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Warteschleife der Vorhölle
Ich habe die Geschichte überarbeitet!
hier findet Ihr die neue Version
Warteschleife der Vorhölle
Ich habe es mir reiflich überlegt. Sowohl das Ob als auch das Wie. Und das Wann. Selbst das ist bis ins Detail geplant. Ich werde es heute tun, weil mich niemand aufhalten kann.
Eigentlich ist genau das auch der Grund, warum ich es tu. Es ist Heilig Abend und es ist niemand da, der mich aufhält. Warum also sollte ich es nicht tun?
Atmen. Das wird mir wohl am meisten fehlen. In einem völlig kindischen Impuls hole ich deshalb noch einmal tief Luft und mache den letzten Schritt.
Ich war mir unsicher, ob es wahr ist, was man liest: Dass man den Aufprall nicht spürt. Deshalb habe ich eine Brücke über eine Flussaue gewählt. Hoch, aber ein recht weicher Untergrund. Gerade hart genug. Ich springe nicht in den Fluss. So dumm bin ich nicht. Denn erstens kann ich schwimmen und zweitens gibt es böse Unfälle bei solchen Sachen. Hinterher ist man nur bewusstlos und ertrinkt, oder so. Das könnte ich nicht ertragen. Von solchen Fällen habe ich gelesen. Gelitten habe ich genug. Das muss jetzt ein Ende haben.
Deshalb bewege ich mich jetzt erstaunlich langsam senkrecht auf eine halbgefrorene Wiese zu. Mein Körper wird es äußerlich recht heil überstehen, vermute ich. Es wird kein so grausiger Anblick. Ich wollte wirklich nicht vom Pflaster gekratzt werden. Obwohl ich eine Weile lang daran gedacht habe, mich so an ihr zu rächen. Verwandte habe ich hier nicht, also hätte man wohl sie gebeten, mich zu identifizieren. Verdient hätte sie es, aber dann habe ich doch davon abgesehen. Soll sie lieber ewig bereuen, dass sie mich verlassen hat, als zu bereuen, dass sie mich noch einmal gesehen hat.
Sie hat gesagt, sie wolle nicht mehr warten. Dass ihr alles zu langsam ginge und dass sie das Gefühl hätte, irgendwo abgestellt und vergessen worden zu sein. Und angeblich bin ich daran schuld. Ich habe Frauen nie verstanden und habe es aufgegeben.
Als sie mir eröffnet hat, dass sie geht, hat sie ihr schönstes Kleid getragen und umwerfend darin ausgesehen. Ich habe gehört, Frauen machen das mit Absicht. Also werde ich es ihr gleichtun.
Tower an Erde, ich komme. Im Grunde freue ich mich auf die Zeit nach dem Aufschlag. Genaue Vorstellungen davon, wie es sein wird, habe ich nicht. Aber das Leben danach existiert in irgendeiner Form. Also werde ich mich überraschen lassen. Nachdem hier alles schief geht, sollte dann endlich einiges besser laufen. Ich habe es verdient.
In den letzten drei Wochen habe ich versucht, herauszufinden, was eigentlich geschehen ist. Ob das Ganze vielleicht tatsächlich meine Schuld ist, wie sie gesagt hat, oder ob sie das nur vorgeschoben hat. Zu einem Ergebnis bin ich nicht gekommen. Also ist es wahrscheinlich doch allein ihre Schuld. Sonst hätte ich schließlich was merken müssen.
Der Boden ist jetzt schon ganz nah. Ich breite die Arme weit aus, so als wollte ich die ganze Welt umarmen, und auf meinem Gesicht machen sich ironische Züge breit. Na sicher, das wär' genau mein Ding.
Ich kann nicht genau sagen, ob ich den Aufprall gespürt habe, ich meine: körperlich gespürt. Wenn überhaupt, dann fühlte es sich an, als wenn man in einem Aufzug steht und leise Jazzmusik von der Decke rieselt und mit einem Mal öffnet sich die Tür und man steht in der Empfangshalle eines sehr hektischen Flughafens. Der Lärm war unerwartet und ohrenbetäubend.
Zu meinem Glück schloss sich die Tür schon einen Moment später wieder und der Aufzug federte noch ein Stockwerk tiefer. Dort öffnete sich die Kabine in die Dunkelheit und Kälte kroch hinein.
Ich trat einen Schritt vor. "Hallo?", hörte ich mich in das Leben danach hineinfragen. "Wer ist denn hier?" Ein weit entferntes Echo in der Dunkelheit deutete an, dass jedenfalls eine Menge Platz vorhanden war. Nur sehen konnte ich nichts.
