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Wa(h)rsteiners Resi G. Nation
In Baumfalkengrün kracht es. Der Fahrer des Wagens steigt voll in die Eisen, kann den Zusammenprall aber nicht verhindern. Das Reh donnert in die Windschutzscheibe, das Auto rauscht die Böschung hinunter. Blaulicht saust an Marianne vorbei, die gerade den Bürgersteig fegt. „Wos is denn do los?“ Sie stellt den Besen beiseite und kramt ihr Telefon aus der Schürze. „Servus, Schwesterherz. Du, hobt ihr oan Einsatz? I hob den Franz davofahrn gseng. Wos is denn do scho wieda los?“
Siggy Steiner lungert vor seinem Haus herum. Noch kann er gerade laufen. Mürrisch blickt er aus der Wäsche, als er die Marianne vor ihrem Hof stehen sieht. Die oide Hex‘ mid ihrem Besn. Sein Blick wandert rüber zu Resis Schenke, bleibt dort hängen. Wehmütig schnaubt er sich den Schmerz von seiner Brust; Erinnerungen an vergangene Zeiten, als die alte Spelunke noch seine zweite Heimat war.
„Resi, zapf mir mal ein Bier und sag mal, hast du schon was gehört von dem Unfall da?“
„Ja, du glaubsts kaum. Dass da herinnen koa Ruah einkehrt. Marianne kam voabei und hod des verzählt. Bluatverschmiert soi des Auto gwen sei, pfui daifel. Wos des wieda war. Mei, kannst s ned glaubn.“
„Um Gottes Willen. Ist da jemand verunglückt? Es wird doch nicht wieder?“
„Die von da Polizei sans am Schauen. Bestimmt is was Schlimmes passiert! Sonst wärns ja net do gwesen. Frogst Schorschi, der hod doch aa sei Cousinen bei da Polizei.“
Maier bedankt sich, greift seinen Krug und marschiert zu seinem Stammtisch. Donnerstag Abend, Poker-Abend. Heute nicht. Müller und Sepp sitzen bereits im schummrigen Licht ihrer verqualmten Ecke. Vor ihnen auf dem Tisch: zwei Kartendecks, zwei Krüge voll Bier und ein großer Aschenbecher aus Wurzelholz. Eine orangefarbene Stofflampe baumelt über ihren Köpfen. Kaum, dass Maier seinen Platz eingenommen hat, kommt Schorschi vom Pinkeln zurück. Beherzt haut er dem Maier zur Begrüßung auf die Schulter „Na Maier, alter Sack, hast Freigang? Hat deine Alte dich ziehen lassen?“ Er lässt sich auf die Bank plumpsen. „Ich weiß doch, wie die Weiber sind.“
„Ach, schau her. Weil du einkaufst für die gebrechliche Else? Habt ihr gehört, Männer, wenn ihr Fragen habt, der Schorschi kennt sich mit den Weibern aus.“ Murmelndes Gelächter ertönt, Schorschi mustert seine Schuhe. Maier grinst breit und gönnt sich einen großen Schluck. Er hasst es eben, ungefragt angefasst zu werden.
„Aber im Ernst“, fährt Maier fort, „wisst ihr von dem Unfall? Da hat es doch schon wieder gekracht auf der verdammten Landstraße.“
„Jo, i hob des aa ghört“, ergänzt Sepp. „Polizei is da gwesn.“
„So ein Saumist, ein elender. Als hätt des damals nicht gereicht. Schlimm genug ists gwesn“, Müller schüttelt sich.
„Furchtbar, des mit Zents ihrem Daniel.“ Sepp zündet sich einen Zigarillo an, inhaliert kräftig und stößt den Rauch aus seiner Nase aus. „Wie alt is er gwesn?“
„Ich woass es nimma. I glaub fünf war der, bevor dass die ihn umgfahrn hom.“, Müller kratzt sich nachdenklich am Kopf.
„Herrgott noch eins, die Frau plemmplemm und der Mann, der Inno. Wen überraschts? Der Drecksack, der des war, läuft noch immer frei herum. Der genießt die Sonne und der Junge liegt unter der Erde. Wär das mein Kind, und die Polizei würd nichts finden, ich würd mir den Kerl selber schnappen.“
„Und dann? Dann würdst ihn umhaun oder was?“, Müller will es genauer wissen.
