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Vorstellungskraft
„Ich hasse dich!“, kreischte Agnes und fuchtelte mit ihren dünnen Ärmchen herum, die wie aufgeschreckte Tauben aussahen. „Du bist nicht mehr meine Freundin!“
Ein paar Sekunden lang kämpfte das Mädchen mit den Tränen, behielt die Oberhand und stürmte aus ihrem Zimmer in die Küche.
„Um Himmels willen! Was –“, begann ihre Mutter und verstand sofort, als sie in die grünen Augen ihrer Tochter blickte. Ein tiefes Seufzen entfuhr ihr. „Ich telefoniere mit Papi, Schatz.“
Agnes stand mit zitternden Lippen vor ihr und schien die Worte erst in eine ihr bekannte Sprache übersetzen zu müssen.
„Entschuldige, Mark“, sprach sie gepresst ins Handy und stellte den Kaffeebecher ab, den sie in der anderen Hand gehalten hatte. „Ja, das war Agnes. Sie hatte wieder Streit.“
Dabei sah Verena das Mädchen ernst an, darum bemüht, nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen. „Was? Ja. Moment.“
Sie hielt das Handy ihrer Tochter entgegen. „Dein Vater möchte mit dir reden.“
Verena strich sich eine Haarsträhne zurück und versuchte, möglichst ruhig zu wirken. Tatsächlich brodelten Sorgen und Ängste in ihrem Innersten und erzeugten einen unheilvollen Cocktail, der sie wohl auch diese Nacht lange wach halten würde. Hatten sie in der Erziehung irgendeinen Fehler begangen?
„Ja, ich weiß“, hörte sie Agnes so leise und resignierend sagen, dass es ihr schier das Herz brach. „Aber Tara hat ganz gemeine Dinge gesagt.“
Die Frau atmete scharf ein und drehte sich zum Fenster um. Dünne Nebelschwaden krochen wie hungrige Wölfe über die Felder und Straßen und hatten die meisten Nachbarhäuser verschluckt. Nur schwach waren die Lichtkegel der Natriumdampflampen zu erkennen.
„Okay, ich verspreche es“, hörte sie hinter ihrem Rücken und schloss kurz die Augen, um sich eine angenehme Erinnerung zu vergegenwärtigen. Sie erblickte sich selbst in einem sterilen Krankenhauszimmer, das sie angesichts des Babys in ihren Armen für den schönsten Ort der Welt gehalten hatte.
Verena riss die Augen auf und wirbelte herum, als sie jenes Baby zehn Jahre später sagen hörte: „Tara will dich töten, Papi!“
***
Markus Sowetz hing dermaßen fest in seinen Gedanken, dass er beinahe die Abfahrt von der Autobahn verpasst hätte. Nieselnder Regen wehte über die Frontscheibe. Monoton quietschten die Wischerblätter über das Glas. Die Mischung aus Müdigkeit nach den langen Geschäftsmeetings und der Sorge um Agnes zermürbte ihn. Es fiel ihm ein ums andere Mal schwerer, bei Vorstandssitzungen oder Geschäftsreisen die Maske des unbeirrbaren Machers aufzusetzen, der alles im Griff hatte. Oder wie es im Business-Jargon hießt: Der die Business Intelligence anhand problemorientierter Lösungen erhöhte.
Das Einzige, was er tatsächlich völlig im Griff hatte, war das Lenkrad, das er verkrampft wie ein Schiffbrüchiger einen Rettungsring umklammert hielt. Noch vor ein paar Jahren hatte er angenommen, selbst der Himmel würde nicht die Grenze seiner Träume darstellen. Aber damals war er auch noch emsig die Karriereleiter hinaufgeklettert und hatte dabei sogar des Öfteren mehrere Sprossen auf einmal übersprungen. Inzwischen kämpfte das Unternehmen mit Liquiditätsengpässen, die sich als Sackgasse für viele einstige Kollegen erwiesen hatten. Zu allem Überfluss hatte seine Ehe mit Verena unter den Belastungen gelitten und seine Tochter …
Mark atmete tief durch, aber der Druck auf seinem Brustkorb verringerte sich nicht. Er brauchte eine Zigarette. Um diese Zeit war nicht mehr viel los und er konnte es durchaus wagen, den Blick von der Straße zu nehmen, um im Handschuhfach zu kramen. Immerhin hatte er es fast eine Woche ohne Glimmstängel geschafft. Da war es legitim, sich für diese Leistung selbst zu belohnen.
Er öffnete das Handschuhfach, welches einen Schwall Unterlagen und allerlei Krimskrams enthielt. Mark schaltete das Innenlicht ein und stocherte mit der Hand im Fach.
„Tara will dich töten, Papi“, echote Agnes’ Stimme in seinem Verstand und es lief ihm kalt den Rücken runter. Ein Gefühl, das er zuletzt bei einer großen Betriebsversammlung verspürt hatte, als die Mitarbeiter über „Strukturbereinigungsmaßnahmen“ informiert und danach zu Dutzenden nach Hause geschickt worden waren. Allerdings hatte sich dieses unangenehme Gefühl der Beklemmung nach Bekanntgabe der zu Bereinigenden wieder gelöst. Ganz im Gegensatz zu diesem Abend.