Als ich mich umdrehte, hatte sich der Fahrstuhl in Luft aufgelöst, falls es ihn denn je gegeben hatte und mit einem Mal fühlte ich mich sehr einsam. Es ist erstaunlich, wie unvorbereitet man sich in Situationen begibt, die man eigentlich genau geplant hatte.
Wenn man genau hinhört, dudelt immer noch irgendwo die Fahrstuhlmusik vor sich hin. Allerdings scheint der Sound von überall zu kommen. Vielleicht habe ich den Fahrstuhl nie verlassen? Welchen Fahrstuhl eigentlich? Ich bin von einer Brücke gesprungen.
Mir kommt es immer mehr so vor, als befände ich mich schon seit Stunden in dieser Wartehalle, oder was auch immer das ist, aber mir scheint mittlerweile jegliches Zeitgefühl zu fehlen. Nur das Gedudel beweist, dass überhaupt Zeit vergeht. Auch, wenn es sich in fortlaufenden Schleifen zu wiederholen scheint.
Langsam fange ich an, mir Gedanken über diesen Zustand zu machen. Das hier kann es jetzt ja wohl nicht gewesen sein, oder? Ich meine: Irgendwas sollte doch noch kommen, oder? Ich fühle mich, als wäre ich im Kino eingeschlafen und wieder aufgewacht, als alle schon nach Hause gegangen sind. Aber ich bin doch gesprungen, oder hab ich das nur geträumt? Bestimmt nicht und im Kino war ich seit Monaten nicht.
"Jenseits-Service-Center, guten Tag!" Ich zucke so heftig zusammen, dass ich mir den Kopf gestoßen hätte, wenn ich gewusst hätte, woran. Die Stimme kommt aus dem Nichts, aber irgendwie macht es mir vor allem Angst, dass sie überhaupt so plötzlich da ist. Wo auch immer ich bin.
"Ich bin die Empfangschefin Elisabeth, was kann ich für sie tun?" "Ich, äh...", mir fehlen die Worte. Service Center? Was sagt man denn da bloß?
"Ich würde mich gern zuerst über ihr Angebot informieren", nehme ich geschickt den schnellsten Ausweg. Sie wird mir schon erzählen, was ich wissen muss. Wissen muss wofür?
"Ich bin dafür zuständig, den richtigen Ansprechpartner für Sie auszuwählen. Dieser wird Sie dann zu ihrem Platz navigieren." Aha, jetzt weiß ich immer noch nicht mehr.
"Welche Plätze sind denn noch frei?" Ich komme mir leicht unbeholfen vor, aber mir fällt nichts besseres ein.
"An Platz mangelt es nicht, wir müssen nur erst ermitteln, welcher Ihnen zusteht. Aber ich merke schon, Sie sind zum ersten Mal hier." Sie macht eine kurze Pause, dann kichert sie ein wenig albern. "Entschuldigen Sie! Das ist Jenseits-Humor, daran sind Sie vermutlich nicht gewöhnt."
Ich kann nichts, aber auch gar nichts Komisches daran finden. Und eigentlich bin ich sehr humorvoller Mensch. Muss es vielleicht heißen: war ich? Na, wie auch immer. Nach einem weiteren Moment scheint sie sich wieder zusammengerissen zu haben. "Es ist seltsam, wie viele Menschen hier erscheinen, ohne konkrete Vorstellungen vom Jenseits zu haben. Man sollte erwarten, dass sie es wichtiger nehmen würden. Immerhin müssen sie mit dieser Entscheidung bis in alle Ewigkeit leben." Ein weiteres kurzes Kichern folgt diesem Satz. "Auch das: Ein Insider, Entschuldigung. Ich würde vorschlagen, ich verbinde Sie mal mit einem Kollegen."
Ich höre ein Klicken, dann wieder die Musik. Schleife um Schleife. Allerdings ertönt jetzt in regelmäßigen Abständen eine Ansage über die Musik: "Bitte warten Sie! Hold the line, please!" Dann wieder Musik. Dann: "Leider befinden sich gerade alle Mitarbeiter im Servicegespräch. Wir bemühen uns weiter, Sie umgehend mit dem nächsten freien Ansprechpartner zu verbinden."
