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Von Tieren
„Kiwis sind doof“, sagt mein Bruder, während wir vor dem Glaskasten stehen. Drei ausgestopfte Vögel sind darin, zwei große, ein kleiner. Eine Kiwifamilie.
„Sie können nicht fliegen, sie können nicht sehen. Oder nur bei Nacht. Sie sind total sinnlos.“
Ich überlege mir, warum ich unbedingt wollte, dass er mitkommt.
„Kiwis sind so etwas wie die neuseeländischen Säugetiere“, sage ich ihm.
„Wenn man sie hier nicht retten würde, wären in fünf Jahren keine mehr übrig“, entgegnet er.
Ich schweige. Ich mag die kleinen Vögel, die eigentlich gar nicht so klein sind und aussehen wie ein Wollknäuel mit Federn. Und Beinen. Und einem langen Schnabel.
„Kiwis haben kräftige Beine“, erzähle ich ihm. „Sie sind eben Laufvögel, wie Strauße oder Emus. Sie müssen nicht fliegen.“
„Vögel fliegen. Und wenn sie nicht fliegen, sind sie einfach unfähig oder unsinnig oder so.“ Damit dreht er sich weg und betrachtet eine Karte, auf der die Lebensräume der einzelnen Kiwiarten abgebildet sind.
„Wenn ich ein Tier wäre, wär ich wohl ein Kiwi“, erzähle ich ihm, auch wenn er nicht zuhört. „Vielleicht sieht man ja besser, wenn man nicht alles sehen kann.“
„Wenn du ein Tier wärst, wärst du eine Schildkröte“, meint er. „So träge, wie du bist.“
Ich ignoriere seinen letzten Satz. In den letzten Tagen haben wir zu oft gestritten, ich habe keine Lust mehr, mich provozieren zu lassen.
„Ich schwimme aber nicht gern.“
„Es gibt auch Landschildkröten. Das sind übrigens die besonders faulen.“
Mir reicht es. Ich lasse ihn stehen und gehe zu dem nächsten Glaskasten, in dem sich nur ein ausgestopfter Kiwi befindet. Kerryn steht daneben, vor einer koreanischen Familie und unserer Aufseherin.
„Welchem Tier ähnle ich“, frage ich sie auf englisch.
„Einem Panther“, lacht sie mich an. „Du bist eine Raubkatze, groß, schnell und irgendwie dunkel.“
„Ich halte mich für einen Kiwi“, erzähle ich ihr.
„Ich bin ein Kiwi, du bist Deutsche“, sagt sie und zwinkert mir zu.
„Ich bin kein Neuseeländer, ich bin ein kleiner Vogel, der nicht fliegt und fast nichts sieht“, erwidere ich.
„Dazu fehlen dir ein paar Federn“, grinst sie mich an, „Ich sage, du bist ein Panther. Manchmal hast du was Gefährliches. Dann fühl ich mich wie eine Maus vor einer Katze.“
„Wenn wir das Spiel schon spielen, welches Tier wär ich denn?“, will Kerryn wissen.
Ich lege den Kopf schief und grinse.
„Eine Maus?“
„Chhh.“ Kerryn faucht mich an, das tut sie häufig. Und ich weiß, sie wäre gern ein Panther.
„Dann eben eine Katze“, gebe ich nach, „eine der großen, schwarzen, wie heißen sie nochmal?“
Wir lachen beide und folgen dann der Gruppe in den abgedunkelten Raum, wo man drei echten Kiwis Nacht und Busch simuliert. Seltsam, dass alle plötzlich schweigen, um die Vögel nicht zu erschrecken. Es ist kalt, kalt und feucht, und hier und da hört man Geraschel.
Ich lehne mich auf die hölzerne Absperrung und versuche, meine Augen an das Dunkel zu gewöhnen. Mein Bruder steht neben mir und zeigt stumm in eine Richtung.
Einer der Kiwis untersucht die Erde, huscht durch das trockene Laub und die kleinen Farne, die auf dem feuchten Boden vor uns liegen. Ich wede meine Augen nicht von ihm ab, als könnte ich ihn im Zwielicht verlieren. Hin und wieder bohrt er seinen Schnabel in die Erde, hält inne und sucht dann weiter. Außer dem wenigen Geraschel hört man kaum einen Laut, hin und wieder verändert einer der Touristen seine Position, um die anderen Kiwis zu betrachten.
Ich bleibe stehen und beobachte den Vogel vor mir. Er nähert sich der Umzäunung seines Geheges bis auf wenige Zentimeter. Wenn ich mich herunter beugen würde, könnte ich ihn anfassen. Es ist zu dunkel, um die einzelnen Federn zu erkennen, aber seine Silhouette genügt. Darauf kommt es wohl an, wenn man Kiwi ist. Schemen.