„Ja sicher, würd ich den umhauen. An Traktor binden würd ich den, des Dorf fegen würd ich mit dem Lump. Was glaubst denn du? Aber mei, was willst machen? Kein Zeuge, kein Fahrzeug. Ned oamoi Bremsspuren hond se gfunde. Nur des leblose Kind und a paar Scherbn.“ Sepp hebt die Hand und schnippt mit den Fingern „Resi, Reeeesi, bringst uns noch ne Runde.“
Schorschi, Maier und Müller sehen sich Schulter zuckend an. Resi kommt anmarschiert. Sie kümmert sich herzlich um ihre Männer.
„Verstehen könnte ich das“, Maier beugt sich nach vorne und senkt bedächtig seine Stimme. „Immerhin war der alte Zent früher doch ein Pfundskerl. Und jetzt seht ihn euch an. Was das mit einem machen kann! Gestern ein aufstrebender Bürgermeister, heute nur noch am Saufen. Eine Sekunde, die darüber entscheiden kann. Wer das zu verantworten hat, hat doch Dreck am Stecken, sonst haut man doch nicht ab.“
„Ja, und des is jetzt wieder passiert“, will der Müller wissen.
„Nein, ja, a ge, woher au, mir wissens ja nicht!“ Sepp winkt mit der Hand ab, als wolle er eine unsichtbare Fliege vertreiben. Dann hält er inne. Mit festem Blick fixiert er den Müller: „Etwas is aber scho passiert.“
„Aha, ja, aber wenn jetzt des stimmt, do muss doch mal jemand wos unternehma. So konn des doch ned weidergehen. Am End foid unsea scheens Schützafescht wieda ins Wossa, dann hom mia den Schlamassl.“ Müller steht der Schrecken ins Gesicht geschrieben.„Des war doch wieda Steiner.“
Ein Kopfnicken eint die Runde. Nur Maier zögert: „Ich weiß nicht. Weil das Schicksal denen übel mitgespielt hat, ist er gleich verdächtig? Beim alten Steiner ging es doch bergab, seit der den Job verloren hat. Und dann die Frau noch mit dem Schlaganfall. Der hat sich aber doch gefangen. So sieht kein Krimineller aus. Ein armer Kerl vielleicht, aber doch kein Verbrecher. Der Familie müsste vielleicht mal jemand helfen.“
Sepp zieht ein Doppelkinn: „Ja, vielleicht. Aber dem Sohn, glaubs ma, dem is nicht mehr zu helfen. Nix ois Ärger hosd mid dem. Da herinnen wird immer wieder was passiern, wenns da nicht hart durchgreifn und den nicht einsperrn.“
„Und wieso hamms den nicht glei eingsperrt?“, hakt Müller nach.
„Ein Alibi soll er gehabt haben. Um sei Mutter soll er sich kümmert haben. Das weiß ich von der Baumberger Anna, meine Cousine, die kennst doch, die schafft ja aa bei der Polizei. Des is aber vertraulich“, gibt Schorschi zum Besten.
„Um sei Mutter soll er sich kümmert haben? A ge, ein Schmarrn. Soweit i woiss hod der Steiner Siggy sich immer selbst um sei Frau kümmert. Und Pflege hamms doch aa noch kriegt. Stell dir vor, du. Das sollte ich für mich beantragen, weil ich zwanzig Jahr mit derselben Alten verheiratet bin.“ Sepps Kehle entspringt ein schallendes Gelächter. Als es verhallt, wischt er sich mit dem Handrücken eine Schaumkrone Speichel aus dem Mundwinkel.
„Ha, du bist doch ein alter Dummschwätzer“, auch Schorschi kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, „aber eins geb ich zu. Des mid dem, du weißt scho, des hab ich aa schon denkt.“
„Wer denkt das denn nicht da herinnen?“ Sepp ist so sicher, dass aufkommende Zweifel ihn empören. „Der Siggy pflegt sei Frau und bestimmt isser nimma umme, weil er weiß, dass was sein Sohn verbrochen hat.“ Er haut auf den Tisch. „Des war Steiner, wer sois denn sonst gwesn sein? Mia sicha ned.“
„Der war des, der Anton. Des war Steiner!“ Auch Schorschi zeigt sich mittlerweile unbeirrbar und Sepp, der pflichtet ihm bei: „I mein, mia olle wissn, dass da Junge komisch is. Geht ned in Verein, schbuit ned Fußball wie alle Jungs, aber schnell fahrn kann er mit seiner verbeulten Kisten. Und Drogen nehma kann er aa. Wie soll so einer sei Mutter pflegen, hörts doch auf! Bestimmt hat der den umgfahrn und dann isser abghauen. So ein gewissenloser Bazi.“
„I hob des ja aa scho immer denkt, geb ichs halt zu. Die Polizei da mid ihrer Theorie, dass des jemand gwesn sein soi, wo ned vo do is?“, Müller hebt seinen Krug und setzt zum Trinken an.
