- Beitritt
- 12.10.2005
- Beiträge
- 586
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Vom Vermissen
Es ist jedes Mal ein seltsames Gefühl, wenn der Zug langsam in die Talsenke einfährt und der Blick auf Aachen freigegeben wird. Die Stadt wird nicht umsonst von den Franzosen ´Aix la Chapelle´ - Stadt der Kirchen genannt. Türme bilden das Stadtbild, undeutlich ist auch der Glockenturm des alten Doms zu erkennen. Regenwolken haben sich über den Himmel gezogen, während die kleinen Berge, die das Tal bilden, mit Nebel verdeckt sind.
Meine Heimat, denkt Johann und versucht, nicht links aus dem Fenster auf das eher ärmliche Ostviertel zu sehen. Es ist wieder fast zwei Monate her, dass er zuletzt daheim gewesen ist. Seit über einem Jahr studiert er nun in einem anderen Bundesland. Wenn der Zug immer weiter fahren würde, dann käme nach ein paar Minuten die Bundesgrenze. Er sieht doch nach links, ein paar Kinder spielen mit einem Basketball auf einem Schulhof. Ihnen scheint das schlechte Wetter nichts auszumachen. Er selber streicht sich über die Stirn, als würde er Sorgenfalten suchen. Wieder ein Blick nach rechts, der Zug rattert inzwischen in die Innenstadt hinein. Es scheint sich nichts verändert zu haben, seit dem letzten Mal.
Johann liebt es immer wieder aufs neue, dieses einzigartige Gefühl, zu dem Ort zu kommen, den er wohl seine Heimat nennt. Er kann von sich nicht einmal behaupten, sonderlich Sehnsucht nach diesem Platz zu haben, aber dennoch diese Vertrautheit zu spüren, diesen schleichenden Stolz dazuzugehören oder einfach nur die Abkürzung des Stadtnamens auf dem Autokennzeichen zu sehen: AC. Schon, wenn er in der Fremde ist und plötzlich irgendwo diese Abkürzung sieht, überkommt ihn die Freude, dass es diesen Ort ganz im Westen von Deutschland gibt.
„Wir erreichen in Kürze unser Endziel, Aachen Hauptbahnhof. Die deutsche Bahn dankt für ihre Fahrt. Im Namen des Zugpersonals wünsche ich Ihnen noch einen schönen Freitag."
Johann steht auf, zieht sich seinen Mantel an und sucht seine Sachen zusammen. Aus den Kopfhörern seines Mp3-Players kommt „All my lovin" von den Beatles. Er hat die Musik bis auf den Anschlag gedreht, als wolle er sich vor den Geräuschen der Welt schützen.
Er summt leise mit, als er sich den Rucksack über die Schultern packt. Die Beatles singen, dass sie jeden Tag nach Hause schreiben und all ihre Liebe nur diesem einem Mädchen schicken würden. Für einen kurzen, lachhaften Moment denkt Johann, wie schön es doch wäre, wenn da jemand am Bahnsteig auf ihn warten würde. Ein blondes Mädchen mit großen, blauen Augen, das auf ihn zu gestürmt kommt, als sich die Tür schwerfällig öffnet und er langsam herabsteigt. Er will sich zwingen, mit dem Träumen aufzuhören, will sich in die Wade kneifen, nur um diesen Spott nicht ertragen zu müssen. Doch geht es weiter. Er sieht, wie er auch auf das Mädchen zu stürmt, sie lange und fest umarmt und sie sich minutenlang küssen, während die Beatles davon singen. Er sieht all ihre Freude in den strahlenden Augen, spürt die Wärme, die durch ihren Mantel zu ihm dringt und fühlt ihre Liebe, die er sich doch nur einbildet.
Dann endlich erlöst ihn sein Denken von dem Traum und er hört wieder die Musik aus den Kopfhörern.
And then while I'm away
I’ll write home ev’ry day
And I’ll send all my loving to you.