Sag mal, das ist doch jetzt nicht wahr, oder? Ich bin eben von einer Brücke gesprungen. Ich habe Schluss gemacht. Habe mich umgebracht. Habe mir das Leben genommen. Und was passiert? Ich hänge in einer Warteschleife! Ich habe das Gefühl, irgendwo auf dem Weg nach unten eine falsche Abzweigung erwischt zu haben. Auch wenn das eigentlich nicht möglich sein dürfte.
Urplötzlich klickt es wieder und die Musik verstummt. "Jonas, Abteilung Klassifizierung, guten Abend!" - "Äh, guten Abend." Er hat mich auf dem falschen Fuß erwischt. "Was kann ich für Sie tun?", fragt er höflich. Für mich tun. Ne Menge. "Geben Sie mir bitte einen schönen Platz. Gern am Fenster. Und dann ist gut." Jahrelange Flugreisen. Da sollte man doch in der Lage sein, einen guten Platz zu ergattern. Ich habe zwar noch nicht durchschaut, worum es hier eigentlich geht, aber ich werde mich einfach irgendwo hinsetzen und abwarten. Das klärt sich schon alles auf. Und sollte es alles nur ein böser Traum sein, dann schlafe ich wenigstens ruhig, sobald ich irgendwo sitze.
"Oh, das haben Sie wohl falsch verstanden. Wir verteilen nicht einfach Plätze, ich dachte, das hätte man Ihnen gesagt. Wir müssen erst einmal herausfinden, wie wir Sie einstufen." Aha. Ich verstehe. Nein, eigentlich natürlich nicht. Aber das ändert wohl auch nichts.
Von meinem Dilemma und Unverständnis völlig unbeeindruckt fährt er fort: "Wir müssen gemeinsam einen Fragebogen durchgehen. Dann können wir Ihnen weiterhelfen. Also, zuerst nennen Sie mir bitte den Grund, aus dem Sie hier sind." Mir entschlüpft ein Ton, der nur Unverständnis ausdrücken kann. Es ist so etwas wie ein langgezogenes Häää. "Was hat Sie hergebracht? Welches Ereignis führte zu Ihrem Tod?"
Ich zucke wieder zusammen. Diesmal fühlt es sich beinahe wie Schmerz an. Es hört sich so grausam an, zu hören dass man tot ist. Ich will das nicht hören. Ja, gut, ich habe mich umgebracht, vorsätzlich, aber "Tod" klingt so endgültig. Ich brauche ein paar gestammelte Sätze um diesen doch etwas konfusen Inhalt zu transportieren. Aber schließlich versteht er mich. So in etwa.
"Sie wollen also sagen, Sie haben den Freitod gewählt?" "Ja", bestätige ich, immer noch mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend, oder jedenfalls da, wo die einmal war.
"Oh, Entschuldigung, dann bin ich gar nicht für Sie zuständig. Einen Moment bitte, ich verbinde!"
Wieder muss ich mich fürchterlich lange mit der Wartemusik beschallen lassen, bevor sich jemand einklinkt. Es folgt wieder die Begrüßungszeremonie in vertrauten Mustern. "Was kann ich für Sie tun?"
"Sie können mir sagen, wie ich hier rauskomme!", fordere ich mit aller Energie, die ich hineinlegen kann. Ich hab diese ganze Schose satt.
"Hier raus? Ich verstehe nicht ganz. In Ihrem Aufnahmebogen steht, dass Sie freiwillig hergekommen sind. In diesen Fällen hören wir selten die Bitte, jemanden herauszuholen."
"Na, aber ich bitte nun mal!" Ich kann mir zwar keinen rechten Reim auf das machen, was er da erzählt, aber ich würde lieber noch mal hier raus und alles überdenken. Und vor allem kann ich diese Musik jetzt schon nicht mehr hören.
"Sollten Sie wirklich an diesem Wunsch festhalten, bin ich nicht für Sie zuständig. Einen Moment bitte, ich verbinde!" "Nein", will ich schreien, aber es ist schon zu spät. Statt der Stimme nervt mich nun wieder die Musik. Wohlgemerkt: Unterbrochen von Ansagen, die mein Nervenkostüm weiter belasten.
Habe ich eigentlich noch Nerven? Wie ist das hier so? Ich versuche, an mir selbst herunterzusehen um herauszufinden, in welchem Zustand sich mein Körper befindet, aber es ist sogar dafür zu dunkel. Mir gelingt es nicht einmal, mit Sicherheit festzustellen, welche Richtung unten ist.