„Stimmt schon“, ergänzt Maier, „wer kommt hier vorbei, außer ein paar Fluggänsen?“
Resi kommt vorbei und räumt die Gläser ab. Weil sie ihre Pappenheimer kennt, hat sie auf ihrem Tablett für jeden ein frisch gezapftes Bier dabei. Die Männer bedanken sich und stoßen an. Zeitgleich betritt jemand die Schenke. Sepp, der mit dem Rücken zur Tür sitzt, kommt gerade in Fahrt: „Der alte Siggy, in dem sei Haut wollt i ned stecke. Der Sohn, der macht doch, was er will. Bestimmt hat der im Delirium so ein Cannabis graucht oder ein Koks und dann hat der gar nicht gmerkt, dass wie er des Kind übern Haufen gfahrn hat.“
Müller, Maier und Schorschi verstummen schlagartig, als hinter Sepp ein Schatten auftaucht.
„Stimmts, da woass ma ned mehr, wos man song soi. Oafach mausetot.“
Das schummrige Licht der Stofflampe gibt Inno Zents Gesicht zu erkennen. Maier räuspert sich und deutet Sepp mit einem Fingerzeig an, sich umzudrehen.
„Ja kruzifix, hosd mi easchroggn. Servus Inno, mei, i hob dir gar ned, also, i hob grad erzählt, wia i den Mehltau vom Hopfen ...“
„Ist schon Recht. Lasst euch nicht stören. Ich will nur hier sitzen und mein Bier trinken.“
„Schau, mir hams nicht über deinen Jungen gsprochen. Des, ja, des hod sich grod so oghört.“
„Sepp! Is scho Recht. Schlimm wäre, wenn mein Daniel in Vergessenheit gerät.“
Schwermütig nimmt Herr Zent seinen Platz ein. Die Bank unter ihm knarzt. Dann wird es so still, man könnte eine winzige Maus husten hören.
„Was ist? Habt ihr jetzt nichts mehr zum Reden? Ich hab gehört, es hat wieder einen Unfall geben?“ Herr Zent hasst dieses bedrückte Schweigen, das mit seiner Ankunft überall einkehrt, seit er diesen schweren Verlust erfahren hat.
„Ja, mir glaubens aa. Sonst würd mer ja Karten spielen. Aber des Unwesen da herinnen, des muss doch mal aufhörn. Da muss doch mal jemand was unternehma.“
„Sepp, Recht hast. Der Polizei sans immer nur die Hände gebunden. Da fragt man sich schon, für was das sie das Polizeigesetz verschärft hond. Varstärkung bräuchdn die, für dass de so oana mal beschatte könntet, wie sich das ghört. Man derf so Leut nicht traua. Die hond alle wos zum vasteckn.“
„Da sagst was, Schorschi! Nei, da habens scho Recht ghabt, unsere Parteifreunde. Des hat schon sei Gründe, warum dass die Drogen verboten sind. Wir könnten den Jungen noch zeigen, was Anstand, Respekt und Disziplin bedeuten. Unser feines Bier, das ist Kultur. Das sollten die mal probieren. Aber diese verwahrloste Jugend da, da ist doch alles verloren. Das ist doch traurig, bitt‘schön. Einfach traurig mit dieser Jugend heutzutage.“
Bevor Anton auf einen kleinen Forstweg abbiegt, schaltet er die Lichter seines Wagens aus und fährt im Schritttempo weiter. Die Nacht ist sternenklar. Hoffentlich sieht man mich im Wald nicht. Ach komm, es wird schon gutgehen. Zehnmal bin ich das durchgegangen. Was soll schon passieren? Der Förster ist beim Bingo Abend und ich hab schwarze Sachen an. Niemand wird es merken. Niemand darf es merken! Lass mich bloß die eine Stelle wiederfinden. Schweißperlen sammeln sich auf seiner Stirn. Im Schutz von Kiefern und Tannen stellt er seinen Wagen ab und geht zu Fuß weiter. Weit kann es nicht mehr sein. Ist nicht da vorne? Doch! Da ist das Gestrüpp. Hier läuft so schnell keiner durch. Er holt einen Klappspaten aus seiner Sporttasche und beginnt, sich wie ein Käfer in den Waldboden zu graben. Anton hatte an alles gedacht, außer an Herrn Zent.