Ich würde es echt tun, denkt Johann, als er weiter vor sich her singt. Nicht mehr viele Menschen sitzen um diese Uhrzeit noch im Zug. Der Großteil der Menschen, der mit ihm aus Hessen ins Rheinland gefahren ist, ist bereits in Köln ausgestiegen, um von da aus ins Ruhrgebiet zu gelangen. Ihm ist es recht, volle Züge sind lauter und unerträglicher als leere.
Endlich kommt der Zug ins Stoppen, die Maschinen rauschen, es ertönt ein unangenehmes Pfeifen, das selbst die Lautstärke der Musik aus seinen Kopfhörern übertönt. Die Türen des Waggons öffnen sich und er atmet die Luft seiner Heimat.
Kalte Luft empfängt ihn, sie streicht wie die Hand einer Frau um seine Wange. Ein älterer Herr mit schwarzer Aktentasche zwängt sich an ihm vorbei und hastet zu den Treppen. Johann sieht nach oben, durch die kleinen Glasfenster der Bahnhalle kann er den dunklen Himmel sehen. Es regnet nicht mehr.
Auch, wenn er weiß, wie dämlich es ist, reckt er den Hals und hält Ausschau, in der Hoffnung, dass ihn doch jemand abholen kommt. Nur die Nacht scheint aber außerhalb des Bahnhofes auf ihn zu warten. Kurz überlegt er, ob er traurig sein soll, grinst aber lieber bei dem Gedanken, seine Heimat hätte ihn so vermisst, wie er sie.
„Hier bin ich", schreit jemand durch die geschäftige Stille.
Er dreht sich um, versucht die Stimme auszumachen. Erst glaubt er nicht, dass es wahr sein kann, was er da sieht.
Ein Mädchen kommt auf ihn zu gerannt, ihr Schal flattert ihr hinterher und scheint nur noch durch Zufall zu halten und nicht auf den Bahnsteig zu fallen. Ihre blonden Haare schauen unter der Mütze hervor. Sie ist wunderschön, denkt er kurz und will seinen Rucksack fallen lassen, sich vollkommen aufgeben und diesen Moment genießen, in dem endlich einer seiner Träume real geworden ist. Er spürt keine Kälte mehr und er braucht Minuten, um zu begreifen, dass Lena nicht in seine Arme gelaufen ist.
Im Nachhinein kann es Johann nicht glauben, dass er das Mädchen nicht erkannte. Erst als er im Bus sitzt und noch einmal in Zeitlupe zu sehen glaubt, wie sie etwa zwanzig Meter vor ihm zum Stehen kommt und in die Arme eines anderen Jungen springt, erinnert er sich, dass er es war, der vor mehr als zwei Jahren ihre Stirn küssen durfte. Er sitzt im Bus auf dem Weg nach Hause und denkt an all die wundervollen Nächte, in denen er sich bei ihr ausweinen konnte, in denen er seinen Kopf auf ihre Brust legen durfte und sie sich liebten und glaubten, dass es auf ewig so weitergehen würde. Irgendwann beginnt es wieder zu regnen. Als er aussteigt, empfängt er ihn wie ein unbeliebtes Geschenk. Und so merkt Johann erst spät, dass es nicht die Tropfen sind, die seinen Blick verschwommen machen.
Er kann es immer noch nicht glauben, dass er eben Lena, seine erste und einzige Freundin gesehen hat, als er den Schlüssel in das Schloß der Haustür steckt und ihn langsam umdreht.
Im Eingangsraum seines Elternhauses steht ein Spiegel, in dem er gezwungen ist, sich zu betrachten, will er seinen Mantel aufhängen. Er sieht lange in das viereckige Glas und erst jetzt bemerkt er die Tränen, die seine Wangen herab fließen.
Erst hört er nur Rauschen aus dem Telefonhörer. Seine Hände zittern wie die Äste des Ahorn, den er durch das Fenster sehen kann.
