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Warten auf die vorletzte Bahn
Warten auf die vorletzte Bahn
Die Rolltreppe setzte sich summend in Bewegung und trug die Frau hinunter in den
U-Bahn-Schacht. Der glühende Hochsommertag war in einen stickigen Abend übergegangen. Es würde nicht abkühlen heute Nacht.
Die Frau stand unsicher, ihre hohen Absätze drohten zwischen die Stahlrillen der Rolltreppe zu geraten. Sie umschloss mit feuchter Hand den Gummibelag des Geländers und balancierte auf Zehenspitzen. Eine schwarze Aktenmappe hing wie Blei an ihrer freien Hand. Trost versprach der Gedanke, in einer halben Stunde aus dem eleganten Kostüm zu schlüpfen und die Schuhe abzustreifen. Nur drei Stationen mit der Strassenbahn, unterirdisch, quer durch die Stadt, die ihr hoffentlich ein wenig Abstand zu den Ereignissen des Tages bringen würden. Die Zehen schmerzten nach dem langen Abend und das Atmen stengte an.
Ich bin eben auch nicht mehr die Jüngste, dachte die Frau, doch es hat sich ja gelohnt. Ihre Agentur würde den Auftrag für die Werbekampagne des neuen Kleinwagens bekommen; dafür konnte man ruhig mal ein paar gequetschte Zehen in Kauf nehmen.
Ein scharfer Luftzug traf die Frau von der Seite. Sie erschrak heftig. Eine große Taube segelte an ihr vorbei in den Schacht, beschrieb eine scharfe Rechtskurve über die Rolltreppe hinweg und streifte dabei fast ihren Kopf. Die Frau geriet ins Wanken, umklammerte das Geländer und rutschte mit einem Fuß von der Stufe ab. Wie von sanften Wellen getragen, landete eine weiße Feder auf ihrem Schuh. Im Nacken der Frau erblühte ein Schweißfilm. Sie straffte die Muskeln und stolperte ungelenk von der flachen Stufe auf den Marmorboden der U-Bahn-Station. Zwei Meter entfernt trippelte die Taube geschäftig pickend hin und her.
Niemand war hier. Leuchtziffern über dem Bahnsteig zeigten an, dass die vorletzte Bahn in knapp vier Minuten kommen würde. Es war kurz vor Mitternacht. Die Frau atmete ein, doch die Luft blieb hinter dem Brustbein stecken. Sie stellte ihre Aktenmappe neben sich, zog die Kostümjacke zurecht und überprüfte mit geübten Griffen den Sitz ihrer Frisur. Eine blondgraue Strähne hatte sich aus der Schildpattspange gelöst und war auf ihre Schulter gefallen. Die Frau steckte sie geschickt fest, nahm die Tasche auf und steuerte auf die Bank unter der Leuchtanzeige zu. Sie erschrak über das Klappern ihrer Absätze, das wie höhnisches Lachen von den gekachelten Wänden widerhallte. Die Taube flog auf und segelte hinunter auf die Gleise. Das Herz der Frau schlug schneller, klopfte hart gegen die Brust, als sie sich auf die Bank fallen ließ.
Machte sie sich etwa ernsthaft Sorgen um eine Taube? Aus dem Tunnel auf der anderen Seite drang das anschwellende Dröhnen einer herannahenden Straßenbahn. Die Frau drehte sich um. Die einfahrende Bahn brachte einen Schwall modrig riechender Luft mit.
Niemand stieg aus, die roten Sitze waren leer.
Die Frau wandte den Kopf und beugte sich vor, um den Fahrer zu sehen. Gelänge ihr das, würde alles weniger geisterhaft wirken. Doch in diesem Moment fuhr die Bahn wieder an und wurde gleich darauf von der Schwärze des Tunnels verschluckt. Ein leichter Geruch nach Schmieröl hing im Schacht, als die letzten Fahrgeräusche verstummten.
Die Frau fröstelte, ihre Zehen fühlten sich kalt an. Im Neonlicht wirkten ihre Hände alt. Sie betrachtete das Netz feiner Linien, das Gott sei Dank bei Tageslicht noch nicht zu erkennen war.
Noch drei Minuten. Sie war hungrig. Obwohl das Büfett reichlich gewesen war, hatte sie nichts essen können. So war es immer bei Verhandlungen. Zwei Gläser Champagner, hastig hinuntergestürzt, verursachten Magendrücken. Die Frau seufzte. Ich sollte wirklich ein bisschen kürzer treten, überlegte sie, jetzt wäre es sogar möglich. Dieser Auftrag war wirklich ein ganz dicker Fisch. Von Müdigkeit übermannt, schloss sie für einen Moment die Augen.
Plötzlich war der Mann da.
