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Wälder
Langsam, Schritt für Schritt, gingen sie den Weg, den sie schon so oft gegangen waren. Drei Menschen, drei Generationen. Die alte Frau halbwegs vorneweg, auch wenn es für die beiden anderen bedeutete, ihre Jugend mit Gewalt bremsen zu müssen. Raus wollte sie, die Lebenskraft, in großen, ausschweifenden Schritten, immer laut, immer vorwärts, schneller, irgendwo da vorne war ja schon das Ziel! Stattdessen im Schwung unterdrückte Schritte, damit die Großmutter nie das Gefühl haben musste, ihre Langsamkeit bremse die Jungen aus. So gingen sie, Schritt für Schritt, und die beiden Jungen waren erstaunt über die Aufmerksamkeit, die einen mit der erzwungenen Langsamkeit überkam. Damit hatten sie nicht gerechnet. Tannennadeln am Boden, hier und da. Gehäuft und gebündelt vom Regen der letzten Nacht.
"Ist es schon so spät im Jahr?", fragte die Großmutter.
"Die Nadeln fallen doch das ganze Jahr über mal herunter", antwortete ihr Letztgeborener, das Nesthäkchen. "Und wenn es dann mal richtig regnet, dann kommt eben das raus. Sieht aus wie Wollmäuse, nicht?" Er lachte zu seiner Nichte hinüber. Nikki lachte schnell zurück, im Geiste verzweifelt damit beschäftigt, sich zu erinnern, wo genau ihr Großvater lag.
Seit Jahren war sie nicht mehr hier gewesen. Alles hatte sich verändert. Da waren plötzlich Wege, die damals nicht waren; näherten sie sich einer Wegkreuzung, achtete sie ganz konzentriert auf die kleinsten Regungen in der Bewegung der anderen beiden. Sie musste unentdeckt bleiben; ihre Großmutter durfte nicht merken, dass sie vollkommen verloren war. Dass sie ihren Großvater nicht mehr fand. Das wollte sie ihr nicht antun.
"Mama, du gehst ja schon wieder so."
Nikki schaute hinüber zu ihrer Großmutter, die mit ihren nun mehr als achtzig Jahren noch genau so ging, wie sie es immer in Erinnerung gehabt hatte: die Hände hinter ihrem Rücken verschränkt, dabei den Schlüssel haltend, der ab und zu klimperte. So war ihre Großmutter immer gelaufen. Und so lief auch sie selbst oft. Das war ihr vorher nie aufgefallen. Die Großmutter lachte leise, so wie sie es immer tat.
"Ja, du lachst", sagte ihr Onkel, "aber wenn du jetzt stolperst, dann fällst du direkt aufs Gesicht und kannst es nicht verhindern. Das ist meiner Kollegin letztens auch passiert, sie ist gelaufen wie du. Und sie hatte auch noch eine Brille an und ist genau drauf gefallen, aufs Gesicht. Du kannst dir vorstellen, wie sie jetzt aussieht. Das ist nicht lustig."
"Mh." Mehr sagte sie nicht dazu, lief noch ein paar Schritte mit verschränkten Händen, bis sie sie dann doch widerwillig nach vorn nahm. Manchmal konnte der Onkel ein richtiger Spielverderber sein. Aber das gehörte wohl zur Fürsorge um die alte Mutter dazu. Sie durfte nicht stürzen, koste es, was es wolle. Und sei es ihr innerstes Wesen. Auch sie wollte nicht, dass die Großmutter fällt. Aber manchmal konnte man es schon übertreiben mit der Fürsorge, nicht? Sie beschloss, diesen Preis nicht zahlen zu wollen, würde es einmal mit ihr so weit sein.
