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Vom Trügerischen

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06.12.2004
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Vom Trügerischen

Beil weg, Matthias, dein Boot ist vollendet! Siehst du denn nicht, wie die See sich aufbäumt, in freudiger Erwartung? Bereit sind deine Ruder – setze sie ein, solange noch etwas Kraft in deinen Armen verbleibt! Und schere deinen Bart, deinen wallenden – denn er soll dir Hilfe sein, die Zeit wahrzunehmen, anhand der Länge. Tage nämlich werden verschwimmen und verschwinden für dich, auf der See. Hinweg damit, habe ich gesagt! Du wirst auf der See kein Weib antreffen, das du mit deinem eitel geflochtenen Bart zu beeindrucken vermögen wirst! Bestreichen wirst du dein Boot auch später können, wenn du den Hafen erreichst, welchen du anvisierst. Was ihm fehlt, ist einzig der Name, der einer solch prächtigen Seetüchtigkeit gebührt: Nenne es Hoffnung, Zukunft, Tao, bloß aber nicht Schicksal! Wer sich dem Schicksal hingibt, wird von den Wellen und Fluten verachtet: mehrmals wird jener an seine Ufern zurückgeschlagen, bis das Meer, seiner überdrüssig, ihn auf die Klippen geworfen sehen wird! Die Wellen und Fluten respektieren nur denjenigen, der gegen sie ankämpft, frohen Gemüts ihre Kraft zur Kenntnis nimmt, und sich bereit zeigt, auch von Kopf bis Fuß durchnässt zu werden – diesen Mann achten sie! Sie unterstützen ihn, aufdass er die anderen Ufern erreicht. Du, Matthias, willst zu den anderen Ufern, nicht? Ansonsten würdest du dir keine Boote bauen!

Ja, da lächelst du, und ich sehe, ich habe mich nicht getäuscht mit dir! Ziehe dein Boot zum Wasser, und wenn sich andere auch wundern. Dein Nachbar wird dich fragen, voll Hohn und Unverständnis, voll grundlosen Mitleids, ob es denn nicht bequemer sei, sich eine Karte zu kaufen, auf einen Dampfschiff, und damit die Welt zu bereisen – verachte ihn, denn er wird nie Mann genug sein, um sich ein Boot zu bauen! Singe dein Lied ihm ins Gesicht! Seine Frau aber wird sich besorgt zeigen: „Herr Matthias, ach je, sie wollen uns verlassen, oh, na, warten sie doch, nehmen sie doch ein Paar Pfannkuchen, für ihre Reise, sie brauchen ja Proviant, ich mein', und dort auf der See, da werden sie lange keine Pfannkuchen mehr naschen können, Herr Matthias!“ Verachte sie, denn es sind ihre Pfannkuchen, welche dich auf die See treiben! Ein Mann hat seine Netze, hat sein Pfeil und Bogen, hat seine Angel. Was braucht er Pfannkuchen, die sein Boot verunreinigen, sein Herz aber lähmen? Ziehe dein Boot fröhlich zur See, Landratte, und werde ein Mann. Bist du ein Mann geworden, wirst du die Pfannkuchen umso widerlicher finden! Spucke es aus. Spucke es aus! So, sooo, gut! Auf geht's, zur See.

Siehst du die Wellen, siehst du die Wolken? Sie rufen nach dir! Das Wasser will sich an deine Stiefel schmiegen – gewähre ihm die Möglichkeit! Sei großzügig, und das Meer wird es dir zurückzahlen, mit gutem Wind und wenigen Wellen, und all dem, was dir das Wasser zu bieten hat! Und schaue niemals gen Ufer – vergessen sollst du dein Dorf, es führt dich nirgendwohin, während das Meer offen ist. Und auf! Und auf! Rudere fleißig, rudere geschwind! Und auf! Siehst du, wie dein Dorf verschwindet, unter tausend anderen Dörfern? Fürwahr, du verspürst keine Sehnsucht, außer der nach anderen Ufern! Dein Dorf, Matthias, ist dir vollends gleichgültig! Lache über die Narren von den Zurückgebliebenen! Lache über ihr kleines Leben, in ihren kleinen Häusern. Dich erwartet ein besseres Los. Und verachte die Furcht, die dich überkommt, sobald Wasser dein Boot befällt! Das Wasser ist dein Freund, und Freunde fürchtet man nicht! Freunde grüßt man, Mathias! Grüße das Wasser, und verbanne jeden Gedanken an eine Heimkehrt, jeden Gedanken eines widerlichen kleinen Feiglings! Eines Weibes! Du bist ein Mann, Matthias, lache und singe! Singe, aufdass die Wolken erzittern! Singe, aufdass dein Boot tanzt und springt! Es durstet nach Meer und Salz! Stille sein Durst! Lass auch das letzte aller Fische von deiner Frohmut wissen, aufdass es weiterschwimmt, und den anderen von dem frohen Seemann kündet! Singe dein Lied! Singe dein Lied durch Wellen und Tiefen! Verachte die Furcht! Du bist ein Mann, Matthias! Ein tapfrer Mann! Ein tapfrer Mann bist du gewesen! Ein wahrer Held, der heute untergegangen ist! Beispiel nehmen sollt ihr an ihm! Er hat sein Leben gelebt, so wie er wollte! In vollen Zügen hat er es getrunken! Macht es ihm gleich! Macht es besser als er! Auf! Holt eure Beile!

