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Von Wassermenschen und Seerosen
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich mir das mit den Wassermenschen ausgedacht habe, aber ich glaube, es war im Juni. Ich erinnere mich noch daran, dass die Seerosen auf der Wasseroberfläche leuchteten wie weiße und pinke Sterne.
„Hier gibt es Wassermenschen, wusstest du das?“, sagte ich.
Mia verdrehte die Augen. „Laber keinen Mist.“
„Ohne Scheiß. Da … siehst du das nicht?“ Ich deutete auf die Mitte des Sees. „Ein kleiner Wassermann. Mit grünen Haaren.“
„Ich bin kein Baby mehr“, sagte Mia, sah aber trotzdem hin.
Ich zuckte die Schultern und lehnte mich auf der Bank zurück. „Dann erzähl ich dir halt nichts von Ludwig.“
„Ludwig?“
„So heißt der Wassermann.“
„Der Name ist bescheuert", sagte Mia.
Wir saßen auf der Holzbank am See. Zwischen uns lag ein halbes Baguette, das wir von daheim mitgenommen hatten. Mia brach daraus kleine Stücke und warf sie den Enten zu, obwohl auf dem Schild daneben stand, dass man das nicht durfte.
„Was ist mit diesem Ludwig?“, fragte sie nach einer Weile und wischte sich Krümel von der Hose.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Nichts.“
„Jetzt sei nicht beleidigt.“
„Okay.“ Ich beugte mich vor. „Also, der kleine Wassermann heißt Ludwig und am liebsten reitet er auf einem Fisch durch den See.“
Und dann erzählte ich von Ludwig und seinem Freund, dem Fisch namens Blubb.
Ich erzählte, wie die beiden Höhlen erkundeten und durch einen Algenwald ritten, erzählte von Ludmilla, Ludwigs kleiner Schwester, die davon träumte, Wasserballetttänzerin zu werden, von seiner Oma, die die beste Kaulquappensuppe der Welt kochte, und von dem hübschen Wassermädchen Leonie, in das Ludwig heimlich verliebt war.
Wir fuhren jeden Sonntag in den Park, morgens, wenn Mama und Papa noch schliefen. Ich mit meinem Skateboard, Mia auf Inlinern. Und jeden Sonntag dachte ich mir ein neues Abenteuer aus. Ich erfand den einäugigen Karpfen Blindfisch, der das Rezept für die Kaulquappensuppe stehlen wollte, und seine Komplizin, die widerwärtige Unke Gertrud. Am besten gefielen Mia die Zwillingsfrösche Watschi und Batschi, die fast von einem Storch gefressen wurden und sich seitdem nicht mehr aus dem Wasser trauten.
Als Mia nicht mehr Inliner fahren durfte und wir zu Fuß in den Park gehen mussten, erzählte ich, wie Ludmilla wegen einer Schwimmhautentzündung nicht am Tanzturnier teilnehmen konnte. „Sie hat den ganzen Tag geweint“, sagte ich. „Sie wollte nicht mal etwas von der Kaulquappensuppe essen.“
Dann durften wir nur noch an Mias guten Tagen an den See und ich dachte mir immer seltener Geschichten aus. Vor vier Wochen waren wir das letzte Mal dort.
„Gehen wir an den See?“, fragt Mia mich heute. Sie liegt auf dem Sofa, fest in ihre Kuscheldecke gehüllt. Es ist kein guter Tag.
Ich frage Mama und sie sagt „Ja, natürlich“, so wie sie zur Zeit immer „Ja, natürlich“ sagt, wenn Mia etwas will, mit leiser Stimme und einem Blick, als finge sie gleich an zu weinen.
Also packe ich Mia in den Rollstuhl und fahre sie in den Park. Ich habe meine Handschuhe vergessen, meine Finger sind rot und steif, als wir am See ankommen. Ich schiebe Mia zu unserer Bank, setze mich daneben und frage sie zum millionsten Mal, ob ihr kalt sei. Sie verdreht die Augen und schüttelt den Kopf.
