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Warten auf Mitternacht
Mit dem schweren Rucksack auf den Schultern fällt es mir immer schwerer, in der Spur zu bleiben, die Andi vor mir im frischen Tiefschnee zieht. Ja nicht abweichen oder stolpern und knietief versinken. Kalter Wind zerrt an meinen Haaren, vom Stirnband nur schlecht geschützt. Immer weiter, bevor die Sonne zu tief sinkt ...
Die Tour, immer bergan, ist anstrengend und die Schneeschuhe brechen wieder und wieder ein. Wir steigen höher. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt, Gespräche bleiben aus. Ich habe noch Glück, die Zelte tragen Hannes und Andi. Dennoch schwitze ich in meinen dicken Wintersachen von der körperlichen Anstrengung. Trotz der beißenden Kälte sind Hände und Füße warm durch die Bewegung.
Hannes blickt sich um „Bald simma oben. Suchma uns dann an gscheiten Platz. Aber Vorsicht, hat Lawinenwarnungen gegeben in den letzten Tagen, da heroben ... “ Als ich ihn ansehe, sein erhitztes und von der Kälte gerötetes Gesicht, die verschwitzten Haarsträhnen, den hellen Bart mit feinen Eiskristallen, muss ich lachen. Möchte nicht wissen, wie ich aussehe!
Die Sonne wirft ihre letzten Strahlen an den Hang gegenüber, taucht die weiße Landschaft in warme Pastelltöne. Auf unserem Hang hingegen schon eisigkaltes Blau, und es wird fühlbar kälter.
Andi blickt auf seine multifunktionale Uhr. „Minus dreizehn Grad“, verkündet er mit rauer Stimme, „gut zweitausend Meter“.
Als wir die letzte Steigung genommen haben, am Grat stehen: ein überwältigender Blick auf die Welt unter uns, den roten Sonnenuntergang, das gesamte verschneite Tal .
Wir müssen uns beeilen. Niemand hat Lust, im Dunkeln die Zelte aufschlagen. Matthias und Hannes fangen an, für die Zelte eine Grube auszuheben, Andi und ich treten mit den Schneeschuhen so gut es geht den lockeren Pulverschnee fest. Mit den kleinen Lawinenschaufeln geht es viel zu langsam ... schnell wird es immer finsterer, meine Zehen kann ich schon länger nicht mehr bewegen ...
Endlich können wir im letzten Licht beginnen, die Planen aufzulegen und die beiden Zelte aufzustellen. Kurz ziehe ich meine dicken Fäustlinge aus, anders bekomme ich die Stangen nicht zusammen. Die Finger frieren mir in Sekundenschnelle, ich kann sie kaum noch bewegen, steif, brennende Schmerzen. Die Füße spüre ich nicht mehr.
Matthias jammert auch schon grausig, mit dem kleinen Taschenwärmer in den Händen. Die Abspannseile noch festmachen ...
Endlich fertig! Eine gute Stelle haben wir uns ausgesucht, knapp unter dem Grat, windgeschützt. Trotzdem müssen wir unsere Rucksäcke und Skier erst unter einer durch die leichten Verwehungen entstandenen dünnen Schneeschicht ausgraben.
Hannes lässt mich zuerst ins Zelt, reicht mir Schlafsäcke und Thermo-Matten nach innen und ich beginne damit, alles, so gut es in der Enge möglich ist, aufzubauen und zu verstauen.
Endlich die harten, kalten Schuhe ausziehen können, zwei weitere Paar Wollsocken hervorsuchen!
Währenddessen versuchen Andi und Hannes mit ihrem alten Benzinkocher Schnee zu schmelzen, eine mühselige Aufgabe, aber Hunger haben wir nach dem Aufstieg alle. Unendlich lange dauert es, bis wir zu viert über den kleinen Topf mit Gulaschsuppe aus der Dose herfallen können, ein paar Scheiben Brot dazu, viel Schokolade danach. Endlich etwas Heißes im Magen.
Eine halbe Stunde später sitzen wir zusammen, es ist eng, aber das stört keinen von uns, alle brauchen wir die Wärme. Andi holt vier Bierflaschen aus seinem Rucksack. „Spinnst?!“ „Jetzt hab ich se raufgeschleppt, jetzt will ich se auch trinken!“ Als er die erste Flasche öffnet, steigt der Schaum nach oben, gefriert sofort, bleibt im Flaschenhals stecken wie frische Schlagsahne ...
Im trüben Schein der kleinen Laterne erwärmen sich bei Gesprächen langsam meine Füße wieder. Schmerzen beim Auftauen. Der vorher noch kochend heiße Tee macht die Runde in Thermoskannen, lauwarm, eine Wohltat. Müde werde ich, kuschle mich in die Arme von Hannes, der neben mir sitzt, die Augen fallen mir zu ...
Stunden vergehen. „Hey, Leute, es ist fast dreiviertel zwölf!“
Raus aus der Gemütlichkeit!! Rein in eisige, steifgefrorene Schuhe, die sich selbst mit roher Gewalt nur schlecht schnüren lassen. Die Füße tauen das vereiste Material schnell ab mit meiner kostbaren, hart erkämpften Körperwärme ... Parka drüber, Mütze, Fäustlinge ... eigentlich eine Qual, jetzt, nur mit ein paar LED-Lampen.
Andi kommt aus seinem Zelt, eine Flasche Sekt in den Händen. „Was zum Anstoßen“, meint er und lächelt, obwohl ihm, mit seiner schlechten Ausrüstung, sicher am kältesten ist von uns allen ...
Wir stapfen zum Grat hinauf, nur wenige Meter, schweigend. Ich blicke mich um, sehe die kalten, toten Formen, die bizarren Muster, Wechten, Überhänge und Senken, die Wetter und Wind die letzten Tage hindurch geschaffen haben, vom Mond schwach und geheimnisvoll angestrahlt.
Oben herrscht ein eisiger Wind, treibt mir Tränen in die Augen, die sofort an den Wimpern festfrieren.
Matthias und Hannes hantieren noch mit Söhnlein brillant, als im Tal tief unter uns die ersten Raketen empor steigen. Von hier oben aus, dem klaren Himmel so nahe, sehen wir nur bunte Pünktchen, rot, blau, grün - erst noch vereinzelt, dann immer mehr.
Ich drehe mich zu den anderen. Bewegungslos, die Kälte vergessend, stehen wir, und sehen, wie unter uns ein neues Jahr beginnt.
Hier steht die Zeit still.
Hannes nimmt mich in die Arme. „Ein wunderschönes neues Jahr“, flüstert er mir ins Ohr.