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Vollkommen biologisch
„So“, sagte Willhelm, der deutsche Wissenschaftler, und beugte sich über das Mikroskop, um einen Blick durch die Vergrößerungsgläser zu werfen. Sein weißer Kittel bauschte sich bei jeder Bewegung, die er machte. „Ah, gut.“
Multiplizieren, dachte er und stellte die Schärfe des Bildes ein, das er betrachtete. Multiplizieren.
„Wie ist es geworden?“, fragte eine Stimme hinter ihm. Er erschrak und wirbelte herum. Als er in Ed Kids Gesicht sah, tat er so, als wäre nichts gewesen, er hasste es erschreckt zu werden, wenn sich jemand von hinten anschlich. „Alles in Ordnung?“ Ed lächelte.
„Äh, ja“, sagte Willhelm und rieb sich die Augen. „Wir können in die Produktion gehen.“
Das Laboratorium wurde am nächsten Tag geräumt. Wissenschaftler, unter ihnen auch Willhelm und Ed, Sicherheitsleute und Männer in Anzügen, unter ihnen auch Mr Pinkett, wuselten durch den gesamten Gebäudekomplex. Die Arbeit an den DNA-Strängen und Zellkernmodifikationen war getan. Willhelm war hier fertig, aber eine Art Gewissensbiss nagte an ihm, als hätte er etwas Falsches getan, wobei er sich nicht bewusst war, was. Er setzte sich auf einen leeren Schreibtischstuhl und legte die Stirn auf die Hand. Neben ihm stand Kids und beobachtete die Leute, die die Mikroskope und anderen Laborutensilien einpackten.
„Verdammt“, sagte Ed. „Sieben Monate Arbeit und jetzt ist alles vorbei. Sieben Monate für diesen Scheiß. Und jetzt?“
„Jetzt sind andere dafür zuständig. Schon vergessen? Jeder Mitarbeiter darf höchstens einen Schritt der Entwicklung mitbekommen.“ Willhelm lächelte. „Aber ich glaube wir waren so gut wie der letzte Schritt.“
„Wirklich? Das soll heißen, alles hing an uns?“
„Soll eher heißen, dass alles an uns hängen blieb, Eddie. Außerdem meine ich gehört zu haben, dass andere Abteilungen für das gleiche Projekt an Nanotechnologie gearbeitet haben. Ich dachte, alles wäre biologischer Natur?“
„Sagten sie zu mir auch“, antwortete Ed und sah ihn Stirn runzelnd an. „Nano, Bakterien, Multiplikation … Was hat das alles miteinander zu tun?“
„Nichts, was uns angeht, sonst hätten sie es uns gesagt. Pinkett schnüffelt schon den ganzen verdammten Morgen hier rum. Einmal in sieben Monaten kommt er vorbei und ich dachte, er würde nur bei Notfällen auftauchen.“
„Sie verlegen die Arbeitsstation ins Southend. Dort wird weitergearbeitet. Die Zentrale, wie sie genannt wird.“
Willhelm Meier und Ed Kids kamen zusammen auf den Parkplatz. Ed hielt eine qualmende Zigarette in der Hand und zog immer wieder genüsslich daran. Die weißen Kittel hatten sie abgelegt und sich in ihre Zivilkleidung umgezogen. Beide trugen schwarze Anzüge und einen Aktenkoffer in einer Hand. Willhelm suchte vergeblich in seiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel.
„Scheiße“, fluchte er und blieb stehen. Wind zerbauschte ihm seine zu einem Scheitel gekämmten Haare. „Ich muss meine Schlüssel im Labor liegen gelassen haben.“
„Scheiße“, wiederholte Ed Willhelm mitfühlend. „Wir sehen uns dann bestimmt mal irgendwo.“
„Ja, bis dann.“
Ed Kids stieg in seinen Wagen und fuhr kurz darauf davon.
So eine Scheiße!, fluchte er in Gedanken weiter. Wie kann man nur so blöd sein und seinen Scheißautoschlüssel vergessen?
