Was ist neu

Vom Jungfernschleifchen zum Jungfernhäutchen

Veteran
Seniors
Beitritt
13.05.2001
Beiträge
1.163
Zuletzt bearbeitet:

Vom Jungfernschleifchen zum Jungfernhäutchen

Vom Jungfernschleifchen zum Jungfernhäutchen

Die Sonne briet Raggia in ihren Ausdünstungen. Zank, Ordnungen und Vorurteile stiegen auf. Übrig blieb ein Omelette aus einem Geburtstag, den die Einwohner des kleinen Dorfes feierten. Zahra war endlich 14 Jahre alt. Zu diesem Anlass gab es Fleischbällchen in einer Basilikum-Tomatensauce mit körnigem Reis und viel Gebäck. Zahras Mutter hatte nicht täglich die Ehre als freigebige Gastgeberin aufzutreten. Neben Bändern und Ohrringen schenkte man dem Geburtstagskind die Aufmerksamkeit von 15 jungen Männern, von denen sie genau einen aussuchen durfte. Den Restlichen musste man die roten Schleifen erst gar nicht abnehmen. Mitbringsel brauchten die Frauen von Raggia am laufenden Band.

Einen kollektiven Aufschrei des Entsetzens gab es, als der arme Glückliche mitten in der Nacht an der Tür seiner Schenker klopfte. Wie ein geflossener Pudel stand er da. Zahra hatte ihn herausgeschmissen, da sein rotes Schleifchen sich mühsam zusammengeflickt angefühlt hatte. Die Krähensitzung und die Schlangenfalle waren ihr nicht koscher vorgekommen. Was konnte ärgerlicher sein, als ein ausgepacktes Geschenk, das weiter verschenkt worden war, weil es nicht gefallen hatte? Zahra konnte das natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Doch wer war diejenige, die so schändlich mit dem armen Hin- und Hergeschobenen umgegangen war? Dazu gab es eine Razzia.

Schnell fand man Curiosite. Schneller führte man die Enthaltsamkeitsstrafe ein. Blitzschnell verhängte man die Sanktionen. Curiosite konnte das natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Milch und Wasser hatten sie alarmiert: Der Junge wäre ihr bereits als falsche Perle untergejubelt worden, Scham und Ratlosigkeit hätten sie zu dieser Verzweiflungstat getrieben. Zahra besänftigte dies nicht, doch war Curiosite schon gestraft. Am Waschtag beriet sie sich mit den Waschweibern, den Verruchtesten unter den Frauen Raggias. Ergebnis war, dass die Suche nach der Schuldigen im Namen der heiligen Entpackung fortgesetzt werden und die Bestrafung härter angesetzt werden müsse.

Ennui betrachtete ihren verdorrten Garten, als man ihr auf die Schliche kam. Weiber aller Schichten Raggias versammelten sich um sie und klagten sie an: „Der Geist des Verrats hat von dir Besitz genommen!“ Man warf ihr ein rotes Hauskleid zu, damit sie ihre Scham bedecken konnte, bevor man sie als warnendes Beispiel durch das Dorf zog. Um die Enthaltsamkeit zu garantieren, führte man einen Umwandlungszauber aus. Als Mann würde sie nicht mehr so viel Schaden anrichten können. Voller Hass brüllte Ennui, denn sie konnte das natürlich nicht auf sich sitzen lassen: „Er saß so schön verpackt auf der Stange, wieso hätte ich mir ihn da nicht greifen sollen? Was meint ihr, wie entsetzt ich war, als ich spürte, dass ich ihn nicht frisch entpackt hatte!“

Krisensitzung am Tag der Enthaarung. Zahra zog den Wachsstreifen von ihrer Schenkelinnenseite und gab zu bedenken: „Der Tag des Jünglings ist nun einmal ein Fest, das wir nur zu bestimmten Anlässen feiern. Mein 14. Geburtstag wäre der erste Tag gewesen, an dem mir ein Jüngling zugestanden hätte. Stattdessen bot man mir Secondhand-Ware an! Ja, was heißt Secondhand, wohl eher Xtehand!“ Lena, schönste und tugendhafteste aller Frauen Raggias, verzog ihr Gesicht schmerzerfüllt, während Nera ihren Rücken enthaarte und erwiderte: „Ja, Schande über ganz Raggia! Auf der Suche nach der Schuldigen fällt eine Raggianerin nach der anderen. Aber was bleibt uns übrig? Wir suchen weiter! Haben wir die Eine gefunden, so wird die Strafe hart sein!“