Herr Zent traut seinen Augen kaum. Die Galle kocht ihm hoch, ihm wird kotzübel, schwindelig. Ein dumpfes Rauschen legt sich auf seine Ohren, einzig den hämmernden Pulsschlag seines Körpers kann er noch hören. Neben sich stehend, taumelnd, bemerkt er kaum, wie seine Hand am Boden einen Stein ertastet, ihn fest umgreift. Mit Tränen in den Augen sieht er das Hier und Heute vor dem Schleier der Vergangenheit – Eis essend im Park mit Frau und Sohn zu glücklichen Zeiten. Das Adrenalin verkocht den letzten Rest Alkohol in seinem Blut. Nur Zorn treibt ihn noch an. Blind vor Wut, sieht er plötzlich klar wie nie zuvor. „Sauhund, du dreckiger! Ich habs immer schon gewusst!“, brüllt Herr Zent; außer sich. Ferngesteuert. Von allen guten Geistern verlassen. Anton schießt der Schreck in den Nacken, er zuckt zusammen, springt panisch auf und kaum, dass er sich umdrehen kann, wird ein dumpfer Schlag zur letzten Erinnerung seines Lebens, als junger Erwachsener.
Herr Zent findet in Antons Sporttasche und der schwarzen Kiste kein blutiges Beweismittel, keinen inneren Frieden und auch keine Genugtuung, sondern fremdartige Pflanzen, Düngemittel und ein Apothekentest mit der Aufschrift „pH-Tester“. Was habe ich getan? Aber der muss es einfach gewesen sein – er muss! Kämpfend stellt er sich dem leisen Zweifel gegenüber, der an seinem Gewissen nagt: Der war das. Der war das von Anfang an. Der ist genau so ein gewissenloses Dreckschwein. Einer der meint, dass er sich alle Freiheiten nehmen kann. Mit Blut verschmierten Händen bricht Herr Zent über Antons leblosem Körper zusammen.
„Mein Junge, mein armer Junge, wie konnte ich dir das nur antun? Dein kleiner Körper, zerquetscht. Unschuldig! Achthundert Meter zu Tante Emmas Laden. Wie konnte ich dich nur alleine laufen lassen?“
Das Gewissen zwingt ihn in die Knie, ein Schluchzen, ein Beben holt ihn ein, während die längst bekannte Wahrheit schmerzhaft wie ein Blitz einschlägt: Mein Junge ist tot. Er wird nicht wiederkehren. Wie dieser Junge unter mir, ob er es war oder nicht. Regungslos verharrt er auf dem Boden, bis er nach dem Spaten greift und gräbt. Die Vögel zwitschern bereits, als er vom Boden ein paar Tannenzweige zusammenrafft, mit denen er das Grab verdeckt. Dann fährt Inno Zent nach Hause. Er legt seinen Namen und seine Kleidung ab und säuft sich besinnungslos. Jetzt ist alles egal, ist der letzte klare Gedanke, den er noch fassen kann.
