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Vormachen – Nachmachen
Gnadenlos brennt die Sonne auf die Felder hinab und lässt die Luft flirren. Bei einem Storchenmast sitzt Benny im Gras und starrt auf einen Käfer. Ein Stück neben ihm liegt Lisa und stellt sich tot. Grillen zirpen. Bennys Gesicht ist gerötet, und Schweißtropfen kriechen ihm aus den Haaren über das Gesicht und in den Nacken. In seinem Kopf pulsiert Schmerz, und seine Kehle fühlt sich trocken und wund an.
„Benny.“
Der grünlich-schwarz schimmernde Käfer, der wankend wie ein Schiff über das unebene Meer von Halmen und Stielen krabbelt, spricht zu ihm. Nein, Käfer konnten doch gar nicht sprechen. Benny schaut zu Lisa, aber sie liegt unverändert da, die Arme und Beine abgewinkelt, das Gesicht teilweise von den Haaren verdeckt. Ist die Stimme vielleicht nur in seinem Kopf gewesen? Jedenfalls wird Lisa so lange liegenbleiben, bis er sie nachmacht.
Lisa war älter als Benny, aber das einzige andere Kind in der kleinen Ferienhaussiedlung am Rande des Dorfes, darum hatten sie sich angefreundet. Eins ihrer Spiele, das besonders sie mochte, war Vormachen – Nachmachen.
Lisa hatte Benny einmal erzählt, dass ihre Eltern sich getrennt hatten und sie seitdem bei ihrem Vater lebte, weil ihre Mutter zuviel Alkohol trank und nicht damit aufhören konnte. Aber ihr Vater behandelte Lisa schlecht: Sie musste sich um den ganzen Haushalt kümmern, und wenn sie etwas falsch oder nicht schnell genug machte, schlug er sie.
Heute hatte Lisa neue blaue Flecken und sah nicht nur traurig, sondern auch irgendwie alt aus. Also schlug Benny vor, Vormachen – Nachmachen zu spielen, mit ihr als Vormacherin, von ihm aus den ganzen Tag lang.
Erst hatte Lisa keine Lust, doch dann kletterten sie auf Bäume, kullerten sich totstellend Sandhügel hinunter, sprangen über den Fluss, drangen in die halb verfallene Scheune ein, öffneten heimlich Hühnergehege, klauten im Kiosk Lollis, legten sich auf die Gleise, bis sie das Vibrieren des nahenden Zuges in den Halswirbeln spürten, und vieles mehr. Lisa wirkte bald fröhlicher, aber auch wie besessen, und machte keine Pause, obwohl Benny wegen der Hitze Durst bekam. Als er auch hungrig wurde, das Zeitgefühl verlor und diese Kopfschmerzen einsetzten, machte er nur noch widerwillig mit. Aber Lisa bettelte ihn an, weiterzumachen.
Draußen begegneten sie kaum jemandem, und schließlich kamen sie zu dem Storchenmast. Lisa kletterte die Sprossen hinauf und setzte sich oben in den Korb. Das sah komisch aus, als wäre sie ein Vogelmensch, und Benny lachte. Doch plötzlich hatte er Angst, dass sie Flügel ausbreiten und einfach wegfliegen könnte, und ihm wurde schwindelig. Er setzte sich hin und entdeckte den Käfer. Irgendwann erklang der Laut von etwas Schwerem, das ins Gras fiel, und da lag Lisa.
„Na guut“, krächzt Benny, wendet seine brennenden Augen vom Käferschiff ab und steht auf. „Aber dann …“ Die Welt schwankt, und das Pulsieren in seinem Kopf schwillt an, als würde ein fetter Wurm wütend Happen aus seinem Gehirn herausbeißen. Er streckt die Arme aus und wartet, bis beides nachlässt. „Aber dann gehen wir wirklich zurück, ja?“ Er will in die Richtung des Dorfs zeigen, aber weiß auf einmal nicht mehr, wo es ist. Oder doch: hinter diesem Waldstück in der Ferne? „Weil irgendwie fühl ich mich echt nicht so gut.“
Lisa reagiert nicht, und er geht über den merkwürdig weichen Boden an ihr vorbei. Je schneller er sie nachmacht, desto eher können sie endlich nach Hause. Benny wischt sich den Schweiß von der Stirn und fängt an, den Mast hinaufzuklettern.