 

hallo anton vom mi,

erst mal eine frage zu deinem text im hinteren drittel.

soll ist wirklich:

Lass auch das letzte aller Fische von deiner Frohmut wissen, aufdass es weiterschwimmt, und den anderen von dem frohen Seemann kündet!

heissen?

den letzten fisch oder das letzte fischlein klingt irgendwie gewohnter, aber wir sind ja bei philosophie...wer weiss....

und irgendwie geht es mir persönlich zu schnell mit dem untergang des matthias....naja, vielleicht geschmackssache.

welche aussage verbirgt sich hinter der geschichte? bist du so lieb und erläuterst es?

gruss kardinal

 
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Meine ganz persönliche Interpretation:
Also bitte nicht böse sein wenn's Schwachsinn ist!

  • Der Mann wußte, dass Matthias scheitern würde und er macht weiter im Wissen, dass alle scheitern werden.
  • Der Mann symbolisiert etwas anderes.
  • Matthias symbolisiert uns alle.
Ist der Mann die Gesellschaft?
Oder ist er eine bestimmte Gruppe von Menschen?

Das erinnert mich an die DDR.
Da war es auch der Regierung egal, dass es nicht klappen wird, sie haben weitergemacht.
Aber ich glaube in dieser Geschichte ist es volle Absicht.
Oder etwa nicht?

MfG,
Hancock

 
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Hallo, und Danke für die Bemerkungen

Ich habe versucht, eine Geschichte zu schreiben, die einen zu einer Interpretation, ja zu einem Denkprozess anregt, wobei ich es vermeiden wollte, in Unverständlichkeit oder gar Sinnlosigkeit abzudriften. Jeder Leser hat einen eigenen assoziativen Hintergrund und setzt die Akzente auf die Aussage der Geschichte auf die ihm naheliegende Weise, und deutet die Gleichnisse verschieden, aber die Bilder selbst, die die Geschichte zeigt, wird er auf jeden Fall sehen. - Darum freut es mich, das man meine Geschichte auch interpretiert! Natürlich ist sie im Grunde eine verurteilende, und sucht jene aggressive Ratgeber und Lebensweisse zu bekämpfen, die rücksichtslos versuchen, in jedem einen Künstler (bzw. einen Meister) zu wecken, und dadurch verhindern, das er glücklich weiterlebt - so hatte ich Autor gedacht. Deine Meinung, Leser, ist aber immer die richtige.

Gruß,
A.v.M.


P.S.
"Das letzte aller Fische" klingt pathetischer, daher muss es bleiben.

 

nach deinen erläuterungen, anton von mi, gefällt mir deine geschichte noch besser.

gruss kardinal

 
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Hallo Anton von Mi,
ein sehr gelungenes Gleichnis, welches auf sehr viele Situation des Lebens und unserer historische Geschichte passt.
Hört auf zu trainieren, geht an die Front, Ihr seid die besten, ihr seid Helden, ihr seid etwas besonderes und wenn ihr sterbt, seid ihr Mertyrer.
Und für die daheimgebliebenen: Die an der Front, sie sind die unsterblichen Helden, eure Vorbilder. Habt auch ihr das Zeug zu dieser Unsterblichkeit?
...dieses Gleichnis erinnert mich sehr an die Situation des ersten und zweiten Weltkrieges.

Doch auch heute findet man noch Kriegsverherrlichung, wenn Kriege geführt werden. Das Thema hat meiner Ansicht nach auch eine Verbindung zu religiösen Fanatikern und Selbstmörderkillern. Es ist also auch ein sehr aktuelles Thema.

In der Geschäftswelt läuft es ähnlich ab. Der alte erfahrene Geschäftsmann, der den jungen ehrgeizigen Möchtegerngeschäftsmann zu seinem Werkzeug macht, in dem er ihn auf ein unangemessen hohes Podest stellt und sich seiner bedient, um für sich selbst einen Vorteil verschaffen zu können. So kann man sich die Loyalität eines naiven Menschen ermächtigen und ihn gleichzeitig als Schild und Kananonenfutter mißbrauchen. Selbst so ein offensichtlicher Machtmißbrauch und Mißbrauch eines anderen Menschen, führt nicht unbedingt zur Verurteilung des Schuldigen, wenn er sein Opfer letztendlich sogar noch zum Mertyrer erhebt. Es gibt immer junge Menschen, die diese Opferung nicht wahrhaben wollen, wenn sie sich zu sehr nach Anerkennung sehnen und diese von einem falschen Menschen bekommen können.

Oh ja, das kommt mir doch sehr bekannt vor.

Würde dieses typische berechnende Verhaltensmuster, skrupelloser Machtjunkies, doch nur mehr Menschen bewußt sein, so würden viele Mächtige ihre Macht verlieren und denen zufallen, die sich der Macht würdig erweisen würden.