In einem neuen Anlauf bemühe ich mich, mit den Armen um mich zu schlagen, bis ich mich selbst treffe. Aber weder kann ich spüren, meinen eigenen Körper zu erwischen, noch kann ich feststellen, ob ich überhaupt Arme habe, oder so. Ich scheine beinahe körperlos zu sein.
Müsste ich aufgrund dessen jetzt in Panik geraten? Zu diesem Zeitpunkt bin ich mir nicht einmal darüber im Klaren. Aber bevor ich weiterdenken kann, klickt es wieder in der Leitung und die Schleife verstummt.
"Michael, Abteilung Klassifizierung, ja bitte?"
Ich bin in Versuchung, äußerst laut zu schreien. Stattdessen reiße ich mich zusammen. "Ich habe einen kleinen Disput mit Ihren Kollegen. Und..." "Ja", unterbricht er mich, "darüber bin ich informiert. Ich soll mit Ihnen den Bogen durchgehen und dann sehen wir weiter." Ich grunze in den Bart, den ich auch zu Lebzeiten nicht hatte und ergebe mich in mein Schicksal.
"Also noch einmal: Welches Ereignis führte zu Ihrem Tod?" "Meine Exfreundin. Also die Tatsache, dass die Freundin zur Ex wurde." Ich finde diese Antwort witzig. Er nicht. Trocken fordert er mich noch einmal auf, die Frage zu beantworten.
"Ich bin von einer Brücke gesprungen."
"Freiwillig?" - "Klar, wie soll man schon unfreiwillig springen."
"Ach", entgegnet er, während ich so was wie Bleistiftkratzen höre, "Sie wären erstaunt, was wir hier alles erleben." Es folgt wieder ein irritierendes Kichern, wie ich es heute schon ein paar Mal gehört habe. Was immer daran jetzt lustig war.
"Dann fülle ich also hier aus: Freitod, Brückensturz. Gut. Damit hat sich dann Frage 2 von allein beantwortet: Anwesenheit im Jenseits: ebenfalls freiwillig."
"Nein", fahre ich ihm dazwischen. Freiwillig bin ich nicht hier. Ich will ja weg."
"Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe nicht die Möglichkeit, das hier einzutragen. Das Formular gibt diese Option bei Freitod nicht vor." Gleich platze ich. Falls das möglich ist. ‚Das Formular gibt die Option nicht vor.' Wo sind wir denn hier?
Gute Frage eigentlich. Wo bin ich hier? Und wo ist der Typ am Telefon? Wer ist das und überhaupt? Nein, konzentrier Dich, fahre ich mich selbst an. Nicht abschweifen.
"Das können Sie aber nicht anders eintragen. Das wäre gegen meinen Willen."
Er seufzt vernehmlich. "Gut, dann trage ich vorläufig ein: Anwesenheit: ungeklärter Grund. Wir müssen dann aber auf diese Frage später noch einmal zurückkommen. Jetzt werden wir erst mal sehen, dass wir die anderen Fragen erledigen. Dafür ist ein Kollege zuständig. Einen Moment bitte, ich verbinde!"
Diesmal versuche ich erst gar nicht mehr, zu protestieren. Es hätte ja sowieso keinen Effekt. Zu gerne würde ich die Musik ignorieren. Einfach nicht hinhören, aber das scheint technisch nicht machbar zu sein. Ich würde Finger brauchen, die ich offenbar nicht habe, um mir Ohren zuzuhalten, die ich ebenfalls nicht zu besitzen scheine. Also ertrage ich und lasse mich von den Klängen überspülen. Die reinste Folter, wenn man mich fragt. Aber das fragt mich ja keiner. Das nicht.
"Guten Abend, Oberes Einstufungscenter, es tut mir leid, ich habe es eilig", leiert eine Stimme vor sich hin.
"Sie haben es eilig? Sie?" Diesmal platzt mir beinahe der Kragen. Ich wüsste gern, wie lange ich in der Schleife gefangen war, das würde meinem Zorn eine gerechte Note geben. So aber kann ich nur brüllen. "Ich warte bereits seit einer Ewigkeit!"
"Oh", kommt es belustigt zurück, "ich sehe, Sie gewöhnen sich langsam an unseren Humor hier. Dann lassen Sie uns beginnen. Haben Sie je einer Katastrophe vermieden? Je einer größeren Anzahl von Menschen das Leben gerettet?"
