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- 08.11.2020
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Vom Weg, seine Träume zu erfüllen
Irgendwann werde ich meinen Traum erfüllen, dachte sich Susanne mit einem Lächeln.
“Entschuldigen Sie, dürfte ich auch kurz an den Zeitungsständer ran?” riss eine Stimme sie aus ihrem Tagtraum.
Susanne blickte verwirrt auf. Der Einband der Zeitschrift zwischen ihren Fingern fühlte sich glatt und neu an. Einen Moment hielt sie inne, dann steckte sie die Zeitschrift zurück in den Ständer, entschuldigte sich und ging einen Schritt zur Seite.
Langsam kam die Erinnerung zurück, warum sie überhaupt nach der Arbeit in das stets überfüllte Einkaufszentrum in Berlin-Mitte ging. Sie wollte für das Abendessen heute Abend einkaufen. Hektisch sah sie auf die Uhr. Punkt fünf. Jetzt musste sie sich beeilen. Ihr Ehemann reagiert immer sehr ungehalten, wenn er bis 18 Uhr nichts zu essen bekam.
Susanne flitzte die Gänge entlang und suchte in Windeseile nach den Zutaten. An der Kasse angekommen, überprüfte sich nochmals die Uhrzeit. Susanne sah den Minutenzeiger auf ihrer Uhr, der unerbittlich gegen sie arbeitete. Es war nun bereits 17.15 Uhr.
Wenn ich mich beeile, dann schaff ich es bis 17.30 nach Hause!
Erleichterung durchströmte ihren Körper. Genau in diesem Moment erregte eine Diskussion Susannes Aufmerksamkeit. Es war die Kundin vor ihr, die mit dem Kassierer verhandelte.
“Aber es sind doch nur zwei Euro. Können Sie kein Auge zudrücken?”, bat die Kundin.
“Selbst wenn es nur 10 Cent wären, ich darf da leider keine Ausnahme machen!”, erwiderte der Kassierer
“Aber ich habe nicht so viel Geld bei mir und …”
Susanne streckte der Frau zwei Euro entgegen. "Hier nehmen Sie! ich schenke sie ihnen."
Sichtlich irritiert und verlegen nahm die Dame das Geldstück entgegen.
"Oh, vielen Dank. Das ist sehr nett von Ihnen. Sie bekommen es wieder zurück, falls wir uns jemals wiedersehen."
“Alles gut, man sieht sich immer zweimal im Leben”, entgegnete Susanne mit einem Lächeln im Gesicht.
Susanne trat aus dem mollig warmen Einkaufszentrum in das düster und kalte Berliner Novemberwetter. Mit schnellen Schritten und dem Blick fest auf ihr Ziel gerichtet, ging sie Richtung U-Bahn. Nach ein paar Schritten, rückte sich ein junger Mann in ihr Blickfeld. Er trug eine gelbe Jacke. Das grüne Logo auf seiner Brust zierte ihn, wie ein Orden einen General, welchen er mit Stolz trug. Das Logo und die Organisation waren ihr jedoch gänzlich unbekannt.
Der junge Mann reichte Susanne einen Flyer. Zuerst wollte sie ihn gar nicht annehmen, doch irgendwas in ihr regte sich, was sie veranlasste, mit schnellen Fingern nach dem Flyer zu greifen. Schnell verschwand er in ihrer Umhängetasche und gesellte sich zum Rest der Einkäufe. Den Flyerverteiler beachtete sie nicht weiter. Ihr Ziel war der U-Bahnhof.
Auf dem Weg nach unten, nahmen ihre Füße nur jede zweite Stufe. Die U-Bahn fuhr ein. Susanne hatte es rechtzeitig geschafft!
Als die Türen aufgingen, reihte sie sich zu den anderen Pendlern mit ein. Der Wagon war, wie immer zu dieser Uhrzeit, heillos überfüllt.
Susanne atmete tief ein. Die Luft roch nach alten Zigarettenqualm, Schweiß und vielerlei anderen. Sie wunderte sich, warum die U-Bahn noch nicht weitergefahren war.
“Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund von Personen auf dem Gleis wird sich unsere Weiterfahrt um etwa 30 Minuten verspäten“, knisterte es aus den Lautsprechern des Wagenabteils, als sich der Gedanke schon wieder verflüchtigte.
Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. Angst und Entsetzen stiegen in ihr auf.