Dass er verdächtigt wurde, ist nicht immer so gewesen:
Früher hatte es Anton Spaß bereitet, über die Dorffeste zu toben, sich mit seinen Freunden an Schießbuden zu messen oder Dosen zu werfen. Solange Siggy als Schreiner das Geld nach Hause brachte, waren die Steiners ein Teil der Gemeinschaft. Aber die Wirtschaft hatte sich verändert, war moderner geworden. Siggy war das nicht. Dass er seinen Arbeitsplatz verlor, erschien ihm, als habe man ihm sein Ansehen aufgekündigt, seine Zugehörigkeit. Das allabendliche Feierabendbier in Resis Schenke »Zum Blauen Hirsch« rückte schleichend in weite Ferne. Anstelle von frisch Gezapftem, trank er bald billigen Rotwein aus dem Tetra Pak. Allein, nicht unter Freunden. Und zum Frühstück, nicht mehr nur abends. Je älter Anton wurde, desto weniger Gefallen fand er an den Eskalationen seinen Vaters. Oder den jährlichen Dorffesten. Oder ihren Besuchern. Besonders in den Abendstunden. Lautes Gegröle weckte in ihm schmerzhafte Erinnerungen: versoffenes Haushaltsgeld, verpasste Schulausflüge; der brüllende Vater, die weinende Mutter; dröhnende Musik, schreiende Nachbarn, Blaulicht. Dinge, die er verdrängen wollte – vergeblich. Der schneidend schwulstige Gestank aus Schweiß, Bier und Wein brannte sich in den jungen Anton ein, wie der Schrecken solcher Augenblicke. Eine Mischung aus Furcht und Respekt hielt ihn in Atem, wenn sein Vater den Raum betrat. Doch als Elvira ihren Schlaganfall erlitt, durch den sie fortan an ihr Bett gebunden war, verschwand sein Vater durch die Haustüre, als sei nichts geschehen. Tage oder Wochen war er fort – Anton blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Dann kam Siggy zurück, torkelnd, hungrig, forderte ein Abendessen. Und in Anton machte sich Verachtung breit. Anton hasste Alkohol, wie er seinen Vater hasste.
Die Freunde, mit denen er aufwuchs, waren längst in die Großstadt getürmt, nach München oder Wien. Eines Tages würde er nachziehen, hatte er sich gesagt. Doch er wollte seine Mutter nicht im Stich lassen. Das könnte er sich nicht verzeihen. Baumfalkengrün - hier gehörte er hin. Dem einen Freund, der ihm geblieben war, ging er aus dem Weg. Außer der Angst vor dem Verlust seiner Mutter und der Vorstellung, dass es bald bloß noch ihn und seinen Vater geben würde, hatte er nichts mitzuteilen. Verbissen suchte Anton eine Antwort auf die Frage, wie er das schaffen sollte, wenn seine Mutter eines Tages starb und er, mit seinem Vater an der Seite, alle Formalitäten und Behördengänge würde meistern müssen. Im Alleingang. Glaube und Hoffnung waren in Antons Leben zu Schall und Rauch verkommen. Doch immerhin konnte Letzteres für etwas Beruhigung in seinem Leben sorgen. Wenn er seine Mutter abends gewaschen, ihr Medikamente verabreicht und eine Weile bei ihr am Bett gesessen hatte, fand er darin eine Zuflucht. Abends, allein in seinem Zimmer, wenn die Leere ihn einholte. Er brauchte diesen schmerzlich vermissten Halt, dieses wohlig warme Eingehüllt-Sein; Zu fühlen, wie sich Wolken aus Watte zwischen ihn und sein Leben schieben, bis der Schmerz der Realität in weite Ferne rückt. Ein kurzer Trip, ein Erholungsurlaub, ist besser als keiner, selbst wenn der Rausch vergeht. In diesem Punkt verstand er seinen Vater.
Seit drei Tagen teilt Gisela W. die Briefe in Antons Straße aus, ohne mit ihm einen Plausch gehalten zu haben. Als sie feststellt, dass der Inhalt des Briefkastens der Familie Steiner seit Montag nicht geleert worden war, klopft und klingelt sie an der Haustür. Sie hört ein Krachen, gefolgt von einem dumpfen Knall; eine menschliche Regung bleibt aus. Sie ruft die Polizei. Ein Einsatzfahrzeug und der medizinische Notdienst rücken an. Sie verschaffen sich Zugang zum Haus. Siggy Steiner wird volltrunken im Garten gefunden. Er liegt, kaum ansprechbar, auf dem Gartentisch – der allem Anschein nach - unter seinem Gewicht zusammengekracht ist. Er versteht nicht, was um ihn herum geschieht. Elvira Steiner wird in einem kläglichen Zustand in ihrem Bett aufgefunden. Auf dem Boden liegt ihr Telefon, die Batterien über den Boden verteilt. Ihre Kehle ist so trocken, dass ihr bei dem Versuch, ein Wort herauszubekommen, die Zunge am Gaumen klebenbleibt. Elviras Bett stinkt fürchterlich. Niemand kann sagen, wie lange sie schon in ihren Exkrementen liegt. Sanitäter verladen sie in einen Rettungswagen, sie wird in eine Klinik gebracht. Über eine Infusion erhält sie eine Nährlösung. Bevor ihr die Atemmaske aufgesetzt wird, bekommt sie ein Zitronenstäbchen auf die Zunge gelegt.