Ed Kids saß singend in seinem Auto. Im Radio lief ein alter Country-Song und Ed konnte nicht anders, er musste einfach mitsingen. Er hatte so gute Laune. Das Projekt war beendet, jetzt hatte er erst einmal vier bis sechs Monate wissenschaftlich belegte Ruhe. Er lächelte, als er an diesen Satz dachte und trat noch ein wenig mehr aufs Gas.
Schlüssel vergessen, so eine Scheiße aber auch, dachte er und trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Bäume zischten an beiden Seiten an ihm vorbei und waren bald nicht mehr zu sehen. Ed fummelte eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie sich an. Qualm breitete sich im Innenraum des Mercedes’ aus. Jon Prine begann zu singen. Seine Stimme dröhnte aus den Lautsprechern.
Um zwölf Uhr wich die Musik den Nachrichten.
„Heute morgen um zehn Uhr dreißig wurden-“ Ed betätigte den kleinen Knopf mit der Aufschrift OFF. Er legte den Kopf zurück und sah auf die Straße. „Urlaub“, flüsterte er.
Kids parkte vor seinem Haus an der Straße.
Was soll denn die Scheiße?, fragte er sich und beobachtete die schwarz gekleideten Leute, die um sein Haus herumwuselten. Hunde schnüffelten über den Rasen, Waffen glänzten silbern in der Sonne, schwarze Helme schützten die Köpfe der mysteriösen Typen, die sein Hab und Gut durchsuchten. Die Tür stand offen und immer wieder traten sie ein und aus, gingen mit leeren Händen hinein und kamen mit seinen Sachen wieder heraus. Was zum Teufel …?
Seine Nachbarn standen draußen und beobachteten das Szenario. Was die wohl denken?
Er ließ den Motor an, öffnete die Fahrertür und stand auf. Er blickte hinüber und sah einen Mann, der seinen Helm nicht trug, mit einer antiken, teuren Vase aus dem Haus kommen.
„Hey!“, rief er zu ihnen rüber. „Hey! Was macht ihr da? Wer hat euch erlaubt bei mir rumzuschnüffeln?“
„Da ist er, schnappt ihn euch!“, schrie irgendjemand der ungefähr zwanzig Uniformierten. „Erschießt ihn!“
Ed hätte niemals so eine Begrüßung erwartet. „Nicht schießen, nein!“, schrie er zurück und sprang wieder in sein Auto. Ohne die Tür zu schließen, gab er Gas. Die Hinterreifen drehten durch und quietschten laut. Dampf, der nach verbranntem Gummi roch, schwebte hoch. Die Türe knallte zu und Ed duckte sich instinktiv.
Er fuhr mit achtzig Sachen die für dreißig Kilometer pro Stunde geeignete Straße entlang. Hinter ihm konnte er Geknatter hören. Schüsse, die ihm schreckliche Angst einjagten und ihn in Panik versetzten. Er kam zu einer Kreuzung, bog nach links ab und landete auf der Schnellstraße. Ed legte den nächsten Gang ein.
Verdammte Scheiße, verdammte Scheiße, verdammte Scheiße!, fluchte er immer wieder in Gedanken. Seine Panik schien sich zu überschlagen, er trat das Pedal tiefer und spürte, wie er in den Sitz gedrückt wurde. Nächster Gang. 160 zeigte sein Tacho an. Die Uniformierten waren ihm immer noch dicht auf den Fersen. Sein Motor war entriegelt, was für ein Glück für ihn, so konnte er es höchstens auf 260 bringen, aber nicht mehr. Sind das Armeefahrzeuge?, fragte er sich. Wenn ja, bin ich dran!
Der schwarze Wagen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, sah aus wie ein Nissan, war aber viel besser bestückt. Waffen waren angeschraubt worden, Maschinengewehre wurden von vermummten Personen abgefeuert. Die Salven landeten auf der Straße, verschwanden im Nichts oder trafen die am Straßenrand stehenden Häuser. Die Bewohner standen reglos vor ihren Haustüren und beobachteten stumm.
Ed warf immer wieder einen Blick nach hinten, sah die Waffen und drehte sich schlagartig wieder um. Wohin, Ed? Wohin?, fragte er sich panisch. Wald? Nein, zu eng. Einfach nur fahren. Dein Tank, achte auf deinen Tank.