Das wird Ärger geben!
Zitternd ertasteten ihre Finger den Hausschlüssel in ihrer Jackentasche, als Susanne vor ihrer Wohnung stand. Bevor sie aufsperrte, sah sie nochmals auf ihre Armbanduhr, nur um sich zu vergewissern. Viertel nach sechs!
Sie machte die Haustür auf. Ein beißender Geruch nach Schweiß, verfaulenden Essensresten und Zigarrenqualm schlug ihr entgegen.
Es war schlimmer als in der U-Bahn. Der Flur vor ihr war dunkel, so wie der Rest der Wohnung. Nur ein schwacher Schimmer drang durch die verglaste Tür, die das Wohnzimmer vom Flur trennte. Leise ging sie den Flur entlang Richtung Küche, schloss die Tür behutsam hinter sich. Mit ein wenig Glück würde ihr Ehemann sie nicht hören. In der Küche angekommen, packte sie die Umhängetasche aus. Dabei fiel der Flyer zu Boden. Erst nachdem sie sich bückte und ihn aufhob, realisierte sie, was darauf stand. Auf der Vorderseite war Infomaterial über ein Aufenthalt in Südasien. Darauf war anschaulich beschrieben, wie man für die Organisation arbeiten konnte und gleichzeitig durch das Land reiste, um Menschen und Natur kennenzulernen. Auf der Rückseite hatten sie gleich den Anmeldebogen aufgedruckt.
“Da bist du ja endlich! Was hast du denn so lange gebraucht?”, schnauzte sie eine Männerstimme hinter ihr an. Es war David, ihr Ehemann. Susanne schreckte hoch.
“Tut...tut mir leid, aber die U-Bahn hatte Verspätung, weil …”.
“Das ist mir scheißegal! Dann musst du eben früher aus der Arbeit gehen! Ich habe verdammten Hunger und du lässt dir ewig Zeit.” Die Aggression in seiner Stimme ließ Susanne schaudern.
“Du hättest auch einkaufen können. Du bist zumindest den ganzen Tag zu Hause und …”
Kaum hatte sie bemerkt, was für einen Fehler sie da gerade getan hatte, schritt David auch schon auf sie zu. Bei jedem Schritt näher an sie ran, spürte sie förmlich die Erde beben. Ihre Augen weiteten sich, als er sie an den Haaren packte und mitsamt Kopf nach hinten riss. Sie spürte, wie einige Haare durch den Zug rissen. Ihr Gesicht und Hals spannten sich wie ein Gummiband. Instinktiv machte sie ein Hohlkreuz, um den Druck auf ihren Nacken zu entlasten. Davids massiger Körper drückte sie unaufhaltsam gegen die Küchenarbeitsplatte. Sein Gesicht war nur wenige Millimeter von ihrem entfernt. Susannes Brustkorb hob und senkte sich unaufhörlich und das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer.
“Du gibst mir keine Widerworte! Und jetzt schwing deinen Arsch vor den Herd und fang an zu kochen!”, sprach David ungehalten.
Bei jedem seiner Worte roch sie billigen Whiskey. Sie hatte Angst. Susanne wusste, dass sie lieber tun sollte, was er wollte. Ein angestrengtes Nicken ging von Susanne aus. David sah seiner Frau nochmals tief und eindringlich in die Augen. Aus den glasigen Kugeln drang keine Liebe. Ein Verlangen brannte in ihnen, aber nicht nach ihr. David entließ den Haarschopf aus seinem Griff. Susannes Knie gaben nach und sie sackte auf den kalten Fußboden. David verließ die Küche, ohne Susanne auch nur einen Moment länger zu beachten. Erleichterung machte sich in ihr breit.
Sie sah den Flyer auf dem Boden liegen. Nach kurzem Überlegen stand sie auf, hob ihn vom Boden auf und heftete ihn mit einem Magneten an den Kühlschrank.
Als sie am nächsten Abend ihre Freundin vor dem Kaffee sah, spannten sich ihre Lippen zu einem breiten Lächeln und sie beschleunigte instinktiv ihren Schritt.
Die beiden Frauen fielen sich in die Arme und freuten sich wie zwei kleine Kinder.
Nach einer gefühlten Ewigkeit setzten die beiden sich an einen freien Tisch.