„Damit ihr Mund nicht so trocken bleibt, Sie sind ja ganz dehydriert. Das wird Ihnen helfen. Sie werden jetzt versorgt. Es wird alles gut.“
Die Lichter über ihr, die Hektik, die um sie herum geschieht, sie weiß es nicht einzuordnen. Es ängstigt sie. Was würde sie geben, um ihren Sohn bei sich zu haben. „Anton, mein Anton!“ Elviras letzte Worte klingen dünn, gebrochen, wie ihre Erscheinung. Eine Träne bahnt sich den Weg aus ihrem Augenwinkel über ihre Schläfe. Als sie fällt, entweicht das letzte Lebenszeichen aus Elviras Körper. Sich selbst, ihrer Bettlägerigkeit und ihrem Ehemann ausgeliefert – der nur die Beziehung zu seinem Alkohol pflegte – stirbt Elvira Steiner, vier Tage nachdem ihr einziges Kind verschwunden war, im Jahr 2018, im Alter von 68 Jahren, in Deutschland, in einer vollen Windel.
Donnerstag Mittag. Im »Blauen Hirsch« steht Reh auf der Karte, Resi macht sich auf zum Jäger. Marianne stellt ihren Besen beiseite und wackelt eilig über die Straße: „Resi! Wart gschwind.“
„Griaß di, Marianne. Guad, dass mia uns dreffa. I woite di no oruaffa. Mei, schrecklich is des, mit Steiners Elvira. I konn des gar ned glam.“
„Servus, Resi. Jo, i woaß. Grausam, wia des mid ihr zua Ende ging. Des wünscht ma keinem. Dass aa koana des gemerkt hod. Wie konn so was passiern? Do häd doch eppa helfn miassn. Und da Burschn? Is denn da Anton wiedea aufgetaat?“
„Marianne, hoid di fest, i woiß gar ned, wia i des song soi, Marianne. Schorschi hod wos eazählt. Die Baumberger Anna, sei Cousine, war dabei ois sie den im Woid gfundn hom.“
„Wia moanst du jetzt des – gfundn? Isser hinüber?“
Resi beugt sich vor. Sie flüstert: „Erschlagn. Tot is der. Laut Polizei seit letzta Woch Donnersdog.“
„Um Gotts Wuin. Was hod der aa im Woid valoan?“, Marianne verschränkt die Arme vor der Brust.
„So ein Cannabis, hat Schorschi gmeint. Irgend so was hod der dabei ghabt. Des wollt der da vasteckn oda eingrobn.“
„Des Deifelskraut. Ea hod‘s ned seilossn könna. Sag, Resi, wann soi des gwen sei? Letzte Woch Donnersdog? Aba do hod‘s doch den Wildunfoi gegem.“
Die Farbe in Resis Gesicht verblasst: „Hosd Recht, Donnersdog. Da sinds de Männa omds no do gsessen und hond über den Steiner gsprochen.“
Marianne greift nach Resis Arm, umschließt ihn fest mit beiden Händen. „Schau, Resi. Wos wuist machen? Mia basteln a Bleamegesteck und zindn a Keazn an. God werd des scho richdn. Sieh‘s oamoi so: Der Schreckn da herinnen hod endlich a End.“
Die Ermittlungen im Fall Anton Steiner laufen. Kommissar Obermaier hört sich in Resis Schenke um. Er möchte die genauen Hintergründe der Tat aufklären. „Da Junge is Donnersdog Omd in Woid gfahrn. Eppa mua ihn gseng oda vafolgt hom.“ Niemand der dort Anwesenden kann Kommissar Obermaier einen Hinweis geben. Zuckende Schultern, ratlose Gesichter. Keiner weiß was, keiner hat etwas gesehen. „Na guad, dann gseng mia moang weida, do is aa no a Dog. Habtsache is, do drinna kehrt wieda Ruah a. Resi, I mach Feiaomd. Bring ma moi a Bier!“