Im nächsten Gang beschleunigte der Wagen auf 210 km/h. Schweißtropfen standen Kids auf der Stirn. Er hoffte, sie würden ihm nicht in die Augen fließen, denn er traute sich nicht, die Hände vom Lenkrad zu nehmen. Es wäre einfach zu riskant. Ein Unfall könnte sein Leben schneller beenden als ein Schuss aus diesen Waffen hinter ihm.
Stille. Schon seit etwa fünf Minuten. Kids hatte es nicht mehr gewagt zurückzublicken.
Langsam drehte er den Kopf und sah die leere Straße hinter sich. Nichts schwarzes oder gefährliches. Alles war ruhig und leer. Die Bäume an beiden Seiten huschten davon und wurden durch neue ersetzt.
„Anne“, murmelte er und trommelte wieder mit den Fingern auf das Lenkrad. Anne war seine Frau, die er vor nun mehr fünf Jahren geheiratet hatte. „Was haben sie mit dir gemacht?“
Als wäre dies ein Stichwort gewesen, klingelte sein Handy. Es vibrierte in seiner Hosentasche.
Schatz stand in fetten Buchstaben auf dem Display. „Da kann wohl jemand Gedanken lesen.“
Er drückte auf den grünen Knopf und bevor er jemanden begrüßen konnte, schrie ihn die Stimme seiner Frau lauthals wütend an: „Komm sofort nach Hause! Wo zum Teufel steckst du?“
„Ich…äh…Ich wurde verfolgt, Schatz, beruhige dich, was ist denn los?“
„Was…Was los ist? Ich sag’s dir: Bullen durchsuchen unser Haus nach Drogen, sie haben in deinem Blut Drogenrückstände bei der Analyse gefunden, erklär mir das!“
„Was?“
„Ja, Schatz, Drogen. D-R-O-G-E-N.“ Er fand es albern, dass sie das Wort buchstabierte, aber das tat sie oft, wenn sie in Ekstase und Wut gleichzeitig geriet.
„Ich nehme keine Drogen“, versicherte er ihr.
„Sicher?“, fragte sie misstrauisch.
„Ja, verdammt! Diese Arschlöcher haben auf mich geschossen, das interessiert dich nicht!“
„Was haben die?“
„G-E-S-C-H-O-S-S-E-N.“
Sein Sarkasmus erhöhte ihre Wut auf einen riskanten Punkt. „Bist du verrückt in so einer Situation witzig sein zu wollen? Bist du in Sicherheit?“
„Ja. Wo bist du?“
„In Schutzhaft, wie die sagen. Keine Ahnung, ob das die Wahrheit ist. Die haben mich einfach mitgenommen.“
„Dann bleib dort, es ist besser für dich. Ich fahre zu einem Freund. Hoffentlich kann er mich bei sich aufnehmen, nur für heute Nacht. Es ist zu gefährlich für mich zu dir zu kommen und anscheinend geht es dir gut.“
„Ja, tut es. Zu welchem Freund fährst du denn?“
„Willhelm Meier.“
„Der Deutsche?“
„Ja.“
„Ich liebe dich. Pass auf dich auf.“
„Ich dich auch. Pass du auf dich auf.“
Er legte auf und warf das Handy auf den Beifahrersitz.
Willhelm Meier ging den Gang entlang in Richtung Labor. Alles war bereits in Kisten verpackt, er konnte nur hoffen, irgendwo seinen Schlüsselbund zu finden. Seine Aktentasche wurde immer schwerer und er bezweifelte, lange ruhig bleiben zu können, wenn er nicht bald hatte, was er wollte.
Mr Pinkett stand plötzlich hinter ihm. „Kommen Sie bitte mit, wenn Sie vielleicht etwas Zeit haben?“
„Ich dachte, das Projekt wäre beendet?“, fragte Willhelm, leicht desorientiert.