“Nun erzähl schon, wie ist es dir auf deiner Reise ergangen? Ich will alles wissen, bis auf die kleinste Kleinigkeit”, sprach Susanne aufgeregt.
“So viel gibt es da nicht zu erzählen. Ich würde lieber was von dir hören. Du siehst nicht gut aus.”
“Ach Gwen, bei einer zweijährigen Reise durch Amerika gibt es nicht viel zu erzählen? Du willst mich wohl veräppeln. Außerdem ist bei mir alles beim Alten, da hat sich nichts geändert”, entgegnete ihr Susanne.
“Nein wirklich. Du siehst schlimm aus. Misshandelt er dich immer noch?”, fragte Gwen.
“So schlimm ist es nicht. Er weiß halt manchmal nicht was er für kraft hat. Er möchte mir dabei bestimmt gar nicht wehtun”, Susanne huschte ein verschmitztes lächeln über das Gesicht.
“Das glaubst du doch selbst nicht! Willst du so enden wie deine Mutter?”
Susanne wendete den Blick ab. Gedankenverloren rührte sie in ihrem Cappuccino.
Ihre Finger spürten das glatte Metall ihrer Halskette. Behutsam umfuhren sie immer wieder die Form des herzförmigen Schmuckstücks.
“Hey, tut mir leid, war nicht so gemeint”, sprach Gwenn zu Susanne, als sie ihre Abwesenheit erkannte.
Erst jetzt realisierte Susanne, was ihre Finger spürten. Sie musste unbewusst, bei dem Gedanken an ihre Mutter, die Halskette berührt haben.
“Schon gut, du hast ja auf einer Seite recht”, seufzte Susanne immer noch etwas gedankenverloren.
Nach einem Moment der Stille brach aus Gwen freudestrahlend heraus: “ Ich hab eine Idee, die dich aufmuntern wird. Ich bin seit neuestem Mitglied in einer Organisation, die sich um soziale Projekte kümmert. Morgen gehen wir in die Innenstadt und verteilen warmen Tee und belegte Brötchen an Obdachlose. Das wird dir bestimmt auch gefallen und du kommst mal wieder raus”.
“Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist! David ist heute schon Sauer, weil ich mich mit dir treffe und morgen ist auch noch Samstag. Da möchte er, dass ich den ganzen Tag bei ihm bin. Außerdem bin ich in sozialen Angelegenheiten nicht so gut.”, protestierte Susanne.
“Was? Du und nicht sozial?”, Gwen zog eine Augenbraue hoch und musste schmunzeln.
“Damals in unserem Freundeskreis warst du diejenige, zu der jeder kam, wenn er Probleme hatte. Du wusstest immer einen Rat und hattest immer ein offenes Ohr. Du warst damals sehr beliebt.”
“Ja aber…”, fing Susanne abermals an zu protestieren.
“Ich will keine weiteren Widerworte hören. Komm schon, das wird toll, vertrau mir”, sprach Gwen mit einem lächeln auf den Lippen.
“Ok”, sprach Susanne kaum hörbar.
“Super! Also morgen um 8 Uhr am Brandenburger Tor.
Die beiden Frauen unterhielten sich noch ausgiebig über verschiedenste Themen an diesem Abend. Susanne konnte ihrer Freude und Erwartung an den morgigen Tag kein Ventil geben. Zu groß war die Angst, wie sie es David beibringen sollte. Doch sie hatte schon eine Idee.
Leichter Nieselregen fiel Susanne ins Gesicht, als sie zur vereinbarten Uhrzeit vor dem Brandenburger Tor stand und wartete. Davids Alkoholexzess ist freitagabends immer besonders stark und so hat er bis am Morgen darauf immer einen sehr festen Schlaf. Diesen Umstand machte sie sich zunutze und schlich sich heimlich aus der Wohnung. Die Sorge, wie David darauf reagieren wird, wühlte sie auf. Sie hätte um alles in der Welt gestern ablehnen sollen. Unbehagen stieg in ihr hoch und sie wurde unruhig.
Das wird riesen Ärger geben!
Eine Gruppe Menschen mit gelben Jacken kam auf sie zu. Darunter auch Gwen. Schlagartig wurde ihr klar, was für eine Organisation Gwenn gestern gemeint hat. Es war die Gleiche wie von dem Flyerverteiler.
Was für ein Zufall!