Endlich meldeten seine Finger Kontakt mit einer angebrochenen Packung Marlboro. Er fischte eine Zigarette heraus. Der Filter hinterließ einen unangenehm abgestandenen Geschmack auf seinen Lippen, ähnlich den absurden Vorschlägen, die die Konzernleitung bei der letzten Sitzung unterbreitet hatte.
Der Regen wurde stärker. Wütend prasselten kapitale Tropfen gegen die Scheibe. Die Wischblätter sausten noch emsiger von einer Seite auf die andere.
Als Agnes vor einem Jahr eine imaginäre Freundin ersonnen hatte, waren die Dinge noch nicht völlig aus dem Ruder geraten. Gewiss: Der Arbeitsstress verbunden mit enormem Leistungsdruck und der steten Rute im Fenster hatten ihn meist müde und abgespannt nach Hause geführt. Aber er hatte wenigstens noch Momente der Entspannung, der Freude an einem oberflächlich intakten Familienleben genießen dürfen. Doch selbst diese kostbaren Augenblicke waren inzwischen Relikte einer Vergangenheit die so weit zurücklag, dass selbst ein Archäologe Probleme mit der korrekten Datierung bekommen hätte.
Vorsichtig zog er den Zigarettenanzünder heraus und steckte sich die Zigarette an. Der erste Zug füllte seine Lungen mit einer längst vergessen geglaubten Ahnung von innerer Ruhe.
Er hatte von Beginn an ein mulmiges Gefühl verspürt, als Agnes plötzlich mit jemandem zu sprechen begonnen hatte, der gar nicht existierte. Verena hatte unfassbarer Weise mit Verständnis auf das merkwürdige Verhalten ihrer Tochter reagiert, anstatt sofort eine Kinderpsychologin zu konsultieren.
„Das ist doch völlig normal bei Kindern“, hatte sie ihn zu beschwichtigen versucht. Aber er hatte nicht die Dinge laufen lassen, sondern das Heft in die Hand genommen. Allerdings ohne Erfolg, wie er sich zerknirscht eingestehen musste. Wenigstens hatte seine Frau inzwischen den Ernst der Lage begriffen und psychologische Unterstützung eingeholt.
Er bremste in der Kurve etwas zu spät und rutschte auf dem nassen, laubbedeckten Boden beinahe aus. Der Wagen riss kurz nach links aus, ehe Markus die Kontrolle zurückerlangte. Augenblicklich ordnete er sich wieder in die rechte Spur ein.
„Wenn jetzt ein Wagen aus der Gegenrichtung gekommen wäre“, dachte er geschockt und schaltete nach der Schrecksekunde das Radio an, um sich abzulenken.
Dann schob er den Aschenbecher heraus und klopfte die Zigarette daran ab.
Leute, die alles im Griff hatten, sahen anders aus. Sie hatten nicht bei jeder Kleinigkeit Streit mit ihrer Gattin, ihre Kinder bildeten sich keine unsichtbaren Freunde ein und sie blickten voller Zuversicht, nicht ängstlich in die Zukunft.
Er lauschte dem Gedudel aus dem Radio und konzentrierte sich auf die Fahrbahn. Auch wenn er es nicht zugeben wollte: Die Worte seiner Tochter hatten ihn stark verunsichert. Er würde ein ernsthaftes Gespräch mit ihr führen müssen. Wie kam ein zehnjähriges Mädchen bloß auf die Idee, ihren eigenen Vater dermaßen zu erschrecken? Ob Verena dahinter steckte? Vielleicht hatte sie eine Affäre und bastelte mit ihrem Geliebten bereits an der Scheidung. Wenngleich Verena keine Leuchte der Menschheit darstellte, verfügte sie über jene gewisse Schläue, die man Frauen nachsagte. Sie hatte mehr als genug Zeit, um Agnes gegen ihn aufzuhetzen, ihr einzubläuen, dass ihr Papi böse und gemein sei.
Markus schnappte nach Luft. Das waren nicht bloß ein paar paranoide Pferdchen, die mit ihm durchgingen, das war bereits eine ausgewachsene Stampede! Dennoch waren diese Gedanken nicht gänzlich von der Hand zu weisen. In Punkto Einfallsreichtum standen wütende Ehefrauen verliebten Jungs in nichts nach.
Eine scharfe Rechtskurve lag vor ihm. In jenem Augenblick, în dem er die Geschwindigkeit verringern und einen Gang runterschalten wollte, blickte er in den Rückspiegel. Etwas blendete ihn eine Sekunde lang. Lange genug, das Steuer zu verreißen und wie im Zeitraffer von der Straße abzukommen, die Leitplanke mit dem schweren Volvo mühelos zu durchbrechen und die Böschung hinunterzurollen. Markus trat fast wahllos die Pedale durch, aber er gehörte längst nicht mehr zu jenen Mächten, die den Wagen lenkten, der plötzlich in Schieflage geriet und sich mehrfach überschlug.