„Ist es auch, trotzdem würde ich noch gerne kurz mit Ihnen sprechen.“
„Haben Sie zufällig einen Schlüssel hier rum liegen gesehen?“
Pinkett griff in die rechte Tasche seines Jacketts und zauberte klimpernd Willhelms Schlüssel hervor. „Zufrieden?“
„Jepp!“
Bitte lass mich so schnell wie möglich gehen, dachte Willhelm und sah Pinkett eindringlich an, als würde er hoffen, dieser könnte Gedanken lesen. Komm schon, raus mit der Sprache.
„Beim Ausräumen der Labors fiel mir dieses seltsame Kellergewölbe dieses Gebäudes auf und ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht eine Ahnung hätten, wofür diese gedacht waren?“
„Ohne sie zu sehen, kann ich Ihnen keine Antworten geben.“
„Hätten Sie vielleicht ein wenig Zeit?“
„Sicherlich, schließlich hatten Sie meine Schlüssel.“ Willhelm lächelte und ging mit Pinkett in den Keller.
Will, Will, Will, dachte Ed, während seine Augen konzentriert auf die Straße vor ihm starrten. Lass mich bitte heute Nacht bei dir bleiben.
Noch nie hatte er so sehr gehofft jemanden am Zielort anzutreffen. Noch nie in seinem Leben. Genauso wenig, wie noch nie in seinem Leben auf ihn geschossen worden war. Das ging nicht, konnte nicht wahr sein. Die konnten nicht einfach einen Unschuldigen beschießen, weil sie vermuten, dieser wäre drogenabhängig.
Hat es was mit meiner Arbeit zu tun?, fragte er sich. Er schüttelte den Kopf. Nein, ich weiß zu wenig. Vielleicht wollten sie die Ideen haben, die Pläne, die Aufzeichnungen? Nein, wenn sie so gut ausgerüstet sind, wie ich vermute und gesehen habe, hätten sie bestimmt auch die Möglichkeit gehabt, Nachforschungen anzustellen und hätten dabei herausgefunden, dass ich keine Aufzeichnungen habe. So eine Scheiße! Ich muss zu Anne …
Er kam zur Arlene Road und bog rechts ab. Nummer zwölf war Willhelms Apartment. Ed hielt an und schielt den Motor ab.
Kids klopfte und nach einer Viertelminute öffnete Meier die Tür. Willhelms Haare standen wie die Stachel eines Igels ab und in seinen Augen konnte Ed noch den Schlaf und die Erschöpfung sehen. Die Ruhezeit war vorbei. Zumindest vorerst.
„Ja?“, fragte der deutsche Wissenschaftler verschlafen.
Erst jetzt fiel Ed die wunderschöne Rasenfläche auf, die sich vor der Front des Hauses befand. Beeindruckend. Grün wie die Hoffnung. „Ich…“
Nein, sagte er sich. So fängt man kein Gespräch an, wenn man was will, nie mit ICH.
„Du hast nicht zufällig Platz für einen Gast?“, fragte Ed dann schließlich.
„Für einen Gast?“, erwiderte Willhelm und sah ihn neugierig und verwundert an.
„Darf ich vielleicht reinkommen und dir alles erzählen? Nein, besser noch: Hast du eine Garage, in die ich meinen Wagen parken kann? Verstecken trifft's besser, die sind verrückt, die haben…“ Ed musste immer so viel reden, wenn er Angst hatte, ein Makel. „Hast du Platz in deiner Garage?“
Verschlafen sah Willhelm ihm in die Augen. „Ja.“ Er griff neben die Tür und holte einen einzelnen Schlüssel hervor. „Da drüben.“ Er nickte nach rechts.
„Die haben gnadenlos auf mich geschossen!“, erzählte Ed zu Ende. Der andere Wissenschaftler nahm einen Schluck Kaffee und nickte, als würde er alles verstehen. „Was ist?“, fragte Kids und sah ihn verwundert und verwirrt an.
Ohne zu antworten flog die Kaffeetasse durch das Wohnzimmer, nachdem diese an Eds Kopf abgeprallt war. Eine Platzwunde zierte seine linke Braue und Blut sickerte aus ihr heraus. „Was machst du, du Arschloch?“, schrie er und sprang panisch auf. „Bist du verr-“
Er konnte nicht fertig sprechen. Willhelm sprang ihn an wie eine aggressive Katze.