"Das sind aber schöne Hackeln." Die alte Frau blickte ihre Enkelin an, die Hände nun fast wieder hinter ihrem Rücken verschränkt, während sie eine der Hackeln mit dem Fuß berührte. Stillstand. "Damals sind wir immer frühmorgens mit der Uroma raus und haben Hackeln gesammelt, damit wir uns ein Feuer anzünden konnten. Ich weiß gar nicht mehr, wie wir die transportiert haben, ob wir vielleicht einen kleinen Wagen zum Ziehen benutzt haben. Das ist schon so lange her." Fremde Welt. Gekochte Kartoffelschalen, die so gut schmeckten. Luftschutzkeller. Todesangst.
Eine Ewigkeit war vergangen, als sie an die letzte Biegung kamen. Sie waren da. Da lag er, ihr Großvater Hans, direkt am Waldrand. Letztens sei ein Baum während eines Sturmes direkt auf die Gräberreihe gestürzt, erzählte die Großmutter, während der Onkel geschäftig die Erde säuberte, von Unkraut befreite und Kanne um Kanne Wasser darüber goss. Das Grab sah noch so aus wie damals, als sie das letzte Mal hier gewesen war. Wie lange mochte das her sein, zehn Jahre? Fünfzehn? Jene Pflanze sei zwar Unkraut, aber sie lasse es auf dem Grab, weil es ganz hübsch aussehe, sagte die Großmutter und lachte wieder leise, während ihr Sohn ein als nicht so schön befundenes Unkraut heraus rupfte.
"Mir reicht ein bisschen Efeu, wenn mal was mit mir sein sollte. So wie auf dem hier", sagte die Großmutter und deutete auf das überwucherte Grab direkt daneben. Eine einzige Efeudecke. Ob es wohl erlaubt sei, das langsam herüber wuchernde Efeu zu stutzen? Sie sei schon ein paar Male fast gefallen deswegen.
"Ja natürlich, Mama." Der Onkel war entgeistert. "Du kriegst Efeu." Er schüttelte den Kopf in Richtung seiner Nichte. "Also damit es klar ist - ich will kein Efeu, sollte mal was mit mir sein." Das Wort Grab blieb unausgesprochen.
Nikki, die nun Mitte Dreißig war - fragte man sie nach dem genauen Alter, musste sie immer etwas nachdenken; sie konnte es sich einfach nicht merken - stand da und schaute dem Sohn und der Witwe ihres Großvaters bei ihrem routinierten Treiben zu. Sie konnte nur eines tun. Sie griff sich eine Kanne, ging zum Grabstein ihres Großvaters und spülte die Flecken ab, die der Regen der vergangenen Nacht hinterlassen hatte. Und wie damals, als sie noch regelmäßig an das Grab gekommen war, konnte sie nur eines denken.
"Lam dai hom dot."
Sie sprach es nur ganz leise aus, nur für ihn. Sie glaubte nicht an so etwas wie ein Jenseits. Der Tod war das Ende von allem; was man im Leben nicht zustande brachte, war für immer verloren. Jedoch waren sie Teil der einzigen Worte, die ihr Großvater jemals an sie gerichtet hatte. Die einzigen Worte des einzigen Gesprächs, das ihr Großvater jemals mit ihr geführt hatte – sie waren die Erinnerung an das einzige Mal, dass der Großvater sie ansah. Damals, am Küchentisch. Sie musste zehn oder elf Jahre alt gewesen sein und es fühlte sich an, als sei es gestern geschehen. Denn wenn der Großvater mit einem spricht, das vergisst man nicht so einfach. Nicht in ihrer Welt. Und das waren geheimnisvolle Worte, aus einer geheimnisvollen Welt noch dazu. Sie waren Teil der fantastischsten Geschichte, die sie ihr seitdem erzählten. Indochina. Kampf. Soldaten. Gesänge. Und der Großvater war dabei gewesen! Und all das nur, weil er damals, als Deutschland strauchelte, von seinem strengen Vater beim Rauchen einer Zigarette erwischt - und bestraft! - worden war. Und aus Rache weglief, zur Fremdenlegion. Ins Abenteuer. Junge Männer greifen ja oft zu drastischen Mitteln - aber das! Fantastisch. Das hatte sie immer beeindruckt, und das tat es auch noch an diesem Tag der geschäftigen Grabpflege. Das würde sich wohl nie ändern. Wie eigenartig.
