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Wärmer als vieles

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21.04.2015
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Wärmer als vieles

Vermutlich sind es bloß Sekunden.
Sekunden, in denen die tanzenden Körper stocken.
Der Bass verebbt zu einem dumpfen Pochen.
Für alle anderen ein Wimpernschlag.
Für die Frau im roten Kleid hält die Zeit inne.

Weiches Laternenlicht auf Kopfsteinpflaster. Wärme strahlt von gewölbten Steinen.
Der DJ hat das Pult und die Boxen nach draußen getragen. Er wirft die Arme in die Luft, stampft zum Sound von 90er-Jahre-Trash. Lacht und singt so laut, dass er sie mit sich reißt. Menschen, die eben noch am Geländer gelehnt und die funkelnden Lichter im Hafen beobachtet haben, ins Gespräch vertieft mit ihrem Gegenüber. Nun feiern sie, jubeln und atmen zum gleichen Beat.
Die Frau steht am Rand, nippt am Drink, wippt mit dem Fuß im Takt. Ihr Blick gleitet durch die Menge, vorbei an Sommerkleidern, nackter Haut, schwitzenden Gesichtern. Die Luft flimmert. Salzkristalle wie glitzernder Staub.
Da sieht sie ihn.
Und er sieht sie.

Vermutlich sind es bloß Sekunden.
Sekunden, in denen Feuerwerksraketen über ihrem Kopf in den Himmel schießen. Sie explodieren in grellen Farben, tauchen die Szene in blau, rot und grün. An den Rändern zerfasert das Bild.
Wenn sie solche Vergleiche in Büchern liest, verdreht sie die Augen.

***​

Über ihnen der Mond, unter ihnen das Meer.
Sie sitzen auf einem Felsvorsprung, trinken Wein, der viel zu süß ist.
Sein Lächeln ist warm. Wärmer als vieles in den letzten Jahren.
Er sagt, sein Lieblingsfilm sei La Tortue Rouge, irgendwie bringe der ihn zur Ruhe. Sie sagt, ihrer sei La Haine, irgendwie rüttle der sie auf.

Mit jedem Schluck sinken die Fragen tiefer.
Woher kommt er, der Schmerz in deinem Blick? Woher das Leuchten?
Sie erzählen sich Dinge, für die es noch zu früh ist. Die sie bei einem ersten Treffen nie erzählt haben. Weil man das nicht macht.
Hier ist es richtig. Womöglich ist es das sogar immer.

Er spricht von der Zerrissenheit zwischen Frankreich und Guadeloupe. Wie er mit seiner Mutter durch Lyons Altstadt spaziert, die Gassen vertraut und doch fremd. Wie er seinen Vater an den Hafen von Port-Louis begleitet, ihm beim Malen zusieht und sich fragt, wer dieser Mann eigentlich ist. Wo Zuhause ist. Dass er deshalb umherreist, seit er 19 ist. Auf der Suche nach dem richtigen Ort. Dass diese Insel vielleicht dieser Ort ist. Er sagt, er sei glücklich. So was hat sie lange von niemandem mehr gehört.
Das hier ist flüchtig.
Morgennebel.
Und doch.
Sie vertraut ihm an, dass sie oft glaubt, sie sei kompliziert. Weil Menschen ihr das gesagt haben. Mal ist sie zu viel, mal zu wenig. Aber jetzt, hier, in diesem Moment, in diesem winzigen Fetzen Leben, in dem er sie sieht, sie einfach nur sieht, da weiß sie, dass das gar nicht wahr ist.

Wellen krachen gegen den Felsen. Werden zurückgesogen ins Meer, bevor sie wieder ans schroffe Gestein klatschen.
Rauschen breitet sich in ihr aus.
Das hier ist flüchtig.
Echt.

 

Hach, ein echter @RinaWu-Text, voller Gefühl und wummernden Bässen. Ein Spiel der Empfindungen aller Farben, tiefgründige Begegnung zweier Menschen, ein intimer Moment, der meine eigene Erinnerungen an solche Momente triggert. Und die Erinnerung an das Gefühl, der Moment möge nie enden.

Sekunden, in denen Feuerwerksraketen über ihrem Kopf in den Himmel schießen. Sie explodieren in grellen Farben, tauchen die Szene in blau, rot und grün. An den Rändern zerfasert das Bild.
Wenn sie solche Vergleiche in Büchern liest, verdreht sie die Augen.
Jetzt ist sie mittendrin.
Schön. Genau in der Abfolge hab ich's auch gelesen. Kitschig, aber habe ich nicht gerade gestern erst diesen rosa Sonnenuntergang am von gelb ins rot fasernden Abendhimmel bewundert? Ja, das Leben bietet halt solche Momente.

Über ihnen der Mond, unter ihnen das Meer.
Mir ist aufgefallen, das Meer, bzw. Wasser scheint hier in der Challenge ziemlich beliebt zu sein. ;)

Da sieht sie ihn.
Und er sieht sie.
[...]
Er sagt, sein Lieblingsfilm sei La Tortue Rouge, irgendwie bringe der ihn zur Ruhe. Sie sagt, ihrer sei La Haine, irgendwie rüttle der sie auf.

Die beiden Absätze zeigen schön, wie du das Wechselspiel der Blickwinkel einsetzt um die spontan einsetzende Verbundenheit zweier vorher sich fremder Menschen zu illustrieren.

Mit jedem Schluck sinken die Fragen tiefer.
Woher kommt er, der Schmerz in deinem Blick? Woher das Leuchten?
Sie erzählen sich Dinge, für die es noch zu früh ist. Die sie bei einem ersten Treffen nie erzählt haben. Weil man das nicht macht.
Die direkte Anrede hat mich an dieser Stelle rausgeworfen. Ich fände es stimmiger, die Erzählerin das Pärchen weiterhin von aussen betrachten zu lassen: Woher kommt er, der Schmerz in seinem Blick?
Aber das ist wohl Geschmackssache.

Auf der Suche nach dem richtigen Ort. Dass diese Insel vielleicht dieser Ort ist. Er sagt, er sei glücklich. So was hat sie lange von niemandem mehr gehört.
Das hier ist flüchtig.
Morgennebel.
Und doch.
Sie vertraut ihm an, dass sie oft glaubt, sie sei kompliziert. Weil Menschen ihr das gesagt haben.
Sehr schön gemacht, spärlich gesetzte Satzfragmente unterstreichen das 'flüchtig' im Text.

Rauschen breitet sich in ihr aus.
Das hier ist flüchtig.
Echt.
Und noch einmal die Aussage des Textes heraus destilliert. Sehr schön.

Danke für diesen kurzen Einblick in die Gefühlswelt deiner Frau im roten Kleid.
Wohlige Wärme breitet sich in mir aus. Flüchtig. Echt. Sehr gerne gelesen.
Liebe Grüsse, dotslash

 

Hey @dotslash,

vielen Dank, dass du vorbeigeschaut und mir deine Gedanken dagelassen hast.

Kitschig, aber habe ich nicht gerade gestern erst diesen rosa Sonnenuntergang am von gelb ins rot fasernden Abendhimmel bewundert? Ja, das Leben bietet halt solche Momente.
Schön, dass du das so liest und aufnimmst :) Denn genau das war mein Punkt - mit diesem Kitsch, bei dem man eben oft die Augen verdreht, zu spielen und ihm dennoch seine Berechtigung zu geben, denn JA, das Leben bietet halt solche Momente.

Die beiden Absätze zeigen schön, wie du das Wechselspiel der Blickwinkel einsetzt um die spontan einsetzende Verbundenheit zweier vorher sich fremder Menschen zu illustrieren.
Danke :) Es freut mich sehr, dass diese kurzen Absätze die Begegnung so beschreiben können, wie ich das wollte. Dass eben beide diesen Moment spüren, es nicht nur eine einseitige Geschichte ist.

Die direkte Anrede hat mich an dieser Stelle rausgeworfen. Ich fände es stimmiger, die Erzählerin das Pärchen weiterhin von aussen betrachten zu lassen: Woher kommt er, der Schmerz in seinem Blick?
Aber das ist wohl Geschmackssache.
Ja, das war schon auch ein bisschen Absicht, hier die Perspektive zu wechseln. Ich wollte in dem Text keinen Dialog stattfinden lassen. Hier an dieser Stelle ist das natürlich eigentlich Dialog, bricht mit der Perspektive des restlichen Textes, aber eben gerade weil es genau hier sehr persönlich wird und ich fand das kurze Ausbrechen irgendwie ganz gut.

Wohlige Wärme breitet sich in mir aus. Flüchtig. Echt.
Das freut mich sehr, danke dir.

Hab noch eine schöne Woche, hoffentlich so sonnig wie hier in München.
LG
RinaWu

 

Jetzt ist sie mittendrin.

Ja, so ist es. Life imitates Art. Oder umgedreht. Ich würde das eventuell rausnehmen, weil das genau der Gedanke ist, den der Leser hat.

Er spricht von der Zerrissenheit zwischen Frankreich und Guadeloupe.
Du hast es gesagt in einem deiner Kommentare: das ist magisch, Magie. Manchmal gibt es diese Begegnungen, man trifft auf verwandte Seelen, nichts scheint unmöglich, das ist ein fast metaphysischer Moment. Man sollte da auch nicht so genau nachfragen, weil das eben solche Momente zerstört: sie sind nicht rational erfassbar. Deswegen sind diese Erklärungen, also wie sie sich dem anderen gegenüber erklären, mir schon gefühlt zu viel. Das ist irgendwie zu viel Realität, zu viel exakter Begriff, zu sehr Alltag.
Sie erzählen sich Dinge, für die es noch zu früh ist. Die sie bei einem ersten Treffen nie erzählt haben. Weil man das nicht macht.
Hier ist es richtig. Womöglich ist es das sogar immer.
Das ist doch so toll, und es steht für sich. Welche Dinge das sind, über die sie reden, aber über die man sonst nie redet - das muss ich, glaube ich, nicht so genau wissen. Die sind für alle anderen ja auch anders, stellen sich anders da. Der Text liest sich wie hinter so einem magischen Vorhang, wie durch einen Schleier, und das macht ihn so gut. Hier durchdringst du diesen Vorhang, da wird aus Transzendens Realität, da benennst du Dinge konkret. Für mich war es bis zu diesem Zeitpunkt ein schwelgerisches Prosagedicht, dass vor allem diese seltenen Momente beschreibt, in dem es eine stillschweigende Übereinkunft gibt, in dem es um essentielle Dinge geht, die man nicht zu benennen braucht, weil es eben tiefgehende Emotionen sind, ein eins mit der Welt sein, das ist eben nur schwer zu beschreiben. Du siehst das von außen, du betrachtest das ja, und hier in diesen exakten Problembeschreibungen, dieser persönlichen Auseinandersetzung, durchbrichst du diese Betrachtungsweise, das ist eigentlich eine andere Geschichte, oder? Ich glaube fast, es wäre stärker, wenn du darauf verzichtest, weil du dann dieses unbestimmte Gefühl für den Moment besser einfängst, ohne konkret zu werden, es bietet ja auch dem Leser einen eigenen Platz zur Identifikation an. Aber vielleicht bin auch nur ich das, who knows! Ansonsten ein toller Text, den ich gerne gelesen habe.

Gruss, Jimmy

 

Ja, so ist es. Life imitates Art. Oder umgedreht. Ich würde das eventuell rausnehmen, weil das genau der Gedanke ist, den der Leser hat.
Dieser Text ist einer von denen, der sich seit Monaten dauernd verändert, @jimmysalaryman, genau aus den Gründen, die du weiter unten anführst. Mal ist es mir zu knapp, dann füge ich wieder ein bisschen Fleisch dazu, dann ist es mir doch wieder zu viel - und so geht das on and on ...

Welche Dinge das sind, über die sie reden, aber über die man sonst nie redet - das muss ich, glaube ich, nicht so genau wissen. Die sind für alle anderen ja auch anders, stellen sich anders da.
Richtig und genau deswegen habe ich zwischendrin auch alles Erklärende wieder rausgeschmissen. Ich bin da voll bei dir, es ist für mich persönlich nur gerade schwer, da genau den richtigen Mittelweg zu finden. Bin da noch auf der Suche. An manchen Tagen denke ich, hey, da muss gar nichts erklärt werden, es geht nur um diesen Moment, dieses Gefühl. Dann wieder denke ich, hey, schaden tut es aber auch nicht, wenn man zumindest ein bisschen was über die beiden erfährt. Es ist ein kleiner Kampf, bei dem ich noch keinen wirklich Gewinner ausmachen kann.

Du siehst das von außen, du betrachtest das ja, und hier in diesen exakten Problembeschreibungen, dieser persönlichen Auseinandersetzung, durchbrichst du diese Betrachtungsweise, das ist eigentlich eine andere Geschichte, oder?
Genau das ist der Punkt, hier genau das richtige Maß zu finden. Den Vorhang eben nicht zu durchbrechen und dadurch auch das Magische heil zu lassen. In meiner verknappten Version funktioniert das eigentlich prima, indem ich bestimmte Sätze einfach weglasse. Und dann denke ich wieder, fuck, is das jetzt zu wenig?!

Hach ja, im Moment lass ich den Text mal ein bisschen ruhen und schaue in ein paar Wochen noch mal drauf, oft ist dann vieles klarer.

Danke dir für deine Worte, hat mich sehr gefreut.
RinaWu

 

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