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vorgespult
Matthias steckte in aller Eile zwei Scheiben Toast in den Toaster, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und warf einen schnellen Blick auf den Leitartikel der Tageszeitung. In dicken Lettern stand dort geschrieben: "Misteriöse Unfallserie fordert 3 Todesopfer!"
"Typisch", dachte er bei sich. Der Schreibfehler in der Headline passte ebenso sehr zum qualitativen Ruf des Blattes wie der Fehler im Datum, den er jetzt erst bemerkte. Nun, am Abend würde er mehr Zeit haben, sich dem Artikel zu widmen, hatte er doch heute morgen den Wecker wieder mal zu oft ein bisschen weiter gedreht.
Die Zeitung zusammenfaltend, beendete er das Frühstück und machte sich auf den Weg ins Büro.
Wie an jedem Morgen begann Klaus seinen Arbeitstag damit, die Stelle auf dem Gehweg, an der er heute arbeiten wollte, akribisch abzusichern. Warnpylonen und Baken in leuchtenden Farben, rot-weisses Flatterband - niemand sollte durch einen unbedachten Tritt auf die falsche Stelle zu Schaden kommen. Kurz überlegte er, wie viele Meter Flatterband er in den letzten 26 Jahren verbraucht hatte. "Quatsch!" Für solche philosophischen Fragen blieb ihm nicht genügend Zeit in seinem Job. Er öffnete den Gullideckel, prüfte noch einmal die Funktion seiner Taschenlampe und stieg langsam hinab.
"... und Milch brauche ich auch noch." Helga schrieb einen weiteren Posten auf ihren Einkaufszettel. Früher hatte sie keinen gebraucht, aber in den letzten Jahren war sie ein wenig vergesslich geworden, und auch die Augen bereiteten ihr zunehmend Probleme. Weit streckte sie den Zettel von sich, während sie noch einmal ihre Notizen überprüfte. Nein, vergessen hatte sie dieses Mal nichts, und so nahm sie ihren Mantel und ihren Einkaufskorb und verliess die Wohnung.
"Tschüss, Mama!" Benjamin zog die Haustür zu. Endlich war er nicht mehr von seinen Eltern abhängig, hatte vor zwei Wochen den Führerschein bestanden und sich mit seinen Ersparnissen und der freundlichen Unterstützung seiner Großmutter seinen ersten Wagen gekauft, einen gebrauchten, dessen beste Jahre sicherlich schon ein Weilchen zurücklagen. Dafür war er preiswert gewesen, und es war sogar ein wenig Geld übrig geblieben, das Benjamin in Radio, Verstärker und Boxen investieren konnte. Er schloss den Wagen auf, setzte sich hinein, startete Motor und Soundanlage und rangierte schwungvoll aus der Parklücke. Das Scheppern an seinem Heck ging in den kräftigen Bässen seines Lieblingsliedes komplett unter.
Klaus hörte einen Motor aufheulen und nahm selbst in drei Metern Tiefe die Vibrationen der lauten Musik wahr. Er schüttelte leicht verärgert den Kopf. Immer mussten diese Jugendlichen so einen Radau veranstalten. Aber was konnte er schon daran ändern? Resignierend wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Das hässliche Knirschen nahm er wohl wahr, hielt es jedoch nicht für wichtig. Im nächsten Moment traf ihn die von oben herabstürzende Warnbake im Nacken. Dunkelheit hüllte ihn ein. Dass er in den Abwasserkanal stürzte, nahm er ebenso wenig wahr, wie die Tatsache, dass der Rest seiner Baustellenabgrenzung - vom verhedderten Flatterband mitgerissen - der Warnbake folgte.
Den Weg zu ihrem Stammgeschäft kannte Helga natürlich längst auswendig. Das war auch gut so, denn mit der kleinen Schrift auf den Straßenschildern hatte sie schon seit Jahren große Mühe. Sie war jedoch zu eitel, um sich einzugestehen, dass es an der Zeit war, über eine Brille nachzudenken. So ging sie auch heute wieder mit leicht zusammengekniffenen Augen durch die Stadt, stets darauf bedacht, niemandem in die Quere zu kommen. Dass sie die Öffnung im Gehweg übersehen hatte, bemerkte sie erst, als sie ins Leere trat. Zeit zum Schreien blieb ihr nicht mehr, der Aufprall kam ihr zuvor.
Jeden Tag fuhr Matthias die gleiche Strecke zum Büro. Lange schon hatte sich dabei Routine breitgemacht, so dass er sich immer wieder dabei ertappte, wie er seinen Blick von der Straße abschweifen liess. Irgendwann, so dachte er amüsiert, würde die Technik in den Autos so fortschrittlich sein, dass er gar nicht mehr wach sein müsste, um zur Arbeit zu fahren. Just in dem Moment, in dem er wieder einmal die Fussgänger beobachtete, die neben der Straße vorbeihasteten, verschwand einer davon plötzlich. Matthias erschrak, schaute genauer hin, doch die Gestalt blieb verschwunden. Den kleinen Schlenker, den er fuhr, bemerkte er gar nicht. Was er sehr wohl bemerkte, war die Hupe des LKW, auf den sein Wagen nun zusteuerte - doch zum reagieren war es schon zu spät.
Seit 12 Jahren schon war Wilhelm Redakteur bei der Tageszeitung, und noch immer weigerte er sich, den Sieg der Technik über den freien Willen des Menschen zu akzeptieren. So sass er auch an diesem Nachmittag wieder über seinen Artikeln und kontrollierte sie selbst, anstatt sie durch die Rechtschreibprüfung seines Computers laufen zu lassen. Dabei faszinierte ihn besonders der Leitartikel über eine Unfallserie mit 3 Todesopfern. Erneut las er den Artikel durch. Mitgefühl konnte er sich als Reporter nicht erlauben, aber dieser Fall war so tragisch, dass er ihn nicht losliess. Den Fehler in seiner Überschrift indes übersah er versehentlich.