Instinct rechte ihren feuchten Garten, als eine Meute von aufgebrachten Frauen auf ihr Haus zumarschierte. Zahra, Lena und Nera wüteten wie ein pöbelnder Mob durch die Straßen, um Instinct zu bestrafen. Alle anderen Frauen Raggias saßen schon im Verließ, waren verzaubert oder gebrandmarkt worden. Instinct verlachte die drei Furien, die sie mit den Worten „Es ist raus!“ begrüßten. „Was? Dass ihr zwei, Nera und Lena, die einzigen seid, die das schönste Stangenhuhn noch nicht entpackt hatten?“, stichelte Instinct. Da schauten Nera und Lena ziemlich dumm aus dem Mieder, fassten Instinct und zerrten sie auf den Marktplatz. Das Huhn wurde herbeigeholt. Inzwischen hatte es sich zu einem bunten Hahn aufgeplustert und erklärte sich bereit an der Zeremonie der endgültigen Klärung der Schande von Raggia teilzunehmen.

„Frauen, Mädchen, Männer von Raggia, die schwarze Eva ist gefunden!“, verlas Zahra, während kleine Mädchenhände wild durcheinander klatschten. „Instinct hat die harmonische Ordnung unseres Dorfes ignoriert, missachtet und mit grünen Äpfeln beworfen! Kurz und schmerzlos führen wir ihr zu Schmerzen das Jungfernhäutchen ein!“ Verständnislose Blicke. Grinsend unterbrach der bunte Gockel Zahra: „Nun, da ich hier bin, um die Wahrheit zu sprechen...“ „Wieso unterbrichst du die Zeremonie? Willst du eingesperrt werden?“, drohte Lena. „Instinct steht auf meiner Liste. Ja, richtig. Gleich unter Nera, die unter der Nummer 2, nämlich Lena steht.“ Zahra blickte entsetzt in die Runde, während Instinct triumphierend bellte. Eine hohe, skeptische Stimme aus der Menge wagte es zu fragen: „Und was geschieht nun mit den dreien?“

Die Sonne briet Raggia in seinen Ausdünstungen. Schlägereien, Wettbewerbe und Vorurteile stiegen auf. Übrig blieb ein Omelette aus einem Geburtstag, den die gröhlenden Männer des kleinen Dorfes feierten. Zac erlebte seinen 14. Geburtstag. Zu diesem Anlass gab es Bier, Wein und Fleisch. Zacs Vater hatte nicht täglich die Gelegenheit, sich als trinkfester, spendabler Mann zu profilieren. Neben Bällen und Messern schenkte man Zac ein Kartenspiel mit 15 verschiedenen Pin-up-Girls. Die Männer Raggias waren für ihre vorausschauende und praktische Geschenkauswahl bekannt: Tauschgeschäfte waren ausdrücklich erwünscht. Schließlich hatte man im Leben nur wenige Möglichkeiten, sich frei zu entfalten.

 

Hallo Zaza,

bei dieser Geschichten wird dich hoffentlich keiner der Unverständlichkeit zeihen. Du solltest sie also um der Tradition willen vielleicht nicht vorlesen? ;)
Es gefällt mir ausgesprochen gut, wie du in schönen Worten und reportageartigem Rhythmus vom Privileg der Geschlechter erzählst. Die Menschen in Raggia haben von dem Skandal gelernt. Weder konnte man es sich leisten, alle Frauen einzukerkern, noch durfte die Schande ungesühnt bleiben, also wechselte das Privileg und um des Lernens willen auch die Bedeutung der Unberührtheit.
Und gleichzeitig erzählt dein Text etwas über unser Selbstverständnis in den Geschlechterrollen. Ich möchte es nicht auf die Floskel hinunterbrechen, dass Männer mit mehr Erfahrung Helden, Frauen Nymphomaninnen sind. Denn dazu legst du die Beobachtung zu sehr auf die Eigenempfindung. Die einen träumen von der einen Liebe, die niemand anderem gehört oder gehört hat, die anderen von der Auswahl, vom freien Wechsel. Und in beiden Fällen wird der geschlechtliche Gegenpart als Besitz begriffen.

