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Voller Schreibtisch
Ich erinnere mich.
Der Schreibtisch war leer.
Rechts der Posteingang. Nichts.
Links der Postausgang. Nichts.
Aber in der Mitte die gummierte Schreibunterlage.
Säuberlich aufgereihte Bleistifte und Kulis. Ein Spitzer. Ein unbenutztes Lineal.
Jetzt konnte das Arbeiten am Schreibtisch beginnen, dachte ich mir.
„Wolfgang, kommst du bitte zum Essen!“, rief meine Mutter, und ich kletterte geschwind den zu hohen Stuhl hinab.
„Und ruf Papa, er hat sicher nichts gehört wegen der Musik“, fügte sie an, hinter der Küchentür hantierend.
Ich trabte zum Arbeitszimmer meines Vaters. Bachsche Orgelmusik empfing mich tosend. Wie immer sonntags.
Der Schreibtisch war übervoll.
Rechts der Posteingang. Werbeprospekte, aufgerissene Briefe, Fotokopien, Notizen, wissenschaftliche Hefte.
Links der Postausgang: säuberlich frankierte, dicke Briefumschläge, weiß und braun, groß und klein.
Zwischen den beiden Türmen in sein wichtiges Studium vertieft, die Brille fast auf der Nasenspitze thronend, den Rücken über das Papierchaos gebeugt, aber dennoch über alles erhaben... mein Vater. Den Taschenrechner im Anschlag, wilde Zahlen malend, Rechnungsblätter kreuz und quer.
„Essen!“, rief ich gegen den Lärm an.
„Einen Moment noch, ich rechne noch gerade mein neues Abschreibungsmodell durch“, rief Papa zurück.
Am Mittagessentisch angekommen, schüttelte Mama wieder den Kopf: „Es wird doch kalt.“
Jetzt ist mir wirklich kalt. Muss die Heizung hochdrehen. Besser sofort machen. Ich krieche unter der Tischplatte zum Heizkörper, drehe den Thermokopf auf. Die Wärme steigt durch das gusseiserne Ding hoch.
Ich setze mich wieder hin.
Mein Schreibtisch ist leer.
Rechts der Posteingang. Nichts.
Links der Postausgang. Nichts.
In der Mitte die gummierte Schreibunterlage.
Säuberlich aufgereihte Bleistifte und Kulis. Ein Spitzer. Ein unbenutztes Lineal.
Jetzt könnte das Arbeiten am Schreibtisch beginnen, denke ich mir.
Ich schlage wieder mein Kundenheftchen auf, blättere die Seiten von vorne nach hinten, von hinten nach vorne. Alle schon angerufen. Keiner ruft zurück. Das tut weh.
Es wäre übertrieben zu sagen, dass meine Ich-AG schlecht läuft. Sie läuft gar nicht. Sie geht nicht einmal, sie ist irgendwann stehen geblieben, sie ist außer Puste, am Ende.
„Wolfgang, machst du was zum Essen?“, ruft Agnes, die in der Mittagspause von ihrer Firma nach Hause gekommen ist.
Glücklicherweise besteht das Leben nicht nur aus leeren Schreibtischen.