Sie nahm zuerst seinen Geruch wahr. Ein herbfruchtiger Duft. Die Frau riss erstaunt die Augen auf. Sie hatte keine Schritte gehört. Woher kam er so unvermittelt? Einfach aus dem Nichts. Er muss in der Bahn gewesen sein, sie hatte nur nicht gemerkt, dass doch jemand ausgestiegen war. Das ergäbe allerdings keinen Sinn. Warum sollte er jetzt wieder in die Richtung fahren, aus der er gerade kam? Oder ruhte er sich nur ein wenig aus? Auch das erschien ihr unwahrscheinlich, denn warum sollte sich jemand um Mitternacht in einem U-Bahn-Schacht ausruhen? Ihre Gedanken überschlugen sich, während in ihrem Nacken ein neuer Schweißfilm antrocknete. Die Frau rieb die steifen Finger aneinander. Sie fror. Vor Übermüdung sicherlich. In dieser dumpfen Abgestandenheit fror sie tatsächlich.
Der Mann schaute sie nicht an.
Er saß zurückgelehnt, mit übergeschlagenen Beinen, am anderen Ende der Bank und blickte auf das Gleis. Aus den Augenwinkeln sah die Frau, dass er eine Leinenhose trug, dazu ein kurzärmeliges weißes Hemd. Seine nackten Füße steckten in Lederslippern. Aha, dachte die Frau, er kam auf leisen Sohlen.
In sein welliges blondes Haar hatte er eine blaugetönte Sonnenbrille geschoben. Ein attraktiver Mann, nicht mehr ganz jung, um die vierzig, schätzte die Frau. Er hatte nichts bei sich, keine Tasche, keine Zeitschrift, nichts. Ihr Herz wollte wieder die Rippen sprengen. Wie dumm ich bin, schalt sie sich, wieso möchte ich, dass er eine Tasche bei sich hat? Oder wenigstens eine Zeitung. Sicher war er mit guten Freunden unterwegs gewesen, hatte ein paar Bierchen getrunken, oder…
Ein Stöhnen unterbrach ihre Gedanken.
Es klang zunächst wie ein Seufzer, vor Müdigkeit vielleicht, doch gleich darauf vibrierte ein kehliger Ton zwischen den Schachtwänden.
Die Frau erstarrte. Ungläubig sah sie zu dem Mann hin, zog zugleich die Schultern zusammen und verschlang die Hände ineinander. Die Knöchel traten weiß hervor.
Der Mann hatte seine Position nicht verändert, er saß noch immer angelehnt und sah auf das Gleis, noch immer trippelte die Taube pickend zwischen den Schwellen umher.
Die Frau versuchte, ihr Herzrasen durch regelmäßiges Atmen zu regulieren.
Es war wieder still.
Sie musste sich verhört haben. Die Müdigkeit hatte ihre Sinne vernebelt, ihr etwas vorgespielt. Der Mann wirkte nicht krank, oder so, als habe er Schmerzen, nein, er saß doch ganz entspannt da. Und wenn jemand anderes gestöhnt hätte, wäre er doch sicher aufmerksam geworden. Die Frau sah sich verstohlen um; niemand sonst war hier. Nein, sein Verhalten bedeutete, dass da gar nichts war, überhaupt nichts. Sie machte sich nun wirklich lächerlich, mit ihrem Kloß im Hals und dem hämmernden Herzen. Er sah doch nett und gepflegt aus, seine Haut war sonnengebräunt, das konnte sie selbst im Neonlicht erkennen. Weshalb also sollte er stöhnen? Noch zwei Minuten, dann kam ja auch die Bahn.
Der Mann bewegte sich.
Langsam stellte er seine Beine parallel zueinander und ließ die Oberschenkel weit auseinander fallen. Er rutschte ein Stückchen tiefer, sein Kopf lag nun zurückgebeugt auf der Rückenlehne der Bank.
Er ist auch müde, dachte die Frau und fühlte sich sofort entspannter. Sie nahm ihre Aktenmappe auf den Schoß und legte beide Hände auf das kühle Leder. Was sprach eigentlich dagegen, mit dem Mann ein paar belanglose Worte zu wechseln? Es konnte doch sein, dass er sie nicht ansprach, weil er keinen falschen Eindruck erwecken wollte. So gesehen, war das Ganze wirklich paradox. Mit ihm zu plaudern würde Erleichterung bedeuten, es würde sie entkrampfen und wärmen, weil es diese unterirdische Katakombe in einen wirklichen Ort verwandeln könnte. Ja, sie wollte sogar der Versuchung nachgeben, ihm von ihrem Erfolg zu erzählen; plötzlich war sie der Überzeugung, dass sie mit diesem Mann lachen und reden könnte, gut sogar. Sie würde sich vorstellen, ihren Namen nennen, und er? Sah er nicht nach Harald aus? Sie kannte mal einen ähnlichen Typen, der Harald hieß. Lächelnd hob die Frau den Kopf.
Im gleichen Moment griff sich der Mann in den Schritt.
Seine Hand schloss sich um sein Geschlecht, er stöhnte auf und begann mit kraftvoll pumpenden Bewegungen seine Genitalien zu bearbeiten. Dabei starrte er weiter auf das Gleis, und die Frau sah, dass er grinste, als die Taube erschreckt davonflog.