"Nein", ich bin zu verblüfft, um weiter wütend zu sein. Die Gleichgültigkeit mit der er die Fragen herunterleiert ist geradezu erschreckend. Dann komme ich mir aber dumm vor, wenn ich so einsilbig antworte. Also füge ich schnell eine schlaue Gegenfrage hinzu. Ich habe immer die Erfahrung gemacht, dass man damit Eindruck schindet. "Was verstehen Sie unter ‚größere Anzahl'?" Ich höre mich geradezu wissbegierig an.
"Sie können sich in verschiedene Kategorien einstufen, wenn dies auf Sie zutrifft", leiert er weiter. "Beginnend mit Volksgruppe oder ethnische Gruppe, dann mehr als eine Million Menschen, zwischen einer und einer halben Million Menschen, zwischen einer halben Million und hundert tausend Menschen, zwischen hundert tausend und einhundert Menschen, ja ich weiß das Spektrum ist weit gestreut, aber es dient natürlich nur der ersten Eingruppierung. Dann gibt es weiter weniger als hundert aber mehr als zwanzig, unter zwanzig und über fünf oder zwischen fünf und drei." Mir wird beinahe schwindelig vor lauter Zahlen, die er abspult, wie ein Viertklässler das Einmaleins bis fünf.
Ich vergesse vor lauter Verwirrung etwas darauf zu erwidern, aber das scheint er zu erwarten. "Nein", muss ich ihm schließlich erklären, "keine der Kategorien trifft auf mich zu."
"Dann haben Sie zwischen ein und zwei Menschen das Leben gerettet?" "Nein, noch nie jemandem", teile ich mit.
"Und wozu dann die Nachfrage nach der Zahl? Halten Sie sich für witzig? Hören Sie mal, wir haben hier besseres zu tun, bei dem Ansturm ganz bestimmt!"
"Ansturm? Was meinen Sie denn jetzt damit?"
"Ach", er stöhnt entnervt auf. "Heute ist der vollste Tag im ganzen Jahr. Heute wollen Sie alle rein. Und die meisten auch noch freiwillig. Ich frag mich immer, ob die sich gar nicht informieren. Ich würde wissen wollen, wann ich in den Stau komme. Aber nein. Immer alle fröhlich rein hier. Ist ja Weihnachten, da ist ja bestimmt nix los."
Er hustet einmal. "Entschuldigen Sie, wir sollen so etwas eigentlich nicht mit den Kunden besprechen. Lassen Sie uns zum Thema zurückkehren. Überspringen wir einfach mal einen Fragenblock. Ich denke das wird ohnehin nicht zutreffen. Also: Haben Sie jemals eine nachhaltige positive Reaktion bei einer Gruppe von mindestens zehn Menschen hervorgerufen?"
Ich überlege schwer. Was mag wohl ‚nachhaltig' dabei bedeuten? "Ich habe mal auf einer Party Karaoke gesungen und fast zwanzig Leute haben einen ganzen Abend lang über mich gelacht." ‚Einschließlich ihr', denke ich, aber das verschweige ich lieber.
Seine Fragen prasseln noch mehrere Minuten, falls es denn hier Minuten gibt, auf mich ein. Um es kurz zu machen, entweder sage ich nein, oder er lehnt es trotzdem ab.
"Wissen Sie, ich denke, den Rest dieses Bogens können wir uns sparen, ich verbinde Sie mal mit einem Kollegen." Diesmal fühle ich mich durch das Klicken regelrecht erlöst, denn ich hatte eine Stufe von Genervtheit erreicht, die ich kaum noch ertragen konnte und die nur noch von seinem Gleichmut getoppt wurde. Vielleicht lag das daran, dass kein normaler Mensch seine Fragen positiv beantworten konnte. Obwohl: "Haben Sie einem Kind einmal eine Freude gemacht?" Die Frage kam so kurz vor Schluss. Das kann bestimmt jemand mit ‚Ja' beantworten, könnte ich mir denken.
Die Musik raubt mir alle Geduld, die ich noch habe. Sollte die nicht eigentlich dafür sorgen, dass man sich gut fühlt, während man wartet? Offenbar nicht. Ich weiß nicht, was das hier für Service ist, aber ich bin kurz davon, einfach aufzulegen.
Mit diesem Gedanken spiele ich eine ganze Weile, bis mir aufgeht, dass ich vermutlich gar nicht auflegen kann. Warteschleifen sind die Hölle.
"Jepp, da bin ich!" Die Fahrstuhlmusik hat ein abruptes Ende, dafür dröhnt jetzt Techno im Hintergrund, so als riefe jemand von einer Party an. Es handelt sich um eine eindeutig wachere Stimme als der letzten.