Ein gutes Gleichnis!

 

hallo anton von mi,

nein, natürlich nicht!!

ich habe die geschichte noch einmal gelesen nach deiner erläuterung und war ganz angetan!!

das, was du mitteilen willst kommt zum ausdruck.

gruss kardinal

 

Nun, ich halte die Geschichte für sehr gut, und muss ehrlich zugeben, dass ich mich von den Worten des Mannes fast bis zuletzt habe mitreißen lassen (lediglich bei den Sorgen der Frau wurd ich kurz skeptisch. Aber ok, lassen wir meine Gutgläubigkeit beiseite, die verschwindet meist erst beim zweiten lesen *g*. Denn umso heftiger hat mich dann der eigentliche Untergang getroffen, eben weil er so plötzlich kam.

So, das soll bedeuten, die Geschichte zieht den Leser mit (manche wohl mehr, manche weniger, mich mehr) in der Sprache des Mannes. Und wenn eine Geschichte das erreicht halte ich sie für gelungen.

Zum Inhalt.

Was die Interpretation der Geschichte angeht, so kann ich deine eigene nachvollziehen, jedoch stimme ich nicht völlig mit ihr überein. Ich hab dem Mann nicht umsonst beim ersten Lesen geglaubt.

Gehört nicht ein wenig Frohmut und Abenteuerlust ins Leben? Und sollte man dieser dann nicht sogar folgen?
Solge Menschen muss es geben. Wie sähe die andere Option aus? Alle sind glücklich zu Hause (bildhaft gesprochen) und erfreuen sich ihres Lebensstils. Wo bleibt die Herausforderung, die den Menschen zu neuen Errungenschaften verhilft?

Der Interpretationsspielraum ist in dieser Beziehung durchaus zu zwei Seiten offen. Würden alle Menschen glücklich und zufrieden leben, was hätten wir dann? Die größte existierende Schafherde der Welt.

 

Hallo theShire

theShire schrieb:
Gehört nicht ein wenig Frohmut und Abenteuerlust ins Leben? Und sollte man dieser dann nicht sogar folgen?
Solge Menschen muss es geben. Wie sähe die andere Option aus? Alle sind glücklich zu Hause (bildhaft gesprochen) und erfreuen sich ihres Lebensstils. Wo bleibt die Herausforderung, die den Menschen zu neuen Errungenschaften verhilft?
Der Interpretationsspielraum ist in dieser Beziehung durchaus zu zwei Seiten offen. Würden alle Menschen glücklich und zufrieden leben, was hätten wir dann? Die größte existierende Schafherde der Welt.

Ja, ich stimme dir zu: Frohmut und Abenteuer gehören ganz bestimmt sogar zum Leben und es muß auch Menschen mit einer Bereitschaft dazu geben. Doch sollte das nicht freiwillig geschehen? Sollte man nicht jedem die Zeit geben, die Situation und das eigene Risiko selbst abzuschätzen? Vielleicht ist man ja selbst Schuld, wenn man sich überreden läßt, aber ist der jenige, der den anderen überredet, sein Leben zu riskieren, deshalb unschuldig? Ist es richtig, jemanden, in vollem Wissen, ins offene Messer laufen zu lassen?

Ich denke, um die Schwächen anderer zu wissen, bedeutet, daß man auch die Verantwortung für jene trägt.

Liebe Grüße
David

 

Hallo Anton,

jetzt hätte ich doch beinahe vergessen meine schon lange geschriebene Kritik zu posten. Bildhaft beschreibst Du die Entscheidung zwischen zwei Lebensstrategien (Lebensphilosophien) indem Du zwei extreme Standpunkte darstellst. Im `richtigen Leben´ ergibt sich eher eine Mischform, eine zeitweilige Verschiebung zu einem der beiden Pole. Es ist recht interessant sich dies einmal bewusst zu machen, deshalb finde ich den text ansprechend, auch wenn man das Ende ahnt.

Schön getroffen ist die Pfannenkuchen-Verlockung:

„Verachte sie, denn es sind ihre Pfannkuchen, welche dich auf die See treiben!“

Dann bleibt natürlich noch die Frage, welchen Preis die (trügerische?) Verlockung des Abenteuers wert ist - vorzeitiges Lebensende?

Hier musst Du noch nachbessern:

Bereit sind deine Rudern – setze - Ruder

Und schere dein Bart, dein wallendes – deinen Bart

wenn du den Hafen erreichst, welches du anvisierst - welchen (erreichst, den Anvisierten)

seiner überdrüssig, auf ihn auf die Klippen geworfen sehen wird! - zweimal „auf“

Was braucht er Pfannkuchen, die sein Boot verunreinigen, sein Herz aber lähmen? - „aber“ geht nicht, da kein Gegensatz beschrieben wird.

Sie rufen nach dir! Das Wasser will sich an deinen Stiefel schmiegen - warum nur an einen?

Macht es besser denn er! - als er!


Tschüß... Woltochinon

 

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