Der Großvater hatte weder sie noch ihre Schwester je gemocht, da war Nikki sich sicher. Ob es daran lag, dass sie das Ergebnis der Hochzeit seiner Tochter mit einem griechischen Gastarbeiter waren, würde sie nie erfahren. Wie konnte es jedoch anders gewesen sein? Böse Blicke und knallende Türen, war die Großmutter mal nicht da. Keine Aufmerksamkeit, nichts, nur Stille, Zigaretten und der ihnen zugewandte Rücken. Im Geiste verließ er das Zimmer, wenn die Enkel hereinkamen. Und es sollten seine einzigen Enkel bleiben. Welche Enttäuschung. Am liebsten hätte sie ihn manchmal angestupst und gerufen: "Aber Opa, sieh doch, meine Augen! Ein Silberblick wie deine! Blau wie deine!" - getraut hatte sie sich jedoch nie. Stattdessen rauchgeschwängerte Parallelexistenz.
Bis zu jenem Tag am Küchentisch, als er plötzlich, nur einige Minuten, in ihr Leben trat, sie endlich ansah. Unvermittelt. So drängend. In diesen Minuten, als er sprach und ein altes Foto unter der Geschirrmatte, auf der seine Teetasse stand, hervorzog, es ihr zeigte, und sie gar nicht wusste, wie ihr geschieht, und es darauf nicht viel mehr zu sehen gab als dichten Wald, wie sie ihn schon damals geliebt hatte. So sehr geliebt, dass sie sich das Malen-nach-Zahlen-Bild, das ihre Großmutter ihr damals zu Weihnachten schenkte, in ihrem Zimmer aufgehängt hatte. Ihre Großmutter hatte ihr einen Wald gemalt! Sie hatte das Bild noch heute. Dies aber war eine Art Wald, wie sie ihn nie zuvor gesehen hatte, ein paar LKWs, die junge, grinsende Männer transportierten, und in ihr war ein Gedanke explodiert: Das ist Dschungel! - in diesen Minuten sah sie ihren Großvater das erste und einzige Mal. Ich bin da, sagte er. Mit einer Geschichte. Danach drehte er sich um, verschwand wieder in seiner Stille - und starb kurz darauf. Wie eine Sternschnuppe.
Lam dai hom dot! Das haben die uns zugerufen. Immer wieder. Was diese vier Worte bedeuteten, hatte sie nie erfahren können. Sie hatte es versucht - jedoch ohne Erfolg. Irgendwann hatte sie es aufgegeben; dabei hatte sie die erste und naheliegendste Möglichkeit - einen Vietnamesen zu fragen - immer vermieden. Die Gefahr, dass diese Worte etwas Schreckliches bedeuteten, war ihr mit den Jahren zu bewusst geworden. Und das durfte nicht sein. Sie würde sich diesen einzigen ersehnten Liebesbeweis - seine Sternschnuppe - nicht selbst vom Himmel reißen.
„Du siehst aus wie er, wenn du nachdenklich bist.“
Die ruhigen Worte rissen Nikki aus ihren Gedanken. Sie musste schon einige Zeit dort gestanden haben. Am Grabstein. Regungslos. Sie hatte ihre Großmutter nicht kommen hören, die nun neben ihr stand, den Blick ebenfalls auf den Stein gerichtet. Der Onkel war vorne bei den Wasserhähnen
„Oma?“ Nikki konnte nicht anders. Das war so eine Sache mit Gräbern. Dinge gewannen oft an Dringlichkeit. Sie musste es wissen. „Warum hat Opa uns nicht gemocht?“
Schweigen.
Zu lange.
Ich wusste es, durchfuhr es sie, alles nur weil mein Vater –
„Er hat euch geliebt.“
Ihre Blicke trafen sich. Die Großmutter griff ihre Hand. Nikki musste schlucken, konnte es nicht. Nicht, bevor sie alles gehört hatte.