Aus seinem Mund drangen wilde, obszöne Töne, schmerzvoll und gequält. Tierische Töne, dachte die Frau, wie ein verwundetes Tier.
Sie umklammerte ihre Tasche, konnte den Blick nicht von dem Mann abwenden. Sie musste hinsehen, paralysiert vor Schreck, während ein Teil ihres Gehirns sich fortwährend fragte, ob das gerade wirklich geschah.
Schluchzende Laute entrangen sich seiner Kehle, sein Unterleib bäumte sich auf und sank auf die Bank zurück, während seine Hand unaufhörlich zwischen seinen Beinen pumpte.
Die Frau bemerkte Speicheltröpfchen, die in seinem Mundwinkel Blasen bildeten. Plötzlich hob der Mann die andere Hand zum Mund und begann, an seinem Zeigefinger zu saugen. Schmatzend und stöhnend schob er den Finger in seinem Mund hin und her, der Speichel rann wie ein Bach an seinem Kinn hinunter und er grinste, grinste unaufhörlich. Und sah sie nicht an.
Doch sie starrte ihn unverwandt an,obwohl sie dachte: Tu das nicht, guck einfach weg.
Es ging nicht.
Vor ihren Augen wurde sein Gesicht zu einer bizarren Grimasse, einer ekstatischen Fratze, und die Zuckungen seines Körpers ließen sie an Besessenheit denken. Vielleicht war es gut, dass er sie nicht ansah. Vielleicht hatte das alles gar nichts mit ihr zu tun. Vielleicht war er einfach ein kranker Mensch. Vielleicht auch nicht.
Noch eine Minute. Egal. Sie musste hier weg. Jetzt. Sofort. Ihre Beine zitterten unkontrolliert, als sie versuchte, die Füße auf den Boden zu stellen. Stechender Schmerz fuhr durch alle Zehen.
Ihre Wirbelsäule war eine weiche Masse, als die Frau sich von der Bank erheben wollte. Salzige Tränen sammelten sich in ihrer Kehle. Die Tasche fiel zu Boden und sie wartete wie gelähmt auf eine Reaktion des Mannes.
Aus der Tiefe des Tunnels drang entferntes Grollen an ihr Ohr.
Der Mann hielt inne und richtete sich auf. Übergangslos, geschmeidig. Er setzte sich gerade hin und schlug die Beine wieder übereinander. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund und drehte langsam den Kopf in ihre Richtung.
Lächelte sie an.
Er steckte den Finger erneut in den Mund, sah ihr unverwandt ins Gesicht und rutschte dicht an sie heran. Noch reichte die Zeit.
Die Frau war müde, unendlich müde. Sie fühlte keinen Widerstand, ihr Körper zerfloss, sie sehnte sich nach Schlaf und schloss leise wimmernd die Augen.
Fast zärtlich zeichnete der Mann mit seinem nassen Finger die Konturen ihrer Lippen nach, sie roch den säuerlichen Speichel. Er fuhr sanft an ihrem Hals hinunter bis zum Schlüsselbein. Dort hielt er kurz inne, hob blitzschnell die Hand und schlug ihr kurz und hart ins Gesicht.
Ihr Kopf flog nach hinten und das anschwellende Donnern der nahenden Bahn erstickte ihren überraschten Schrei.
Die Bahn fuhr ein und hielt mit zischenden Bremsen fast vor ihrer Bank. Der Fahrer nickte ihr zu. Betäubt erwiderte sie sein Lächeln.
Der Mann war verschwunden.
Wankend griff die Frau nach der Aktenmappe, kämpfte gegen die aufkommende Übelkeit und stieg mit zitternden Knien ein.
Sie war der einzige Fahrgast. Die Frau setzte sich ans Fenster und ließ den Kopf gegen die Scheibe sinken. Mit steifen Fingern suchte sie nach einem Taschentuch und rieb immer wieder über ihre Lippen. Als die Bahn anfuhr, zog der menschenleere Schacht an ihr vorbei, doch kurz bevor sie in den Tunnel einbogen, sah sie den Mann neben einem Getränkeautomaten stehen.
Sie war nicht überrascht.
Lässig angelehnt, die Füße über Kreuz, warf er ihr lächelnd eine Kusshand zu. Sein spöttischer Blick brannte in ihrem Rücken, bis die Bahn im Tunnel verschwand.
Das gleichförmige Rattern unter ihren Füßen löste den Tränenstrom in ihrer Kehle. Endlich konnte die Frau weinen. Es fühlte sich an, als könne sie nie mehr damit aufhören. Sie betastete immer wieder ihre schmerzende Wange, drückte sie gegen die schmierige Scheibe und hoffte, dass die Helligkeit des kommenden Tages, die Sonne, die flirrend durch die Blätter schien, die eisessenden Menschen, die spielenden Kinder im Freibad, die lachenden Kollegen in der Agentur alles ungeschehen machen würden. Vielleicht käme es ihr morgen früh wie ein schlechter Traum vor, der sich im Laufe des Tages auflösen würde, wie Nebelschwaden.
Schließlich war ihr doch nichts passiert.