Nachdem Gwen ihr die anderen Gruppenmitglieder vorstellte und der weitere Verlauf durch den Gruppenleiter geklärt wurde, ging es los. Susanne ging mit Gwen durch die Innenstadt von Berlin, bewaffnet mit unzähligen Thermoskannen, dazu passende Pappbecher und belegte Brötchen. Verstaut in einer riesigen Tragetasche, die Susanne bei sich trug. Jedes Mal, wenn ihnen ein Obdachloser begegnete, fragten sie, ob sie ihm was anbieten durften. Nicht jeder war den beiden freundlich gestimmt und es gab auch einige wenige, die ihr Angebot strikt ablehnten. Aber der Großteil nahm die unerwartete Abwechslung des tristen Alltags sehr entgegen. Viele unterhielten sich mit Susanne über ihr hartes Straßenleben, während sie dampfenden Tee in Pappbecher goss oder Brötchen in ausgelaugte Hände reichte. Das warme Getränk und die kleine Stärkung waren eine wahre Wohltat. Susanne fühlte sich zum ersten Mal seit Langem wieder unbeschwert und frei.
Es tat gut in lachende Gesichter und vor Freude strahlende Augen zu sehen.
Nach ein paar Stunden des Verteilens machten die beiden eine Pause auf einer Parkbank. Warmer Tee füllte zwei Pappbecher bis zum Rand. Gwen gab Susanne ein belegtes Brötchen. Der warme Pappbecher wärmte ihre eisigen Hände, während sie ihn zum Mund führte. Der warme Dampf streichelte dabei ihr Gesicht. Sie schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Die Luft roch frisch und ein wenig nach Tannennadeln. Susanne genoss den Moment mit jeder Faser ihres Körpers.
„Du Gwen, darf ich dich mal was fragen?„
„Sicher alles was du willst“, sagte Gwen mit vollem Mund. Sie hatte ein viel zu großes Stück von ihrem Brötchen abgebissen und kämpfte eine Ewigkeit damit, es zu zerkauen. Susanne musste unwillkürlich lachen, als sie die Szene sah. So heftig, dass ihr Tränen in die Augen traten. Erinnerte sie das Bild doch zu sehr an einen Hamster auf Futtersuche.
Als sie sich wieder etwas gefangen hatte, fragte sie: ”Hast du jemals deine Reise nach Amerika bereut? Ich meine, du hast deine Familie und Freunde zurückgelassen und bist ins ungewisse aufgebrochen.”
“Ja, auf einer Seite war es ein bisschen egoistisch von mir, aber es muss im Leben Zeiten geben, wo man nur an sich denken darf. Es war mein größter Traum, Amerika zu bereisen, den hab ich mir erfüllt. Nun kann ich mir auf meinem Totenbett mal keinen Vorwurf machen, meinen Traum nicht erfüllt zu haben”, sprach Gwen vertrauensvoll.
“Was ist aus deinem Traum geworden, Südasien zu bereisen?”, fragte Gwen neugierig.
“Irgendwann mach ich das mal”, seufzte Susanne. Voller Sorge starrte sie in ihren Becher, der darin befindliche Inhalt schlug kleine Wellen bei jeder Bewegung.
“Ich müsste erst mal David überzeugen mitzukommen, außerdem kann ich mir das nicht leisten. Ich hatte zwar mal viertausend Euro dafür angespart, aber die hat David beim Online-Poker verzockt”, fuhr Susanne fort.
“Er hat WAS?”, schrie Gwen auf.
“Er hat gemeint, er zahle mir alles wieder zurück, sobald er wieder einen Job hat. Das ist jetzt zwei Jahre her”, der Griff um ihren Pappbecher verstärkte sich, ihre Miene wurde düster.
“Was hältst du davon, für unsere Organisation nach Südasien zu gehen? Du kannst auch David mitnehmen. Ihr arbeitet dort für einheimische z. B. Bauern und bekommt dafür Kost und ein Zimmer. Wie wäre es, wenn du David fragst, ob er nicht dir zu liebe bereit wäre mitzukommen?”, schritt Gwen ein, als sie merkte, wie Susanne innerlich mit sich kämpfte.
Ein Strahlen ging von Susannes Gesicht aus. David einfach zu fragen, war ihr nicht in den Sinn gekommen. Zu groß war die Angst vor ihm gewesen, dass ihr so etwas Einfaches nicht einfiel!