Der amerikanische gegen den deutschen Wissenschaftler. Ein Kampf, der nur ungut enden konnte. Willhelm nahm ein Schweizer Taschenmesser aus seiner Hosentasche und klappte die längste Klinge heraus.
„Du stehst im Weg“, lispelte Willhelm und sprang wieder auf Ed zu. Er schnappte sich seine linke Hand und schnitt ihm tief in den Zeigefinger. Blut beschmierte Willhelms Schlafanzug, den er trug. Das Messer wurde erhoben und fuhr herunter. Ein Finger landete auf dem Teppichboden. Würde Ed jemandem den Mittelfinger zeigen wollen, müsste er ab jetzt wohl den rechten benutzen.
„Weg, du musst weg!“, schrie Meier schrill. „Weg!“
Mit der linken, unversehrten Hand ergriff Ed Willhelms messerführende Hand und schlug sie dreimal auf sein Knie. Das rote Allzweckmesser landete auf dem Boden, direkt neben seinem Finger. Blut strömte aus dem übrig gebliebenen Stumpf und eine Spur aus rotem Saft blieb unter ihnen zurück.
Mit einem gezielten Kick in die Magengegend stieß Ed Willhelm weg und konnte sich bücken um das Messer aufzuheben. Er ging einen Schritt zurück, umfasste den Griff fester und ging dann auf ihn zu. Fest entschlossen rammte Ed das Messer in Fleisch. Einmal. Warmes Blut bedeckte die Haut seiner Hand. Zweimal. Er spürte Fleisch an den Seiten der Klinge herausquellen. Dreimal. Willhelm gab einen letzten Schnaufer von sich und brach zusammen.
Immer noch atmend lag er am Boden und sah zu ihm auf.
„Du musst weg!“
Sind denn alle verrückt geworden?, fragte er sich. Scheiße, macht das weh!
Der Schmerz wurde mit jedem Herzschlag schlimmer. Die Wunde begann zu pochen. Er ging in die Küche.
Dort fand er ein Handtuch und wickelte es sich um die Hand. Neben der Haustür hingen verschiedene Schlüssel, aber zwei erkannte er: einen für die Garage und einen für Willhelms Wagen. Er nahm beide.
Auf der Straße konnte er keinen BMW sehen und in der Garage war auch keiner. Willhelms Auto war nicht da. Also musste er wohl doch seinen benutzen, der auffällig war und mit dem sie ihn besser orten und sehen konnten. Vielleicht hätte er ja Glück und er könnte bis zum Labor unentdeckt bleiben.
Geschafft. Niemand hatte ihm Beachtung geschenkt.
Wieso ist dieser Dreckskerl auf mich los gegangen?, fragte er sich und runzelte die Stirn. Blut klebte an seinem Hemd und seinen Händen. An der einen sein eigenes, an der anderen Willhelms. Wie konntest du jemanden umbringen? Er ist tot. Deinetwegen.
Du weißt nicht, ob er tot ist. Er hat noch geatmet, als du gegangen bist.
Als ich mich feige aus dem Staub gemacht habe.
Er hat dich angegriffen, nicht du ihn.
Das war wahr. Kein Zweifel. Willhelm wollte ihn umbringen und nicht umgekehrt.
Notwehr. Du hast in Notwehr gehandelt.
Ed betrat den Gebäudekomplex. Die Kartons waren verschwunden, wahrscheinlich schon in Trucks gepackt und nach Southend geschickt. Vereinzelt befanden sich noch Menschen im Gebäude, die sich unterhielten, Kaffee tranken und Zigaretten rauchten.
Oh, Zigaretten, was würde ich nicht für eine Kippe geben?
Er sah sich um. Keine Polizei. Keine Uniformierten. Das Handtuch war von seinem Blut durchtränkt, aber niemand schenkte ihm auch nur einen Hauch Beachtung.