„Die Kriege haben ihn stumm werden lassen. So war er eben. Auch zu deiner Mutter, zu allen. Zu mir.“
Bitte, sag‘ es noch einmal! Er hat mich geliebt?
„Dann kam dein Vater. Und dann kamt ihr. Und mit euch die Angst. Und … die Scham. Scham vor den Dingen, die er im Krieg getan hat. Dinge, die er damals laut gesagt hat. Dinge, die er damals glaubte.“ Sie hielt Nikkis Hand ganz fest, strich mit dem Daumen über ihren Handrücken. „Kein Wort brachte er heraus, wenn ihr da wart. Er konnte deinem Vater nicht in die Augen sehen. Jedes Mal, wenn er deinen Großvater Vater nannte, war das ein Stich in sein Herz. Ja, so ist das mit der Scham. Sie ließ deinen Großvater nicht mehr los. Sogar das Bild von dem Wald konnte er dir damals nicht selbst schenken. Ihm fehlte der Mut. Und er hat so lange daran gesessen. Ihr und euer Wald.“ Die Großmutter schüttelte lächelnd den Kopf.
Gänsehaut. Nikki wurde heiß und kalt. Herzklopfen.
„Das war von ihm? Das Waldbild? Er hat das gemalt? Für mich?“ Egal was passierte, die Hand der Großmutter würde sie jetzt um nichts auf der Welt loslassen.
„Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als du es ausgepackt hast. Deine Freude über dieses Bild. Den Wald. Sein Lächeln, als du sofort eine Geschichte dazu erfunden hast.“ Die Großmutter lächelte. „Erinnerst du dich an die Geschichte?“
Nikki lächelte. Sie war schon immer gut im Geschichtenerzählen gewesen. Ja, sie erinnerte sich daran. Hier, nach mehr als 25 Jahren, am Grab ihres Großvaters, erinnerte sie sich an die Geschichte von Knurpsi, dem Eichhörnchen, und der unknackbaren Nuss. Wie glücklich ein Mensch sein konnte.
„Vergib ihm.“ Die Großmutter beugte sich zum Grabstein und strich darüber. Das hatte sie früher schon immer getan.
„Wer ein Leben wie er gelebt hat, dem fällt es sehr schwer, Liebe zu zeigen.“
„So“, sagte der Onkel und streckte sich. „Ich glaube, das reicht für heute.“
„Mh.“ Die Großmutter schüttelte die letzten Tropfen aus der Kanne. Kritische Blicke über die aufbereitete, vom Unkraut gebrochene, Blumendecke. Eine letzte Flammenkontrolle; die Kerze brannte noch. Es war gut. Kannen zurück. Aber bitte ordentlich, da ist noch Erde dran. Wir Deutschen.
„Lasst uns noch kurz da rüber gehen“, sagte der Onkel und schaute zu einer weitläufigen Grasfläche gleich neben den Gräbern, die nur hier und da einen jungen Baum trug. Verabschiedung.
„Tschüss, Papa.“
„Mh. Mach’s gut.“
Sie sagte nichts. Da war nur Lächeln in ihr.
Langsam näherten sie sich der Grasfläche. Keine Gräber weit und breit. Stattdessen in marmorne Stelen eingelassene, mit Namen versehene, Glasplatten. Sie war irritiert. Hier sollten Gräber sein?
„Das ist ein Friedwald“, sagte der Onkel, der ihre Blicke sah. „Die Urnen liegen unter den jungen Bäumen. Du kannst an den Nummern sehen, wer wo liegt.“
Doch das hörte sie schon nicht mehr. Ein Friedwald! Sie konnte nur noch denken. Hier wird einmal ein Wald entstehen! überwältigte es sie. Ein richtiger Wald! Ein dichtes Spiel aus Erinnerungen, Baumkronen und Sonnenlicht. Vogelgezwitscher. Grablosigkeit. Ruhe. Nikki betrachtete die jungen Bäume. Schaute hinüber zu ihrem Großvater. Und lächelte. Sie konnte ihn hören.
Ich bin da, sagte er.