Als der Wagen endlich am Fuß der Böschung zum Stehen kam, lag der Kopf seines Fahrers regungslos auf dem Lenkrad.
***
Verstört und zugleich wütend blickte sie ihrer Tochter ins Gesicht. „Wie konntest du deinem Vater nur so etwas Gemeines sagen?“
„Sie hat es mir gesagt“, versuchte sich Agnes zu verteidigen. Dabei wusste sie ohnehin, dass Mutter ihr keinen Glauben schenken würde. „Tara will nicht, dass wir hier wohnen! Das ist ihr Zuhause und sie will uns weg haben.“
Verena stieß einen schnaubenden Laut aus und wirkte einen Augenblick lang zornig genug, um etwas Unüberlegtes zu machen. Oder noch schlimmer: Etwas sehr wohl Überlegtes! Agnes zuckte zusammen. „Ich habe solche Angst, Mama! Vielleicht kommt sie auch zu uns und tut uns was an.“
„Ich will jetzt nichts mehr davon hören“, sagte ihre Mutter mit fester Stimme. „Mach dich fertig fürs Bett.“
„Mama -“
„Hast du nicht gehört?“, würgte Verena jeglichen Widerspruch im Vorfeld ab. Sie musste standhaft bleiben, schon alleine deshalb, um nicht durchzudrehen. Wie so oft in letzter Zeit verspürte sie Migränestöße, die ihren Kopf in einen Schraubstock zwängten und mit Hämmern bearbeiteten. Am Beunruhigendsten war jedoch der Schwall an Aggressivität, den sie nur mühsam unterdrücken konnte und der immer öfter wie widerwärtiger Schlamm nach heftigen Regenfällen an die Oberfläche stieg. Manchmal schien es ihr, als wäre sie nicht mehr Herrin ihres eigenen Körpers und ein ihr fremder Teil ihrer Persönlichkeit würde sie aus dem Bewusstsein drängen und das Kommando übernehmen.
***
Langsam und unsanft kam er durch die beißenden Dämpfe wieder zu sich. Schwer lag sein Kopf auf dem Lenkrad. Der verdammte Airbag hatte nicht ausgelöst! Sechzigtausend Euro, aber der beschissene Airbag hatte nicht funktioniert!
Nur unter Aufbietung sämtlicher Kräfte gelang es ihm, den Kopf in den Nacken zu legen. Heftige Schmerzwellen füllten seinen Körper aus. Er begann zu husten und merkte erst jetzt, dass die Rückbank in Flammen stand, wahrscheinlich in Folge der brennenden Zigarette, wie er vermutete. Heftiger Hustenreiz schüttelte ihn und sein Kopf knallte erneut gegen das Steuer und blieb dort kraftlos liegen. Er bekam kaum noch Luft, und je weniger Sauerstoff er atmen konnte, desto schwächer wurde sein geschundener Körper. Aus den Augenwinkeln heraus glaubte er einen Moment lang eine Bewegung zu erkennen; die Konturen eines Menschen flossen an ihm vorbei. Eines kleinen Menschen. Vielleicht die eines jungen Mädchens…
Angenehm, fast tröstend stieg Benzingeruch in seine Nase. Als Junge hatte er gerne am Benzinkanister seines Vaters geschnüffelt, bis ihn dieser eines Tages dabei ertappt und ihm eine Tracht Prügel verpasst hatte.
„Schmerzen“, dachte er, während die Dämpfe seine Sinne zu benebeln und schließlich zu ersticken begannen. „Alles, was wir aus dieser Welt mitnehmen, sind Schmerzen.“
Den wie ein Springteufel aufschnalzenden Airbag nahm er nicht mehr wahr.
***
Das Haus gefiel ihnen auf Anhieb, trotz des tragischen Schicksals der Vormieter. Dora und Andreas ließen sich verzückt sämtliche Räume zeigen. Abgesehen von der Küche mussten zwar sämtliche Räume neu möbliert werden, aber dieser Aufgabe sahen sie voller Vorfreude entgegen. Besonders Dora empfand es als höchstes der Gefühle, eine Wohnung komplett neu einzurichten.
„Und das war das Kinderzimmer“, sagte der Makler mit seltsam tonloser Stimme und wollte den Raum gleich wieder verlassen. Das Ehepaar warf einander fragende Blicke zu, bohrte jedoch nicht weiter nach und folgte dem Mann, während ihr Sohn Tim sein neues Zimmer mit großen Augen begutachtete. Das würde klasse werden, dachte er begeistert und schätzte, dass der Raum dreimal so groß wie das mickrige kleine Zimmer in ihrer alten Wohnung sein musste. Und es gehörte ihm – ihm ganz allein!
Fast ganz allein.
„Freut mich dich kennen zu lernen, Agnes“, flüsterte er und die Wände echoten seine Stimme, als würden sie ihn auslachen.