Plötzlich blitzt es, und der schnurrende Ton eines Fotoapparates ertönt. Der Kiwi vor mir hält abrupt inne und beginnt, erregt auf und ab zu springen. Die Aufseherin scheucht uns nach draußen und hält dem unbekannten Fotografen eine Standpauke. Wir dürfen nicht mehr zurück.
Später sitzen Kerryn, mein Bruder und ich auf dem Rasen des Stadtparkes und sonnen uns. Die Luft hier riecht nach faulen Eiern, um uns steigen weiße Rauchwolken auf.
„Die meisten Kiwis, die ich in meinem Leben gesehen habe, lagen platt auf der Straße“, meint Kerryn lakonisch. Mein Bruder lacht.
„Ich sag's ja, die Viecher können nichts, was die Ratten in Deutschland nicht auch können.“
„Hey“, meint Kerryn mit gespielter Empörung, „wir haben unsere eigenen Ratten, vielen Dank.“
Ich muss grinsen. Der Gestank um uns war anfangs unerträglich, mittlerweile nehme ich ihn kaum noch war. Geothermische Aktivität, die hier zum Stadtbild gehört. Mein Bruder steht auf und geht zu den Schlammlöchern, die munter vor sich hin blubbern.
„Warum willst du ein Kiwi sein“, fragt mich Kerryn.
„Ich weiß nicht. Ich finde sie faszinierend. Das sind besondere Tiere.“
Kerryn kneift die Augen zusammen und legt den Kopf schief.
„Vielleicht bist du ja mehr Kiwi als ich. Immerhin willst du andauernd hier her. Ich will andauernd hier weg.“
Beides ist uns erst dreimal gelungen.
„In elf Tagen wieder“, sage ich zu ihr, „In elf Tagen sitze ich wieder im Flugzeug, und dann wünsche ich mir wieder jahrelang, ich könnte ein Kiwi sein.“
Kerryn legt ihren Kopf auf meine Schulter.
„Das nächste Mal treffen wir uns bei dir“, sagt sie, und ich höre die Sehnsucht in ihrer Stimme, „wo man zum Abendessen nach Frankreich fahren kann und für ein Wochenende nach Italien.“
Ich denke daran, wie wenig mir das bedeutet und wie gern ich hier bin.
„Ich möchte endlich wieder weg von hier. Hier ist es so abgelegen, fast wie auf einem anderen Planeten.“ Kerryn seufzt. „Die Welt findet wo anders statt.“
Ich verstehe sie.
Denn gerade das ist es, was ich hier mag. Die Abgelegenheit, das Bewusstsein der Isolation, und die neuen Wege, die man gehen kann.
„Und wir haben keine Geschichte. Keine echte Geschichte.“
Ich denke an die uralten Bäume hier, die bei uns schon mehrmals gefällt worden wären, im Lauf unserer Geschichte. Habe ich eigentlich jemals wirkliche Bäume gesehen, bevor ich herkam?
Kerryn lehnt sich zurück.
„Ich sollte viel mehr Deutsch sprechen, wo ihr doch schon mal hier seid.“
Uns ist beiden klar, dass wir auf Englisch schneller und flüssiger sprechen können und dass die Zeit ohnehin zu knapp ist, um alles zu sagen. Und auch zu knapp, um sich gemeinsames Schweigen leisten zu können.
„Können wir über die Weimarer Republik reden?“, fragt Kerryn auf deutsch. Sie hat in zwei Wochen mündliche Prüfungen. Ich bemühe mich, mein Laienwissen von dieser Zeit in einfache Satzstrukturen zu pressen. Zwischendurch erkläre ich ihr Details immer wieder auf Englisch. Dann kommt mein Bruder zurück.
Wenn wir schon zuwenig Zeit für alles haben, können wir sie auch unserer Geschichte opfern. Ich muss sowieso immer wieder zurückkommen. Wir werden uns nie alles sagen können.
Später schlendern wir durch die Innenstadt und bleiben vor einigen Touristenläden stehen. Ich stehe vor Plüschkiwis, Kühlschrankmagnetkiwis, Radiergummikiwis und unzähligen Hosen, T-Shirts und Mützen mit ein und dem selben Motiv.
Kerryn möchte die Preise vergleichen, wir gehen also hinein und schauen uns den Kiwikrempel an.
„Schildkröten werden wenigstens nicht so kommerzialisiert“, meint mein Bruder zu mir, während er sich Schmuckanhänger aus Pauamuschel in Kiwiform anschaut. Es klingt fast entschuldigend.
Panther auch nicht, denke ich und kaufe einen Plüschkiwi. Er ist knuffig und kuschelig und süß und hat mit echten Kiwis nichts gemeinsam.