Außer uns ist niemand so früh hier, nur ein paar Jogger laufen vorbei. Auf der Wasseroberfläche treiben Zweige, die Seerosenblätter sind von Raureif überzogen und sehen aus wie bleiche Gesichter.
„Was macht Ludwig heute?“, fragt Mia.
„Das darf ich dir nicht sagen.“
„Wieso nicht?“
„Ich hab’s ihm versprochen. Er schämt sich.“
„Komm schon!“
„Na gut. Aber verpetz mich nicht.“ Ich senke meine Stimme. „Ludmilla bringt ihm heute Wasserballett bei.“
Das habe ich gesagt, weil ich dachte, dass es lustig ist. Ich beschreibe Ludwigs tollpatschige Versuche, Pirouetten auf dem Seegrund zu drehen, wie er immer wieder das Gleichgewicht verliert. Doch ich klinge dabei wie unser Mathelehrer, wenn er einen Witz erzählt. Er sagt dauernd „ähm“ und verbessert sich, und am Ende lacht keiner.
Mia lacht auch nicht.
Ich bücke mich, hebe einen Kieselstein auf und werfe ihn ins Wasser. Das dumpfe Platschen klingt laut in der Stille. Ich betrachte die kreisförmigen Wellen, die die Seerosenblätter zum Schaukeln bringen, und Mia fragt: „Was passiert eigentlich, wenn Wassermenschen sterben?“
Die Frage trifft mich mit so einer Wucht, dass sie mir für ein paar Augenblicke den Atem nimmt.
„Ich meine …“, fährt Mia fort. „Kommen sie in den Himmel? Lösen sie sich auf? Werden sie begraben?“
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und schaue auf den See, die leblosen Zweige auf dem Wasser, das starre Schilf am Ufer.
„Nein“, sage ich schließlich, um irgendwas zu antworten.
Mia sieht mich abwartend an. Ich lasse meinen Blick umherschweifen, bis er an den mit Raureif überzogenen Seerosenblättern hängen bleibt.
„Sie werden zu Seerosen“, sage ich.
„Zu Seerosen?“
„Ja, genau“, sage ich. „Sie verwandeln sich. Siehst du all die runden Blätter?“ Ich zeige auf den See. „Das sind die Großeltern und Urgroßeltern und Urururgroßeltern von Ludwig. Sie treiben da auf der Oberfläche und passen auf die Wassermenschen auf.“
Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals und muss schlucken. Ich schlucke mehrmals hintereinander, doch der Kloß geht nicht weg.
„Und wenn die Wassermenschen ihre Verwandten vermissen, dann müssen sie nur auf die runden Blätter schauen. Manchmal schwimmen sie auch nach oben, um mit ihnen zu reden. Ich meine, natürlich bekommen sie keine Antwort, aber sie erzählen einfach alles, was sie auf dem Herzen haben, und …“
Meine Stimme bricht weg.
Mia lächelt. „Das finde ich schön.“
Dann zieht sie die Schultern hoch und schlingt ihre Arme um den Körper. Ihre Lippen sind so grau wie der See. „Mir ist kalt. Gehen wir heim?“
Ich nicke und stehe auf. Als ich den Rollstuhl von der Bank wegziehen will, sagt Mia: „Nächste Woche kommen wir wieder her, oder?“
Ich umklammere die Griffe des Rollstuhls und bringe keinen Ton heraus.
„Oder?“, wiederholt sie und jetzt zittert ihre Stimme.
„Klar“, sage ich. Und plötzlich muss ich an den Sommer denken, die Morgensonne auf der Haut und das Quaken der Frösche, sehe die leuchtenden Farben vor mir, das viele Grün und die weißen und pinken Sterne. Ich sehne mich so sehr danach, dass es wehtut.
Mit einem Ruck ziehe ich den Rollstuhl weg von der Bank. „Klar“, sage ich nochmal. „Klar, auf jeden Fall.“