- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Von Inseln und Essen; oder: Die Mär von der Liebe
Vor einem halben Jahr waren sie noch essen. Keines dieser teuren Restaurants, in denen man sich schon falsch vorkommt, wenn der Anzug nicht zur Krawatte passt. Eher ein kleines Lokal, regionale Spezialitäten, nichts besonderes, aber schön. Wen interessiert auch der Ort, ist es nicht wichtiger, mit wem man dort ist. Ein angenehmes Abendessen, bei Kerzenschein, ganz traditionell romantisch. Fast schon kitschig, aber noch immer wirkungsvoll. Und Augen sahen in Augen, lasen in Gedanken, erkannten sich selbst. Daheim hörte der Abend nicht auf, sondern setzte sich bis tief in die Nacht fort, bis man vor Erschöpfung die Augen schloss, eng umarmt versteht sich. Und dann träumte man davon, wie glücklich man doch sei, und dass man doch alles habe, was das Leben so lebenswert mache. Den Tag darauf waren sie auf der Insel, eine kleine Insel, man vergaß ihren Namen, aber sie war wunderschön. Überall blühende Bäume, wie im Frühling, so bunt, so lebendig. Und man schlang die Hände ineinander, verkeilte Finger an Finger und hielt sich so fest, als drohe man abzustürzen, weil man sich doch fühlte, als stünde man auf dem Gipfel aller Gefühle. Und Lippen trafen Lippen, verschlangen sich mit heißer Leidenschaft, als habe man sich Jahre nicht gesehen. Wenige Wochen später. Der andere Fahrer sei schuld gewesen, hieß es. Er habe die Vorfahrt missachtet und habe den anderen Wagen gerammt, den, der gerade auf dem Weg nach Hause war, wo man noch immer von Inseln und Restaurants träumte. Und der Insasse sei sofort tot gewesen, tot, was bedeutet das eigentlich. Als sie es ihr sagten, ihr, die daheim wartete und die Insel ansah, die nun für immer als Bild über dem Bett hing, da habe sie erst gar nicht reagiert. Tot, wie soll man da reagieren, wie soll man das verstehen. Aber sie habe es verstanden, Tage später, Wochen später, und sie verstünde es noch immer, sagen manche. Aber heute ist der Mann an ihrer Seite nicht mehr tot, er hat nur sein Gesicht gewechselt. Gestern war es ein braunhaariger Mann, heute trägt er schwarze Haare, und er fährt auch keinen silbernen Wagen mehr, sondern einen Roten. Aber auch er besucht Inseln und lädt seine Dame zum Essen ein, wie es sich eben gehört. Und die Insel überm Bett wurde gegen eine andere Insel ausgetauscht, was macht das schon, Hauptsache weit weg von Zuhause. Und vielleicht ist das Restaurant auch keines dieser dieser kleinen Lokale mehr, sondern eines, in denen man eine Krawatte zum Anzug braucht, aber satt wird man auch dort, und auch dort sehen Augen in Augen und treffen sich Lippen mit Lippen, und wenn man nach Hause fährt, dann ist es, als habe es nie etwas anderes gegeben.