„Johann?"
„Ja."
„Hallo... Warum rufst du mich an?"
„Woher weißt du, dass ich es bin?"
„Ich hab deine Nummer erkannt. Es ist die gleiche wie vor zwei Jahren"
Er atmet langsam, fühlt sich ein paar Sekunden nicht fähig, ein Wort zu sprechen. In ihm sammeln sich Tränen, ganz tief in seinem Inneren drohen sie einen imaginären Stausee zu sprengen.
„Ich vermiss dich so", sagt er schließlich und lauscht ihrem ruhigen Atem, den er fast auf seiner Wange zu spüren glaubt.
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll."
Ihre Worte schießen aus ihr heraus, als hätte sie ihre Antworten auswendig gelernt. Dann kann er nicht mehr und muß weinen. Er versucht, dagegen anzukämpfen und diesen beschissenen Staudamm wieder aufzubauen, statt dessen kracht das ganze Fundament immer weiter in sich zusammen.
„Oh Lena."
„Ich wußte auch, dass du es bist, weil ich geahnt habe, dass du mich anrufen würdest. Ich habe dich heute auf dem Bahnsteig gesehen. Erst dachte ich, dass ich mich irre. Ich habe oft das Gefühl, dich zu sehen. Manchmal, wenn ich wie damals zu unser Schulzeit an der Bushalte stehe und warte. Oder dass du vor mir in der Vorlesung sitzt und dich gleich umdrehst."
Unfähig zu sprechen, betete Johann in diesem Moment wie nie zuvor, dass er die Zeit stehen lassen könnte und ihr alles sagen könnte, was er ihr immer sagen wollte.
„Trotzdem wünschte ich mir, du hättest nicht angerufen", sagt sie leise, als hätte sie schon Angst, dass der Klang ihrer Worte ihn verletzten könnte.
„Aber ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, Lena. Es tut scheiß weh, dich so schrecklich zu vermissen."
„Hör mir mal zu... ja?"
Ihre Stimme hat schon lange nicht mehr die Festigkeit, die sie noch vor Sekunden hatte.
„Also, ich vermisse dich auch und denke oft an dich, aber du mußt einfach verstehen, dass ich nicht zwei Menschen gleichzeitig lieben kann. Das würdest du doch auch nicht wollen."
„Lena... bitte..."
Eine Träne läuft an dem Hörer des Telefons herunter und tropft auf die zitternden Beine.
„Wieso können wir denn nicht einfach versuchen, Freunde zu sein? Es wenigstens versuchen? Auch, wenn du jetzt weit weg wohnst. Wir könnten ja hin und wieder telefonieren und uns schreiben."
Aber Beide wissen in diesem Moment, dass das nie funktionieren würde, dass Johann so viel mehr will. Er will nur noch schreien, sich all den Schmerz aus der Seele kreischen, aber kann doch nicht mehr als flüstern.
„Lena... überlege es dir doch noch einmal."
Kein Ton scheint mehr aus dem Hörer zu kommen. Stunden verrinnen für Johann, dabei muss er nachher voller Schmerz feststellen, dass das Gespräch keine drei Minuten gedauert hat.
„Bitte, leg jetzt auf. Es hat einfach keinen Sinn mehr. Bitte leg auf. Du weißt, dass ich das nicht kann", sagt sie wieder lauter. Wie sehr es ihn schmerzt, dass sie nicht einmal für ihn weint, dass er nicht einmal mehr Tränen für sie wert ist.
„Wirklich, ich vermisse dich echt", flüstert sie, dann legt er auf. In seinem Zimmer ist es unfassbar still, ihre letzten Worte hallen noch in seinem Gehörgang wie ein Chor von Geistern. Dann lacht er leise.
Es scheint sich nichts verändert zu haben, seit dem letzten Mal.
Aachen, 27.12.2005