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Vor der Dämmerung
Die Stunden vor der Dämmerung sind mir die Liebsten. Die ganze Welt scheint dann den Atmen anzuhalten und den Moment zu genießen.
Die Luft ist klarer als sonst irgendwann. Fast wie nach einem Gewitter, wenn die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke brechen und wie goldene Fäden vom Himmel hängen.
Jedes Mal ist mir, als könne ich an ihnen herauf klettern und die Wolken erreichen. Ich liege auf den Rasen und genieße das Gefühl der Grashalme auf meinen Körper.
Diese eine, manchmal zwei, Stunden vor der Dämmerung gehören mir. Mir allein. Niemand darf es wagen, mir diese Stunden zu stehlen.
Ein leichter Windhauch streichelt mir über das Gesicht. Ich schließe die Augen und genieße den Moment.
Unerträglich sind mir die Tage, an denen es regnet. Den ganzen Tag sitze ich dann in meinem Zimmer und bete, dass für meine paar Stunden die Sonne herauskommen würde. Manchmal werden meine stummen Gebete erhört, aber meistens tropft der Regen einfach weiter auf den Rasen und zerstört mir meine Stunden.
Leise Rufe schrecken mich auf. „Kaikai, Kaikai.”
Ich will sie nicht hören. Das sind meine Stunden. MEINE.
Ich verdränge die Rufe. Die Realität wird schnell genug wieder zurück kommen.
Langsam verschwindet die Sonne hinter dem Horizont und der Himmel wird dunkel. Ich stehe auf. Langsam muss ich zurück.
Die Vorstellung ist mir unerträglich. Ich will nicht zurück in mein normales Leben. Ich möchte hier bleiben und einfach alles vergessen.
Die Tatsache wieder in geschlossene Räume zu müssen, macht mich traurig. Die Luft hier draußen ist so wunderbar! So rein und klar.
Leise klingen die Laute der Nacht in meinen Ohren, während ich langsam zurück zum Haus gehe.
Meine Füße streifen durch das feuchte Gras. Kleine Wassertropfen rollen über meine Füße.
Sie kitzeln mich.
Ich drücke mich durch die Hecke und stehe vor meinem Heim. Als erstes blenden die hell erleuchteten Fenster mich, aber ich gewöhne mich schnell an sie.
Ich trete auf den Kiesweg und gehe langsam zum Haus. Es ist riesig und protzig. Das einzig Gute an dem Haus, ist der riesige, parkähnliche Garten.
Der Kies kratzt unter in meine Fußsohlen und kleine Steinchen drücken sich in die Haut.
Ich genieße noch für kurze Zeit den feinen Schmerz, bevor ich die kalte Marmortreppe emporsteige.
Der Marmor ist glatt und ich rutsche leicht aus. Ich spüre keine einzige Lücke oder den kleinsten Ritz in dem Marmor.
Ich verabscheue ihn. So glatt und perfekt. Kein Raum für Fehler. Genau die richtige Einleitung zu meinem Heim und seinen Bewohnern.
Ich trete auf die letzte Stufe und nehme den riesigen Türklopfer in die Hand und klopfe.
Zwei dumpfe Töne erklingen und die riesige Eichentür erzittert leicht.
„Kaikai.” Die schrille Stimme von Nala- meinem Kindermädchen- ertönt, als sich die Tür öffnet.
Sie zieht mich schnell ins Haus. Die große Eingangshalle ist hell erleuchtet. Die Lichter blenden mich.
Ich stehe auf dem weichen Teppich. Er ist flauschig. Ich kreise langsam mit dem Fuß über ihn.
Nala zieht mich die Treppe hoch. Meine nackten Füße hinterlassen leise Platschtöne.
Oben zerrt sie mich in mein Zimmer und schließt schnell die Tür. Kopfschüttelnd betrachtet sie mich.
„Nala”, beschwere ich mich, „ AU! Du tust mir weh.”
„Hört auf rumzumeckern. My Lady. Wenn ihr so durch den Garten tobt, müsst ihr das aushalten.”
Und mit einem Ruck zieht die mir den Kamm durch das Haar.
Mit einem spitzen Schrei fahre ich hoch. Aber Nala drückt mich sofort wieder auf den Hocker.
„Seid still”, faucht sie mich an, „oder wollt ihr, dass Euch jemand hört?”
„Nein”, kreische ich fast.
Wenn meine Mutter erfahren würde, dass ich mich jeden Abend in den Garten schleiche…
Bei der Vorstellung schüttelt es mich. Meine Mutter war gut, aber auch ziemlich streng, wenn es darum ging, was Frauen zu tun und zu lassen hatten.
