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Wälder des Nordens
>>Wohin seid ihr gegangen? Mich zurückzulassen... <<
Er rannte wie ein gehetztes Tier, orientierungslos und ohne Ziel. Der Puls hämmerte in seiner Brust. Es kostete ihm viel Kraft, sich einen Weg durch das Gewirr von Bäumen zu bahnen. Geäst peitschte ihm ins Gesicht, hinterliess rote Furchen. Vor seinem inneren Auge spielten sich Schreckensszenarien ab, Schreie verhallten in seinem Kopf. Aus den Schreien wurde schliesslich ein Murmeln. Es wurde immer lauter, befahl und bedrängte ihn. Er versuchte sich zu wehren, es zu erdrücken. Beide Hände presste er an sein Haupt. Augenblicklich verstummte es, als wäre es nie da gewesen. Benommen blieb er stehen und horchte in sich hinein. Doch da war nichts, nur das rasende Pochen seines Herzens.
Er schaute sich um. Dem Geschehen um ihn herum hatte er bisher keine Beachtung schenken können. Mit dem Blick eines Tunnels hatte er nur seinem eigenen Verderben zu entfliehen versucht. Da waren jedoch nur Nadelbäume, ein endloses Meer von Tannen. Nicht diese hölzernen Riesen aber, machten diesen Ort so unscheinbar. Es war diese, noch nie empfundene Stille. Nichts regte sich in der Abenddämmerung, kein Geräusch war wahrnehmbar. In diesem Niemandsland war man ganz auf sich allein gestellt, Mensch gegen Tier. Diese Untat, die man ihnen angetan hatte, konnte nicht das Werk eines Menschen sein…
Gleich preschte er wieder los. Diese Ruhepause hätte er sich nicht leisten dürfen. Jede Sekunde war kostbar und entschied über sein Schicksal. Der Himmel erstrahlte nun in warmen Farben, Schatten wurden immerzu länger. Seine Glieder waren schwer wie Blei, wollten seinem Willen nicht mehr Folge leisten. Es war seine willenstarke Verbissenheit, die ihn so weit hatte kommen lassen, doch im jetzigen Zeitpunkt war sie bedeutungslos geworden. Verzweifelt versuchte er sich weiterzuschleppen, etliche Male stützte er sich an Stämmen um nicht zu fallen. Irgendwann hatte alles keinen Sinn mehr. Die Erschöpfung war zu gross und sein Unterleib fühlte sich ganz taub an. Gezeichnet von den Strapazen liess er sich niedersinken. Wie gelähmt lag er zwischen Farn und Moosen. Der erdige Geruch des feuchten Waldbodens vernebelte seine Sinne. Es dauerte nicht lange, da überwältigte ihn der Schlaf.
Plötzlich befand er sich an einem stillen See. Dieser Ort war ihm fern und gleich so nah. Die glatte Oberfläche widerspiegelte die umliegenden Wälder. Apathisch blickte er in diese unwirkliche Spiegelwelt, versank beinah in ihr. Ein gleissendes Licht liess die Illusion verblassen. Er erblickte ein loderndes Feuer am Ufer des dunklen Gewässers. Ein Steinwurf davon entfernt, sassen vertraute Gestalten. Sie riefen ihm etwas zu, die Wortfetzen erstarben jedoch auf halbem Weg. Ein trüber Schleier legte sich über dieses Fragment seiner Erinnerung. Unerwartet stiegen schreckliche Bilder in seinem Geiste auf. Er verstand nicht…
Etwas hatte ihn aus seiner nächtlichen Abwesenheit aufschrecken lassen, er wagte nicht die Augen zu öffnen. Etwas stimmte nicht… Sein linker Unterarm fühlte sich seltsam nass an. Ein unerklärbarer, rauer Reiz hatte ihn gekitzelt. Nach einigen Sekunden fasste er Mut und schlug die Lider auf. Zwei grosse Nüstern bliesen ihm Atem ins Gesicht. Aschfahl blickte er direkt in ein riesiges Augenpaar. Vorsichtig versuchte er sich aufzurichten, diese Bewegungen hatten jedoch schon ausgereicht, dies anmutige Tier in die Flucht zu schlagen. Das braune Wesen mit dem mächtigen Geweih war ins Unterholz eingetaucht und so aus seinem Blickfeld entwischt. Ein Lächeln verzauberte sein Gesicht, seine einstigen Kräfte waren zurückgekehrt.
Doch die Freude war nur kurzer Dauer. Die widerliche Nässe an seinem Arm liess ihn auf seinen Körper herabblicken. Etwas sprang ihm in die Augen, was er zuvor nicht bemerkt hatte. Ihm war unbegreiflich wie er dies bisher hatte vereiteln können. Er begann heftig zu zittern, seine Brust schnürte ihm die Luft ab. Beide Arme…, beide Arme waren besudelt mit angetrocknetem Rot, es war nicht sein eigen… Befürchtungen wurden zunehmend zu seiner eigenen Wahrheit, Gedanken lichteten sich. Die Fenster seiner Seele weiteten sich ins unermessliche.
>>Nein, das durfte nicht sein… <<