Nicht zuletzt schaffst du mit dieser Geschichte einen Schöpfungsmythos über die Entwicklung der Geschlechterrollen.

Eine stilistische Anmerkung:

Ja, was heißt Secondhand, wohl eher Multihand!“
Es ist eher ein Gefühl, aber mE passen sich der Satz und der Begriff "Multihand" nicht in die Sprachmelodie und den Rhythmus ein.

Ach, und noch eine

Kurz und schmerzlos führen wir ihr zu Schmerzen das Jungfernhäutchen ein!“
Der Satz scheint mir auch nicht ganz rund zu sein, so als fehlte da ein Wort. Gemeint ist sicherlich, dass das Jungfernhäutchen eingeführt werden soll, damit sie Schmerzen hat. Das empfinde ich aber sprachlich als unklar.

Lieben Gruß, sim

 

Schön, dass Dir der Text gefällt, Sim.
Den ersten von Dir kritisierten Satz werde ich gleich umschreiben. Beim zweiten Satz sollte das an "Ihr zu Ehren" erinnern. Ist wohl aber nicht so klar, muss nur schauen, wie ich das umändere.

Naja, der Text ist eigentlich schon älter. Habe ihn eigentlich nur gepostet, weil ich gerade kaum schreibe. Aber beim Schreiben hatte ich viel Spaß. Schön, wenn der Text bei jemandem gut angekommen ist.

 

nun, der text ist sicher anspruchsvoll und auch ansprechend. ich möchte nur anmerken, dass der titel dem text einiges an dynamik wegnimmt. da wäre wohl ein etwas verschlüsselterer titel überlegenswert.

 

Ich finde den Text mutig und direkt. Denke er sagt aus, das die Ordnung keine ist. Sie herrscht nur in unseren Köpfen vor. Ist manipulierbar und fremdgesteuert. Aber vielleicht auch ein Irrsinn?

Mal neugeirig gefragt?

Wie ein geflossener Pudel
Absicht? in Ahnlehnung des sprichwörtlichen begossenen Pudels?

Am meisten gefallen haben mir die Wortgeschöpfe

Goldene Dame

 

Hallo Zaza!

Man warf ihr ein rotes Hauskleid zu, damit sie ihre Scham bedecken konnte,
das erscheint mir unlogisch. Sie musste wohl das Kleid anziehen, um so gebrandmarkt zu sein. Und dann ist auch das Wort Scham fehl am Platz. Sonst ist die Idee der 'verkehrten Welt' gut durchgehalten.
Schön geschrieben, auch wenn ich am Anfang Zeit brauchte, mich in den Schreibstil einzulesen.

Lieben Gruß

Jo

 

hello Zaza,
na endlich weiss ich, was es mit dem Jungfernhäutchen auf sich hat! Schöne, gut aufgebaute Gechichte. Allerdings erinnert mich die 'andere' Wiederholung des ersten Kapitels an Brantenbergs Roman 'Die Töchter Egalias' aus den 70ern, da wurde das erste Kapitel am Ende auch noch einmal aus der 'richtigen' Sichtweise erzählt.

Für meinen Geschmack hätte die Geschichte gut unter 'Gesellschaft' gepasst.

Viele Grüsse vom gox

 

Hallo Zaza,

ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen.

Es ist eine Art der Erklärung zur Geschlechterrolle und zeigt, wie sehr solche von der Gesellschaft vorgegeben werden und wie unlogisch sie manchmal sind.

Mehr kann ich jetzt eigentlich fast nicht sagen.

LG
Bella

 

Danke fürs Lesen und die Kommentare! Endlich denke ich mal dran, zu antworten.

Ja, Goldene Dame, ist durchaus Absicht.

Ehrlich gesagt, Jo, verstehe ich nicht, was daran unlogisch ist. Kannst Du das näher erläutern?

Brantenberg kenne ich nicht, gox. Worum geht es denn im Roman? Dein "allerdings" macht micht stutzig. Ist Dir das also negativ aufgefallen? Naja, wie gesagt, ich kenne den Roman nicht.