“JA! Das ist eine gute Idee. Ich frage ihn gleich heute Abend”.
“Aber jetzt haben wir erst noch ein paar Brötchen zu verteilen!”, voller Tatendrang sprang Susanne auf und riss dabei Gwen mit ihrer wiedergefunden heiteren Laune mit.
Ihre Hand zitterte, als sie den Griff ihrer Haustür umfasste. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf.
Wie wird David reagieren?
Als sie die Tür vorsichtig aufdrückte, ging sie nochmals den Tag im Gedanken durch. Es war seit Langem der schönste Tag, den sie erleben durfte. Es war der Gedanke an ihren Traum und die Lösung, die sie heute von Gwen bekam, der ihr Mut gab.
Zielstrebig ging sie in die Küche und nahm den Flyer vom Kühlschrank. Im nächsten Moment stand sie im Wohnzimmer. Es war eine einzige Müllkippe und wie ein König über sein Reich saß David auf seinem Bürostuhl und spielte an seinem PC.
Susanne hatte sich auf alles Mögliche eingestellt, nur nicht, dass sie nicht beachtet wurde.
Sie nahm ihren gesamten Mut zusammen und Schritt auf ihn zu. Dunkelheit griff um sie. Wie in einem Tunnel sah sie David vor sich. Ihre Füße waren wie Blei und jeder Schritt fühlte sich unendlich schwer an. Ein Klirren machte sich in ihren Ohren breit und holte sie aus ihrem Tunnelblick. Ihr Fuß war gegen die Rumflasche gestoßen, die neben dem Schreibtisch stand. Was diese mit einem Umkippen quittierte. Der darin befindliche Rest ergoss sich auf den Teppich.
“Hallo, ich würde dir gerne was Zeigen”, sprach Susanne kaum hörbar. Ihre Hand umklammerte den Flyer so stark, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. David zeigte keine Reaktion.
Besser ich lass es, bevor noch was Schlimmeres passiert, dachte sie sich.
“Hallo, ich würde dir gerne was Zeigen”, sprach sie abermals. Nun mit einer etwas kräftigeren Stimme.
David regte sich nicht.
So einfach wollte sie aber nicht aufgeben. Susannes Brustkorb hob sich und füllte ihre Lunge mit Sauerstoff. Sie hielt den Atem an und griff entschlossen an den Controller, der sich wie ein Gefangener zwischen Davids fingern befand. Mit einem Ruck befreite sie ihn aus seiner Gewalt und öffnete gleichzeitig die Lippen, um etwas zu sagen.
Schlagartig klarte Davids Blick auf, er war aus seiner digitalen Trance erwacht. Doch nun fanden sie ein neues Opfer.
Susannes Augen konnten der Bewegung gar nicht so schnell folgen, als David auf einmal vor ihr stand.
Oh Gott, was habe ich getan! War der einzige Gedanke, den sie in dem Augenblick zu fassen vermochte. Wie eine Wand traf sie der Schlag am Auge und riss sie von den Füßen. Sie prallte auf den Boden. Ihr Auge schwoll sofort an und der Magen drehte sich um. Zwischen leeren Bierflaschen, Chipsresten und stinkender, unaufgeräumter Wäsche kauerte sie am Boden.
Dies war noch nicht das Ende. Er beugte sich zu ihr hinab. Susanne spürte große, raue Hände, die sich um ihren Hals legten. Der Druck wurde stärker. Susannes Lungen ächzten nach Luft, doch da kam nichts.
“Du Miststück! Wo warst du heute? Du hast bei mir zu sein, wenn ich das möchte. Du gehörst mir!”, schrie ihr David ins Gesicht.
“Und du nimmst mir nie wieder den Controller ab, hast du verstanden?”, Speichelfäden traten aus Davids Mund.
Kein Wort konnte aus Susannes Mund entkommen. Den einzigen Zweck, den er in dieser Situation erfüllen wollte, war nach Luft zu schnappen. Susannes Fingernägel bohrten sich in Davids Knöchel. Sein Griff festigte sich unaufhörlich. Dunkelheit breitete sich um Susanne aus, als würde jemand das Licht dimmen.
“Hast du das verstanden, du Schlampe?”, kam es dumpf an ihr Ohr.
Susanne versuchte zu nicken. Es war das Einzige, wozu sie noch fähig war.
Das Nächste, was sie mitbekam, war, wie ihr Kopf auf den Boden aufschlug. Anscheinend hatte David seinen Griff gelockert, doch Susannes Körper war zu Schlaf, um ihren Kopf zu halten. Sie krachte wie ein nasser Sack zu Boden.
Sie vernahm eine Stimme, so als müsse sich jene erst durch unzählige Schichten aus Watte kämpfen.
“Was ist eigentlich das für ein Scheiß in deiner Hand?”,
gemeint war der Flyer, den Susanne immer noch tapfer festhielt. So als hätten ihr Körper und Geist unbewusst ausgehandelt, diesen Flyer niemals loszulassen. Koste es, was es wolle. Doch nun spürte sie das Papier, wie es ihr langsam aus der Hand glitt. Ihre Fingerknöchel entspannten sich, als sie nur noch ins Leere griffen.
“Was ist das für ein Dreck? Südasien? Du willst doch nicht etwa unser schönes Leben verlassen. Du hast hier alles, was du brauchst und willst”, hörte sie die Stimme nun wieder etwas deutlicher.
Papier raschelte. Einen Moment später flog etwas gegen die schmerzende Stelle an ihrem Kopf.
Langsam wurden die Welt um sie herum wieder klarer. Helle Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen. Ein zerknülltes Stück Papier lag in ihrem Sichtfeld. Die Speichellache unter ihrem Gesicht wurde immer größer.
Wie lange lag sie dort?
Susanne versuchte, sich aufzurichten. Ein langer, klebriger Faden folgte ihr, bis er auf der Hälfte riss. David saß wieder auf seinem Stuhl vor dem PC. Die digitale Welt hatte ihn wieder vollends zurück. Susanne hob das zerknüllte Stück Papier auf und schlurfte ins Bad.
Sie achtete dabei penibel darauf, jeden Spiegel auf ihrem Weg zu umgehen. Zu groß wäre die Schmach gewesen, sich selbst in diesem Zustand zu sehen. Um zu zählen, wie oft er schon die Hand gegen sie erhoben hatte, reichten zehn Finger bei Weitem nicht mehr aus.
Doch heute war es anders. Diesmal sah sie in seinen Augen etwas, was sie vorher dort noch nie entdeckte.
Der Waschlappen sog sich mit der kalten Flüssigkeit voll, die aus dem Hahn kam. Es war die einzige Möglichkeit ihr Auge zu kühlen. David hatte ihr schon vor Längerem untersagt, die Eiswürfel im Eisfach zu benutzen. Diese brauche er schließlich, um seine Getränke zu kühlen, war damals seine abfällige Aussage gewesen. Der Waschlappen brachte nur wenig Linderung. Angestrengt überlegte sie, was sie nun tun sollte. Sie war müde, perplex und ihr Auge schmerzte bei der kleinsten Bewegung. Kurz dachte sie daran, Gwen anzurufen, doch sie verwarf den Gedanken schnell wieder. Hätte er es mitbekommen, wäre ihr anderes Auge dran gewesen.
Sie wollte einfach nur noch schlafen. Verzweifelt kauerte sie sich in die Badewanne. Es war unbequem und kalt.
Immer noch besser, als neben ihm im Bett zu schlafen, dachte sie.
Neben diesem Monster. Die unbequeme Lage und die Schmerzen verhießen wenig Schlaf. Aber kaum befand sie sich in der Embryonalstellung, driftete sie weg. Den Waschlappen am Auge, den zerknüllten Flyer fest ans Herz gedrückt.
Es war ein eigenartiger Traum. Sie stand ein Stück weiter hinter der Parkbank von heute Vormittag. Dicker weißer Nebel umhüllte den Rest der Welt wie eine Wolldecke. Sie sah zur Parkbank. Darauf saß eine Frau, jedoch konnte es unmöglich Gwen sein. Die Frau war viel schmächtiger und hatte eine untersetzte Figur. Schwarzes Haar fiel ihr in Locken bis zu den Schultern. Einzelne graue Haarsträhnen schlängelten sich dazwischen. Susanne machte sich auf den Weg zur Parkbank. Eine unglaubliche Leichtigkeit lag in jedem Schritt. Es kam ihr vor, als würde sie auf einem riesigen Wattebausch laufen. Sie wollte unbedingt die Person auf der Bank sehen. Eine leise Vorahnung beschlich sie. Als sie die Parkbank umrundete und die Person erblickte, stockte ihr schlagartig der Atem.
“Mama?”, kam es ungläubig aus Susanne heraus.
“Hallo, mein Kind. Komm setz dich, wir müssen reden”, lächelte ihre Mutter und klopfte sanft mit der flachen Hand auf die freie Fläche neben ihr.
“Aber...wie...du bist tot?”, stammelte Susanne vor sich hin, nachdem sie neben ihrer Mutter Platz genommen hatte. Ihre Mutter quittierte ihre Frage mit dem schönsten Lächeln, welches Susanne jemals gesehen hatte.
“Ja, aber trotzdem bin ich immer bei dir. Nämlich hier”, ihre Mutter streckte den Zeigefinger aus und berührte dabei sanft Susannes linke Brust.
“Lass nicht zu, dass du ein Leben wie ich führst. Alles auf irgendwann schiebst und ein Leben für andere führst. Nur, um dann mit 49 an einem Herzinfarkt zu sterben. Nutze das Leben, was du hast, du hast nur dieses eine”, fuhr ihre Mutter fort.
“Ich weiß nicht, wie ich aus meinem jetzigen Leben entkommen kann. Ich habe vor so vielen Dingen Angst. Ich bin nicht stark genug”, widersprach sie ihrer Mutter.
“Stark zu sein bedeutet nicht, keine Angst zu haben. Manchmal ist die stärkste Person diejenige, mit der größten Angst. Sich seine Träume zu erfüllen, bedeutet sehr oft auch zu kämpfen. Selbst, wenn der Kampf ausweglos erscheint. Kämpfe für deine Träume, dann kannst du wahrlich sagen, du hast gelebt.”, sprach Susannes Mutter mit ruhigem Ton.
“Aber, wie soll ich das Anstellen?”, fragte Susanne.
Warme Hände umschlossen eine von Susannes, drehten sie mit der Handfläche nach oben und schlossen sanft die Finger zur Faust.
“Die Antwort liegt in deiner Hand und in den Menschen, die dich wahrlich Lieben.”
“ich muss jetzt gehen, aber wir sehen uns wieder”, damit stand ihre Mutter auf und stellte sich vor Susanne. Zarte Lippen küssten Susannes Stirn.
“Ich liebe dich, mein Kind”, sprach ihre Mutter zum Abschied, bevor sie in den Nebel hinter ihr verschwand.
Susanne wachte langsam auf. Sie war immer noch in der Badewanne. Kurz dachte sie über den merkwürdigen Traum nach, doch sie hatte keine Zeit. Mit neuer gestählter Entschlossenheit, wusste sie seit Langem was sie nun zu tun hatte. Es war Sonntag. Das hieß, David ist den ganzen Tag in der Kneipe ums Eck. Sie hatte vorgehabt weg zu sein, bevor er überhaupt auf die Idee kam, die Kneipe zu verlassen. Susanne stürmte ins Schlafzimmer. Mit weichen knien zog sie die verstaubte Reisetasche aus ihrem Teil des Schranks. Sie packte nur das allernötigste ein. Sie war fast bereit aufzubrechen, als sie ein klackendes Geräusch vernahm. ihre Augen weiteten sich, ihr Brustkorb fing an aufhochtouren zu arbeiten. ihre Gedanken rasten.
Was solle sie nun tun?
Sie erinnerte sich an den Traum und das Gespräch mit ihrer Mutter. Eine Idee reifte in ihr heran.
Das Bild, was David geboten wurde, als er das Schlafzimmer betrat, war für seinen Geschmack sehr bizarr. Seine Frau stand vor dem Bett, neben ihr eine Reisetasche mit ihren Sachen darin.
Es dauerte einige Zeit, bis sein alkoholisiertes Hirn alles aufnahm.
“Du willst mich doch nicht etwa verlassen?”, fragte er lallend, während er sich am Türrahmen festhielt, um nicht umzufallen. Eine außerordentlich starke Fahne stieg Susanne in die Nase. Obwohl er mehr als 2 Meter von ihr entfernt war.
“Doch ich verlasse dich und du wirst mich nie wieder sehen”, gab Susanne ihm als Antwort.
“Du kleines Miststück wirst nirgendwo hingehen!”, schrie er aggressiv, während er die Distanz zu ihr verringerte.