Meine große Schwester Nyela durfte das Haus nur in Begleitung mehrerer Diener und Zofen verlassen.
Das währe kein Leben für mich. Ich brauchte meine Ruhe und Zeit zum Nachdenken.
Aber ich weiß, dass dieses Leben auch zu mir kommen würde. In ein paar Jahren, wenn ich alt genug bin um zu heiraten, wird dieses Leben mich einholen.
Von diesem Leben träume ich jede Nacht und es sind keine guten Träume.
Nala zieht mich von dem Hocker und schuppst mich sanft in das Badezimmer. Mein Haar ist jetzt ganz glatt und weich. Ich streiche darüber. Es geht mir bis zur Hüfte.
Nala zieht mir mein dünnes Sommerkleid aus und ich setzte mich in die Badewanne. Das warme Wasser umschmeichelt meine Haut. Es fühlt sich gut an.
Ich schließe die Augen.
Aber Nala lässt mir keine Zeit, dass Bad zu genießen. Sie schrubbt meine Füße und wäscht mein Haar.
Kopfschüttelnd pult sie die Steine aus meinen Füßen.
„Gute Nacht, My Lady.” Sie drückt mir einen flüchtigen Kuss auf den Kopf und zieht meine Decke hoch.
Ich liege frisch gebadet in meinem Bett und merke, wie müde ich bin. Ich schließe die Augen und schlafe sofort ein.
Nala schließt leise die Tür hinter sich. Es ist inzwischen weit nach Mitternacht. Sie ist müde und erschöpft von der Arbeit am Tag.
Sie geht leise die Treppe hinunter und läuft in die Küche.
In der Küche brennt ein Feuer und ein paar andere Mädchen sitzen daneben und unterhalten sich leise.
Nala setzt sich daneben und hört ihnen einfach zu.
Sie reden über ihre getane Arbeit und tauschen den neuesten Klatsch über die Familie aus.
Nala kann sich nicht so recht konzentrieren. Heute hätte die Herrin fast gemerkt, dass Kaikai nicht da war. Nala hatte sie gerade noch so davon abhalten können, in das Zimmer zu stürmen.
Nala hatte furchtbare Angst gehabt und war in den Park gerannt und hatte nach Kaikai gerufen aber niemand hatte geantwortet.
Zum Glück war der Herr des Hauses dann gekommen und hatte die Herrin mit auf einen Ausflug genommen.
Das Feuer war runtergebrannt und viele der Mädchen waren schon in die Dienstbotenunterkunft gegangen.
Nala erhob sich und ging zu der Hintertür. Sie öffnete sie und trat hinaus in die Nacht. Die Luft war wunderschön.
Sie ging durch den Hinterhof zu dem Haus, wo die Diener und Wachen wohnten. Es stand einige hundert Meter entfernt von dem Herrenhaus.
Nur die weiblichen Angestellten durften in der Nähe der Familie schlafen.
„Ist Jochen da?”, fragte sie leise, als Hiko ihr die Tür öffnete.
Er antwortete nicht, sonder ließ sie einfach rein kommen. Das hieß ja. Hiko redete nicht viel. Eigentlich hatte Nala ihn noch nie sprechen hören.
Sie ging zu Jochens Zimmer und öffnete leise die Tür.
Jochen lag auf dem Bett und schlief. Durch sein Fenster schimmerte Mondlicht und tauchte das Zimmer in Silber.
Sie schloss die Tür und ging zu seinem Bett.
Nala strich Jochen sanft über die Wange. Sie fühlte die sanften Bartstoppeln unter ihren Berührungen.
Sie schob ihn ein wenig zur Seite und legte sich neben ihn. Sie drückte sich an ihn und schloss die Augen.
„Liebling, Liebling wach auf.” Nala vernahm Jochens sanfte Stimme und spürte seine Hand in ihrer.
Nala öffnete die Augen. Jochen hatte sich über sie gebeugt und blickte sie an.
„Hallo”, hauchte sie.
Zur Antwort küsste er sie. Nala vergaß alles um sie herum und zog ihn näher zu sich heran.
Mit einem Schrei fuhr ich hoch. Ich renne zum Fenster und reiße es auf. Ein Windstoß lässt die weißen Gardinen fliegen.
Keine Gitter, keine Gitter, beruhige ich mich selber.
Aber es hilft alles nichts. Mein Herz rast und mein Atem geht stoßweise.
Ich laufe zur Tür und reiße sie auf. Im Haus ist alles ruhig und ich renne die Treppe runter und öffne die Eichentür.
Der Wächter schaut mich etwas verwundert an, aber er wird nichts sagen.
Ich springe die Marmortreppe herunter und stürze zur Hecke.