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Vorhof zur Hölle
Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Michael Gerald. Er musste jede Nacht um viertel vor zwei mit der letzten U-Bahn fahren. Er machte sich Gedanken, ob der, wie die Zeitungen ihn nannten, schwarze Mann ihn erwischen würde. Nachts an der U-Bahn-Haltestelle, wo er lauerte und wartete, um wieder ein Opfer für seine Vor-die-U-Bahn-Schmeißerei zu finden.
Michaels Boss war ein Schweinehund sondersgleichen. Überstunden, Überstunden jeden Tag. Michael stand an der Haltestelle und rauchte seine Zigarette. Er hatte damals nicht gewusst, was es heißt Anwalt zu sein, nämlich jede Menge Arbeit. Nicht einmal die Wochenenden konnte er zu Hause verbringen, bei so vielen erledigungsbedürftigen Aufträgen, die er bekam. Ein leichter Luftzug wog seine Haare. Außerdem hatte er sich viel mehr Lohn versprochen. Zweiundzwanzig Piepen die Stunde, was für ein Hungerlohn, wie wahr.
Genüsslich zog er an seiner Zigarette. Tatsache war: Er war vollkommen unzufrieden mit seinem Job. Das Geld reichte ihm, schließlich lebte er alleine in einem zwei Zimmer Apartment, dessen Vermieter genauso ein Schweinehund in Sachen Geld war, wie sein Boss.
Unzufrieden…vollkommen.
Die Glut seiner Zigarette hatte den Schriftzug erreicht. Er schnippte sie auf die Schienen. Sofort hatte er Verlangen nach einer weiteren Kippe. Michael senkte etwas den Kopf. Sein Nacken schmerzte. Den ganzen, lieben langen Tag war er vor seinem Laptop gesessen und hatte Berichte geschrieben und Beweismittel aufgelistet.
Er traute sich nicht, seinen Boss zu bitten, ihm eine Gehaltserhöhung zu geben oder ihn einer anderen Abteilung zuzuordnen.
Hinter ihm hallten Schritte auf Marmorboden.
Der schwarze Mann, alarmierte ihn sein Verstand. Scheiße.
Trotz seiner Angst blieb er stehen und bewegte sich nicht.
Dann fand er doch den Mut sich umzudrehen.
Nur eine Frau. Nicht der schwarze U-Bahn-Killer-Typ. In den Händen hielt sie mit umschlossenen Fingern ihre rote Handtasche, passend zu ihrem roten Kleid und ihrem roten Lippenstift, und ihr Handy. Falls der schwarze Mann auftauchen sollte, könnte jemand zumindest die Polizei verständigen.
Wieder Schritte hinter Michael. Er machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen, sollte hinter ihm etwas Spektakuläres passieren, würde er es auch so früh genug mitbekommen.
Die Person kam näher. Näher…noch näher…ganz nahe. Die U-Bahn kam. Pfeifend rollte sie wie eine stählerne Raupe durch das verzweigte Tunnelsystem. Der Bahnführer bremste ab, bereitete sich auf das Anhalten an der Haltestelle vor. Klack!
„Ah!“ Michael wurde nach vorne gestoßen, sein Rücken wurde an seinem Rückgrat durchgedrückt, er sah aus wie eine menschliche Banane. „Scheiße!“, konnte er noch schreien, bevor hinter ihm die Frau erschrocken kreischte und er mit der Stirn auf die Schiene aufschlug.
Die U-Bahn kam näher…bedrohlich näher. Die Bremse wurde nun vollkommen gezogen, Quietschen hallte durch den Tunnel, die Frau rannte davon, ließ ihre Handtasche und das Handy fallen.
Kurz bevor Michael ohnmächtig wurde, erkannte er ein Gesicht, dass von oben auf ihn hinab sah. Ein mit schwarzer Tarnfarbe bemaltes Gesicht, dessen Augen blinzelten und ihn fasziniert ansahen. Der Zug löschte dieses letzte Bild und Michael Geralds Leben aus.
Schweißperlen, die seine Schläfen hinabglitten kitzelten Michael und weckten ihn. Die Ohnmacht hatte sich von ihm gelöst. Sein Verstand funktionierte wieder. Wieso schwitzte er so? Es kam ihm vor, als würde er einen ganzen See schwitzen.
Er öffnete langsam die Augen. Blinzelte. Sah erst alles verschwommen, dann konnte er alles erkennen, zumindest das, was über ihm war. Tropfsteine hingen in rötlichem Licht von der Decke herab.
Rot. Was war mit diesem Rot? Rot reimt sich auf tot.
Er hatte Kopfschmerzen, von innen pochte sein Gehirn gegen die Schläfen, seine Augen schienen aus den Höhlen hervorzuquellen, sein Mund war trocken, als hätte er eine handvoll Sand gegessen.
„Caine!“, schrie eine schrille Stimme. „Caine!“
Das half seinen Kopfschmerzen nicht. Er musste unbedingt etwas trinken. Eine Portion Erdnussbuttertoast wäre auch nicht schlecht. Vielleicht sogar ein Aspirin als Dessert.