Auf halbem Weg hörte er eine kraftvolle Stimme und blickte gleichzeitig auf eine flache Handfläche vor ihm.
“Halt! Wenn du nur einen Schritt weiter gehst oder mich noch mal anfasst, hetze ich dir die Polizei auf den Hals! Hier in meiner Hand hört Gwen alles mit und bei dem kleinsten Anzeichen ruft sie die Polizei!”, schrie Susanne. David hielt inne. Die Situation und das neu gefundene Selbstvertrauen seiner Frau verunsicherten ihn sichtlich. Er sah an seiner Frau hinab. Sie hielt tatsächlich ihr Handy in der Hand, auf dem ein laufender Anruf angezeigt wurde. Wut breitete sich in seinem Körper aus, wie ein Buschfeuer.
“Du wirst jetzt folgendes tun”, sprach Susanne so sachlich wie möglich. Sie nahm ihren gesamten Mut zusammen, damit der nächste Satz über ihre Lippen kam.
“Du wirst mich jetzt vorbeilassen, damit ich die Wohnung verlassen kann, haben wir uns da verstanden?”, forderte Susanne David auf. Seine Fäuste zitterten vor Wut. Susanne machte sich jeden Moment auf einen Angriff bereit. Doch schon in der nächsten Sekunde wich er einen Schritt zurück, doch nicht ohne sie aus den Augen zu lassen. Dann folgten weitere. Er verschwand aus dem Schlafzimmer und aus Susannes Blickfeld.
Sie hatte es tatsächlich geschafft! Sie hatte ihrem Mann die Stirn geboten und gewonnen. Ein unglaublicher Energieschub machte sich in ihrem Innersten breit. Mit ihm griff sie die Reisetasche und verließ ebenfalls schnellen Schrittes das Schlafzimmer. David war nirgends zu sehen.
Ist vermutlich in die Küche gegangen, um weiter zu saufen, dachte sie sich.
Doch wollte sie keinen weiteren Gedanken an ihn verschwenden. Sie wandte sich dem Wohnzimmertisch zu. Ihr Blick wurde von dem zerknüllten Flyer angezogen. Triumphierend stand sie dort. Ein unglaubliches Glücksgefühl übermannte ihren Körper und Geist. Sie konnte das Lächeln auf ihrem Gesicht nicht stoppen, selbst wenn sie es gewollt hätte. Zu groß war die Vorfreude auf ihr bevorstehendes Leben.
Die Ketten der Unterdrückung und Knechtschaft fielen von ihr ab. Sie spürte Aufbruchstimmung in ihrer Brust... und ein Messer an ihrer Kehle.
Das kalte Metall glitt samtig von einem Ohr zum anderen. Ein roter Strahl überzog den vor ihr liegenden Tisch fast wie eine Tischdecke. Erst jetzt setzte der brennende Schmerz ein. Susannes Augen weiteten sich bis auf ein Maximum. Unbeholfen stolperte sie nach hinten. In dem Versuch, sich am Tisch festzuhalten, riss sie den Flyer mit zu Boden. Susanne drückte eine Hand fest auf ihre schmerzende Kehle, um die Blutung halbwegs zu stoppen. Doch die dunkelrote Flüssigkeit hörte nicht auf, zwischen ihren Fingern hervorzuquellen und ihr warm die Brust hinabzurinnen. Panische Augen fixierten David. Dieser befand sich auf dem Weg zu seinem Schreibtisch. Ließ auf halbem weg das blutige Küchenmesser fallen. Susanne öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch kamen aus ihm keine Worte. Dicke blutige Bläschen bildeten sich in ihm. Susannes griff an ihrer Kehle erschlaffte, sie sackte nach hinten weg. Jede Faser in ihrem Körper schrie. Nach dem Lebenselixier, was Stück für Stück aus ihr wich. Susanne gab nur noch ein markerschütterndes Röcheln von sich. Ihre Lunge und Herz stellten langsam den Dienst ein. Ein letztes Mal umkreiste ihr Zeigefinger das herzförmige Schmuckstück auf ihrer Brust.
Eine einsame Träne bahnte sich ihren Weg aus dem Auge.
Mama ich will noch nicht sterben! Ich wollte noch so viel Erleben.
In Susannes Augen war kein Leben mehr. Sie waren trüb.