertrieben zu sagen, dass meine Ich-AG schlecht läuft. Sie läuft gar nicht. Sie geht nicht einmal, sie ist irgendwann stehen geblieben, sie ist außer Puste, am Ende.
„Wolfgang, machst du was zum Essen?“, ruft Agnes, die in der Mittagspause von ihrer Firma nach Hause gekommen ist.
Glücklicherweise besteht das Leben nicht nur aus leeren Schreibtischen.

 

Hallo, Urach

Bis zu dem Zeitpunkt, als das Wort Ich-AG fiel, fand ich deine Geschichte noch interessant und hab mich gefragt, wie es weitergeht. Aber dann war ich etwas verwirrt, ich weiß auch nicht, vielleicht ist es für die Geschichte von Interesse, das Wörtchen Ich-AG zu benutzen, aber mich hat das irgendwie verwirrt, kann ich schlecht erklären. Naja, und ich finde, beim Schluss hättest du dir vielleicht etwas mehr Mühe geben können, den finde ich nicht unbedingt passend als Schluss für die Geschichte.
Als du das zweite Mal in der Geschichte an deinem Schreibtisch sitzt, hättest du vielleicht andere Worte als genau dieselben nehmen können, bei solch einer kurzen Geschichte finde ich Wiederholungen nicht immer angebracht.
Ansonsten, ich fand die Geschichte etwas kurz, aber aus dem Alltag gegriffen, demnach passt sie gut in diese Rubrik.

Weiter so!
mfg. Zangan

 

Hallo Zangan,

OK das kann man so sehen.

Ich wollte aber bewusst eine Wiederholung einbringen. Der Traum des Jungen der Realität des Erwachsenen gegenübergestellt.

Gruss
W Urach

 

Hallo Urach,

nach dem zweiten Mal lesen gefällt mir deine Geschichte gut.
Agnes wird symphatisch, ohne dass man auch nur irgendetwas von ihr weiß.
Ich habe aber nicht interpretiert, dass die erste Szene ein Traum des Jungen war, sondern den Papa nachgespielt. Nur haben Kinder normalerweise in solchen Situationen die Phantasie, so zu tun als ob...oder sie nehmen Ersatzdinge und machen sie zu den Originalen.

Das wäre ja auch noch eine Idee gewesen: Sogar als Kind hätte man mehr zu tun ;)

Jedenfalls hat mich deine KG angesprochen und die Ich-AG hat mich nicht gestört.
Der Schluß finde ich im Gegensatz zu zangan prima.
Die Gegenüberstellung von Arbeit-Familie auf den Punkt gebracht. Das gibt noch richtig Wärme.

Lieber Gruß
bernadette

 

Dank Dir Bernadette für die nette Kritik.
Ich freue mich natürlich, wenn meine Erzählintention so rübergekommen ist.

LG
W Urach

 

Hallo Urach,

hm. Irgendetwas stört mich an deiner Geschichte, mal schauen ob ich es in Worte fassen kann. Fang ich anders an: die Gegenüberstellung hat mir gefallen, auch die Wiederholung der Textpassage. Für mich hat der Junge beim ersten Mal einfach Hausaufgaben machen wollen. Was ich zu kritisieren habe: der Kontrast ist mir zu klischeehaft. Vor sagen wir 20-30 Jahren hatten die Väter noch viel zu tun, alles war im Lot, und heute muss man eine Ich-AG gründen, um einen Job ohne Arbeit zu haben (man beachte, dass die beide Frauen deiner Geschichte beide hinterm Herd stehen ;) ). Ist es Gesellschaftskritik, die du da übst? Einfach nur das Einfangen eines kleinen Stück Alltags? Die Wahl des Namens deutet an, dass die Geschichte tatsächlich aus dem Leben gegriffen sein könnte. Hat mich leider dennoch nicht wirklich überzeugt. Gut geschrieben ist deine Geschichte allemal, und in der Kürze sehr eindrücklich. Sorry, aber konstruktiver kann ich mein Gefühl gerade offenbar nicht in Worte fassen.

Kleinigkeiten:

„Und ruf Papa, er hat sicher nichts gehört wegen der Musik“, fügte sie an hinter der Küchentür hantierend.
Hm. Entweder Komma nach "an" oder das "an" ans Satzende.
die Nase fast auf der Nasenspitze thronte gebeugt, aber dennoch über alles erhaben mein Vater
"Nase" oder nicht doch eher "Brille"? ;)
Muss die Heizung hochdrehen. Besser sofort machen.
Die unvollständigen Sätze finde ich unpassend. Da dies die einzige Stelle ist, an der du sie als Stilmittel benutzt, würd ich das weglassen bzw. Subjekt und Prädikat ergänzen.

Liebe Grüße
Juschi

 

Hallo Juschi,

vielen Dank für Deine interessante Kritik.

Ich habe zwei, drei Punkte ausgehend von Deinen Kritikpunkten in der kg geändert.

Die unvollständigen Sätze habe ich als Stilmittel bewusst gewählt: Sie holen den Leser von dem Bericht der Kindheitserinnerung wieder auf den Boden der Realität zurück.

Zusammenfassend:

Ja, es geht um Gesellschaftskritik. Vor 30 Jahren Abschreibungsmodelle, heute Ich-AG.
Ja, es geht um einen unerfüllten Kindertraum von der grossen Erwachsenenwelt.
Nein, es geht mir primär nicht um die Rolle der Frau.

LG
W Urach

 

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