„Ähm, Entschuldigung!“, sprach er einen Typen an, der sich hitzig mit einem anderen unterhielt. „Hallo?“
Mit offensichtlich genervtem Blick sah er ihn an. „Was gibt’s, Kumpel?“
„Wo kann ich Mr Pinkett finden?“
„Scheiße, Mann! Was ist denn mit deiner Hand?“
„Nichts Schlimmes. Es ist dringend, wo kann ich ihn finden?“
„Unten, im Keller.“
Als wäre nichts gewesen drehte sich der Kerl wieder um und unterhielt sich mit dem anderen, der ihm müde zuhörte.
Keller, Keller, scheiß Keller, dachte Ed Kids immer wieder. Wo ist denn der Scheiß Keller?
Er blieb stehen. Endlich hatte er die Treppe zum Keller gefunden. Am Boden lag eine Leiche.
Scheiße! Himmel! Was zum Teufel geht hier vor sich?
Die Waffe des Wachmanns lag direkt neben der Leiche, deren Kehle aufgerissen worden war.
Ed bückte sich und nahm die Knarre in die unverletzte Hand.
Die Beretta 92 lag angenehm in seiner Hand und plötzlich fühlte er sich sicher. Er konnte nicht sagen warum, eigentlich hatte er eine Art unangenehmes Gefühl erwartet, das aber nicht kam. Sie wog nicht wirklich viel, zwischen 800 und 900 Gramm, aber das Gewicht gefiel ihm.
Er ging langsam und vorsichtig die Treppe hinab, die ihn spiralförmig nach unten führte.
Schreie begrüßten ihn.
„Ed!“, schrie jemand. „Ed!“
Es war dunkel, aber er konnte gerade noch genug sehen. Er sah die Kerker, in denen Menschen eingesperrt waren. Unter ihnen befand sich auch Willhelm.
„Ach, du lebst noch?“, fragte er und sah dem Eingesperrten in die Augen. „Haben sie dich verbunden und gepflegt?“ Er wusste, dass es unmöglich gewesen war, Willhelm vor ihm hierher zu bringen, aber sein Verstand wollte es nicht akzeptieren. Sein Finger pochte und das erinnerte ihn daran, dass dieser Mann versucht hatte, ihn umzubringen.
Er zielte auf den deutschen Wissenschaftler. Sah in seine Augen. Erkannte die Angst in ihnen. Und drückte ab. Ein lauter Knall hallte durch das Gewölbe.
„Kein großer Verlust“, erklärte eine Stimme hinter ihm. „Wirklich nicht. Ich wette in seinem Haus liegt eine Leiche, hab ich Recht?“
Ed drehte sich um und sah Pinkett in die Augen. „Ja.“ Ed senkte den Kopf. Er konnte nicht verstehen, wieso er gerade seinen Freund erschossen hatte.
Er wollte dich umbringen.
„Ein neuer ist bereits in Produktion“, sagte Ben Pinkett. „Sie sind der erste, der es so weit gebracht hat.“
„Wie weit? Wohin? Wovon reden Sie überhaupt?“
„Wovon ich rede?“
„Ja, verdammt? Ich will wissen warum auf mich geschossen wurde! Und wie es aussieht stehen sie ziemlich kühl da und wissen jede Menge!“
„Stimmt!“ Ben Pinkett sah ihn lächelnd an. „Ich gebe ihnen zwei Tipps. Erstens: 1997. Dämmert was? Zweitens: Dolly. Mehr gibt’s nicht. Den Rest müssen Sie schon selbst zusammenfügen.“
„Dolly“, wiederholte Ed schockiert über die Erkenntnis. „Klone.“
Hinter ihm erhob jemand die Stimme. „Stimmt genau!“ Ein weiterer Schuss hallte durch das Gewölbe. Eine Kugel traf Ed im Rückenmark. Er fiel um und konnte noch Ben Pinkett in einer Zelle sitzen sehen, während der andere Ben Pinkett davor stand und sich mit Ed Kids Klon unterhielt.
„Ich spende nie wieder Blut, man kann viel zu leicht Zellen entnehmen“, sagte Pinkett und beide lachten. „Noch eine letzte nanotechnische Note und der Klon ist perfekt. Nichts ist vollkommen biologisch!“
Das Lachen verstummte und Ed starb.