„Caine, du verdammter Hurensohn! Wo steckst du, gottverdammt?!“ Eine kurze Pause trat ein. „Verfickt und zugefeuert! Anthony Caine! Anthony Caine! Bitte melden!“
Michael setzte sich auf. Nun konnte er mehr sehen. Eine Höhle, rot ausgeleuchtet mit Hilfe von Fackeln. Er selbst saß hinter einem Felsen und rieb sich die Stirn. Etwa zwanzig Meter vor ihm befand sich ein riesiges Tor aus Metall; geschlossen. In der Mitte der großen Halle lief ein kleiner Typ im Kreis und blickte auf das Klippbrett, das er in der rechten Hand hielt. Aber das Seltsame war, dass dieser Typ rot war und kleine Hörner sich auf seinem Kopf befanden. Ungefähr zehn Stück. Sie glänzten im Feuerschein. Ein Schwanz räkelte sich aus dem Hintern des Kerls und kreiselte nachdenklich umher. Er trug nicht mehr als Lumpen um die Hüften. Da drehte er sich um und sah Michael an.
„Caine, du gottverdammtes, hinterlistiges Arschloch!“, rief er aus und kam auf Michael zu, der immer noch am Boden saß und verwirrt den roten Zwerg mit den Hörnern auf dem Kopf anstarrte. „Wieso versteckst du dich denn in der verficktesten Ecke?“ Mit hochgezogener Augenbraue über dem Auge, in dessen Pupille Flammen loderten, sah der Zwerg ihn an. „Los, steh auf!“ Der Befehlston gefiel Michael überhaupt nicht. „Na los, oder soll ich dir Feuer unterm Hintern machen?“
Plötzlich konnte er die Wärme an seinen Pobacken spüren und entschloss sich, dass es besser für sein Gesäß wäre, aufzustehen.
„Wo bin ich…?“
„In der Hölle.“ Gelangweilt, beiläufig.
„Wa…?“
„Mörder, Vergewaltiger, Dieb und Gotteslästerer, dachtest du, du kommst in den Himmel?“ Schockiert sah der kleine Kerl Michael an.
„Was?“
„Joah.“ Ein komischer Laut aus dem Mund eines komischen Kerls. „Die Prozedur: Finger abhacken, Füße von Kannibalen verspeisen lassen, Zähne ziehen, Kopfhaut runterreißen und wieder von vorne.“
„Was?“, fragte Michael verwirrt und verängstigt.
„Die Hölle ist Wiederholung, noch nie was davon gehört?“ Pause. Ohne seine Antwort abzuwarten, sprach der rote Typ mit der Liste in der Hand weiter. Es schien so, als würde er Selbstgespräche führen. „Du wirst Nummer- scheiß drauf. Die Zahl kann ich nicht einmal aussprechen!“
„Wer ist Caine?“, fragte Michael ohne großes Interesse.
„Du, Arschloch.“
„Nein, nein, nein.“
„Doch, doch, doch“, gab das Teufelchen sarkastisch zurück.
„Ich bin Michael Gerald.“ Erleichterung breitete sich in ihm aus.
„Nicht Anthony Caine?“ Jetzt schwang etwas Verwirrung in seiner Stimme mit. „Was willst du dann hier? Ich warte auf einen Caine und nicht auf einen gottverdammten Gerald!“
„Ich…“
„Egal! Nehme ich eben dich. Interessiert ja auch keinen, ob du jetzt Caine oder Gerald heißt.“
„Doch, mich!“
„Du bist uninteressant. Wenn du hier bist, ist im Himmel jetzt Caine. Fertig. Schluss. Das war’s! Nicht mein Problem. Schlachtet dieser Caine eben im Himmel weiter, du bist jedenfalls hier. Außerdem hat dieses Arschloch sowieso nur Leute vor Züge geschmissen!“
„Tauschen Sie mich aus“, sagte Michael.
„Gott ist der einzige, der das kann, aber der lässt sich auf so miese Geschäfte gar nicht erst ein und kommt nur alle Zilliarden Jahre hier runter, bis dahin musst du dir wohl Finger abhacken, die Füße fressen und Zähne ziehen lassen. Ach, die Kopfhaut abreißen nicht zu vergessen.“
„Gibt’s hier keine Ordnung? Gerechtigkeit?“
„Nö, nur mich, die anderen und den Teufel, den Boss. Vielleicht freundest du dich mit Jack an, ist ein netter Kerl. Mit ihm kann man gut plaudern, vor allem über Frauen.“
„Jack?“
„Ripper, du weißt schon.“ Er hob eine Hand, ballte sie zur Faust und tat so, als würde er mit einem Messer etwas niederstechen. „Jack the Ripper.“
„Ich will da nicht rein“, sagte Michael hysterisch.
„Jetzt kommt das wieder!“, seufzte der kleine, rote Kerl. „Komm schon, mach keinen Scheiß, alle tausend Jahre komm ich vorbei und wir trinken ein Bier, okay, ist das ein Deal?“
„Nein!“ Er wollte rennen, konnte sich jedoch keinen Zentimeter von der Stelle bewegen.
„Nein!“
„Doch.“
Unweigerlich marschierte er auf das Metalltor zu. Es öffnete sich. Dort lag ein Typ mit Hut und Umhang, dessen Penis von einer blutbeschmierten Frau mit einem Messer abgeschnitten wurde. Jack the Ripper. Dort eine Frau, deren Baby aus ihrem Bauch entfernt wurde. Eine Horde Kannibalen machte sich über einen etwa sechzehnjährigen Jungen her, der um Hilfe schreiend in vier Teile gerissen wurde.
„Auch Götter können irren. Jesus hängt auch irgendwo hier unten rum“, sagte das Teufelchen und eine Frau mit einer Schere in der Hand schnappte sich Michaels Hand. Schnapp!