Danke auch Dir, Bella. Im Grunde genommen wird alles von der Gesellschaft vorgegeben. Schlecht gehts dem, der sich davon beeinflussen lässt. Nun ja, so einfach lässt sich das aber auch nicht auf den Punkt bringen. Es ist auf jeden Fall ein Thema, worüber es viel zu sagen gäbe.

Ach ja, Harkhov, der Titel ist auch nicht mein Liebster. Nur bislang fiel mir keine klangvollere Alternative ein.

 

Hallo Zaza,

scheinbar bin ich der einzige, der dieser Geschichte nicht ganz folgen kann. Ok, die Geschlechterfrage. Das hab ich verstanden. Die Schuldzuweisungen und das Chaos untereinander. Ich glaub auch das hab ich mitbekommen.
Vielleicht liegt es daran, dass wir in diesem Augenblick 23:15 haben (ich kopiere mir immer einige Geschichten) und das ich ein wenig Bier getrunken habe, und das mir daher die Müdigkeit schwer zu schaffen macht, aber so ganz versteh ich die Zusammenhänge nicht.
Vielleicht haben mir die anderen auch einfach etwas heraus und mein junges, aber alterndes Hirn, ist nicht mehr in der Lage, verworrene Texte zu entwirren, sofern es überhaupt etwas zu entwirren gibt und überhaupt und ...etc
Nun ja. Auf jeden Fall hat mir dein Sprachstil gefallen und man merkt, dass du beim Schreiben deinen Spaß hattest. Wahrscheinlich ging dir die Geschichte nämlich richtig leicht von der Hand. Das spürt man beim Lesen einfach...

Einen lieben, verwirrten, müden, aber doch enthusiastischen Gruß...
morti

 

Ja danke, Morti! Nun ja, vielleicht solltest Du den Text im nüchternen, wachen Zustand mal lesen? Naja, ich hab aber eigentlich nicht einmal verstanden, was Du nicht verstanden hast, von daher reden wir lieber nicht mehr vom Verstehen, bevor wir uns nicht richtig verstanden haben, oder?
Jaaaa, hat Spaß gemacht, den Text zu schreiben. Wenn das rüber kommt, na um so besser. Freut mich auf jeden Fall, dass wir uns in diesem Punkt verstanden haben verständlicherweise!

Grüße an Deinen Verstand,

Die fair-stehende, fair-standene Schreiberin!

 

Das soll eine Geschichte über die Entstehung von Jungfernhäutchen sein? Wohl nur ein matriarchalisches Wunschdenken, allerdings ein erheiterndes - da nimmt man es mit der Historie (Secondhand-Ware, Pin-up-Girls) nicht so genau.

Wenn ich nicht vor ein paar Tagen selber über das Thema geschrieben hätte - ist fast eine Fortsetzung deiner Geschichte geworden, Zaza, wenn auch ungewollt und wenig erheiternd -, wäre ich nicht auf sie gestoßen und natürlich auch nicht gelesen – ich habe es gern getan.

Dion

 

Hallo Zaza,

feines seltsames Teilchen hast Du da geschrieben, eine moralische Parabel die mir Spaß gemacht hat zu lesen. Vielleicht bis auf diesen Satz :

Stattdessen bot man mir Secondhand-Ware an! Ja, was heißt Secondhand, wohl eher Xtehand!
Auch in wörtlicher Rede und auch mit der Überarbeitung zur "Xtehand" passt der Satz nicht wirklich in das Gesamtbild, er wirkt mir zu (nach)lässig.

Doch in generalis eine interessante Leseerfahrung die mir gut gefallen hat.

Grüße,

Curiosity Seltsem

 

Öhm Dion, hast Du? Wo denn? Das täte mich doch glatt interessieren.

Ja, Seltsem, der Satz ist nachlässig. Naja, einfallslos eben.

Danke!

 
Zuletzt bearbeitet:

Zaza schrieb:
Öhm Dion, hast Du? Wo denn? Das täte mich doch glatt interessieren.
Hier kannst du sehen, was dieses Umschwenken zu Jungfernhäutchen für Folgen hatte und hat. Und nicht nur hier, auf der ganzen Welt. :D

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom