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Wüstenkind
Der Knall, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte, hallte noch nach und lies die Wände erzittern. Durch die scheibenlosen Fenster drang bereits die Mittagshitze, und die Luft schien fast ebenso viel Sand zu enthalten wie der Wüstenboden. Langsam stand sie auf. Der Hunger schmerzte in ihrem Bauch, und ihr Hals war trocken, als hätte sie Staub verschluckt. Sie fühlte, wie sich eine bekannte Leere in ihr ausbreitete. Es war ihr fünfter Geburtstag.
Auf dem schmutzigen Küchentisch lagen keine Geschenke, nicht einmal ein Stück Brot. Ihre Kehle brannte vor Durst, doch aus dem verrosteten Hahn kam schon lange kein Wasser mehr. Durch die fehlende Wand betrachtete sie die Überreste der Häuser, die mehr und mehr von Wüstenstaub bedeckt wurden. Seit vor fünf Tagen die Flugzeuge über ihr Dorf geflogen waren und mit viel Getöse alles eingestürzt war, hatte sie niemanden auf der Straße gesehen. Sicher versteckten sich die Leute irgendwo. Sie selbst hatte sich unter ihrem Bett verkrochen, bis der Lärm längst verhallt war und der Boden nicht mehr bebte. Doch als sie gesehen hatte, dass ihre Eltern friedlich in ihrem Bett lagen und schliefen, hatte sie keine Angst mehr gehabt. Wenn die Eltern sich nicht fürchteten, brauchte sie es auch nicht zu tun. Vielleicht waren die Leute ebenfalls eingeschlafen. Sie fragte sich, wann sie wohl aufstehen würden, um ihre Häuser zu reparieren und die Straßen aufzuräumen.
Sie betrat das kleine Schlafzimmer der Eltern, um zu sehen, ob sie von dem Lärm aufgewacht waren. Seit fünf Tagen waren sie nicht aufgestanden, aber heute war ihr Geburtstag; den konnten sie nicht vergessen haben. Doch die Eltern lagen noch immer reglos auf der Matratze. Die Trümmer der eingestürzten Decke lagen um sie herum und bedeckten sie zum Teil, aber es schien sie nicht zu stören. Sie schliefen so fest, dass sie die Bombe nicht gehört hatten. Das Mädchen beschloss, sie nicht zu wecken. Es roch faul im Schlafzimmer, also ging sie zurück in die Küche.
Am Küchentisch wartete sie. Es war ihr Geburtstag, gewiss würden die Eltern heute aufstehen. Die Mutter würde einen Kuchen backen, das hatte sie immer getan. Am Nachmittag würden ihre Freunde kommen und mit ihr spielen. Seit fünf Tagen waren sie nicht mehr da gewesen, aber heute würden sie kommen, ganz sicher. Es war schließlich ihr Geburtstag.