"Wie bitte?", rutscht es mir raus.
"Ey Mann, mach voran. Ich hab hier nicht ewig Zeit. Also spuck mal aus, was Sache ist und wir machen den Deal klar." Mich beschleicht das Gefühl, dass ich was verpasst habe.
"Ich sollte hier noch mal Fragen beantworten, hat man mir gesagt." Manchmal ist Bürokratie eben doch was Feines. Sie ist jedenfalls verlässlich.
"Na jut, Mann, wenn's die Fragen sein sollen, dann aber schnell. Glaub nicht, dass Du der Einzige wärst. Morde?"
"Selbstmord, einer."
"Spaßvogel, wie? Also keiner. Haben Sie jemals ein Eichhörnchen überfahren?"
"Wie bitte?" Ich kann die Frage weder überhaupt verstehen noch in irgendeinen Zusammenhang einordnen.
"Ein Eichhörnchen. Ob Sie mal eins übern Haufen gefahren haben."
"Nein, sollte ich?"
"Was soll'n das jetzt für 'ne Frage sein?"
"Galgenhumor!", kontere ich. Der Typ hat wohl einen an der Waffel. Da lob ich mir doch den steifen Kerl von eben, der hatte wenigstens Manieren.
"Galgenhumor, so, so. Ein ganz Schlauer. Aber immerhin, das ist mal ein Witz, den ich noch nicht kannte. Kürzen wir das hier mal ab: Was ist das Abscheulichste, was Sie je getan haben?"
"Hab ich Ihrem Kollegen schon gesagt: Karaokesingen." Mein Zynismus hat kurzzeitig wieder die Oberhand gewonnen.
"Erstens: Grauenhauft, glaube ich, zweitens: das ist nicht mein Kollege sondern so zu sagen die Konkurrenz von oben und drittens: Karaoke reicht nicht, sonst würden wir hier unten aus allen Nähten platzen. Tierquälerei? Umweltsünden? Parkverbot?"
Nicht, dass ich noch was verstanden hätte, aber ich muss mehr oder weniger alles mit nein beantworten. Denke ich jedenfalls.
"Haben Sie wenigstens mal Ihre Freundin geschlagen?" Langsam klingt er entnervt. Ist wohl heute wirklich ein schlechter Tag.
"Nein, hab ich nicht." - "Hatten Sie es wenigstens vor?"
"Nein, sie hat mich verlassen." - "Dann hätten Sie vielleicht nicht herkommen sollen, sondern sie schicken, aber das nur nebenbei. Ich lese hier, Sie sind freiwillig hier?"
"Nein", ich protestiere schon fast aus Gewohnheit.
"Also hören Sie, ich hab hier noch einen Haufen Gespräche in der Leitung und ich glaube nicht, dass wir zwei ins Geschäft kommen. Ich schick Sie doch noch mal zur Konkurrenz hoch." Jetzt kann ich ihn wieder kichern hören, so wie die anderen vorhin. Ich muss ja ein wirklich lustiger Typ sein, selbst wenn ich nicht ganz verstehe, was hier vor sich geht. Ich wollte doch einfach nur tot sein. So schwierig sollte das eigentlich nicht werden, oder etwa doch?
Die Warteschleife ringt mir das letzte bisschen Fassung ab, bis sich wieder jemand einklingt. "Guten Abend, purgatorisches Beurteilungscenter für Problemfälle, Christina mein Name. Hat man Sie warten lassen?"
Endlich erlöst man mich aus dieser Warterei. "Ja!", schreie ich gerade zu. "Schon viel zu lange."
"Gut." Höre ich die freundliche Hostess, dann wieder das Klicken und die Musik beginnt von neuem.
"Ey Mann! Was wollen denn Sie schon wieder hier?"
"Raus will ich. Nur raus." Ich habe nicht einmal bemerkt, dass die Musik wieder verstummt ist. In meinem Kopf dreht sie noch ihre munteren Runden.
"Ich seh schon, es wird langsam."
"Was? Was? Was zum Teufel ‚wird langsam'?" Meine Stimme hat einen leicht hysterischen Unterton. "Lassen Sie den Boss aus dem Spiel. Manche der Gespräche werden zu Kontrollzwecken aufgezeichnet", reagiert er trocken.
"Ich will nur endlich wissen, was hier vor sich geht. Ich will hier raus und langsam ist es mir egal, wohin die Reise geht. Solange es nur irgendwo anders ist als hier", platzt es aus mir heraus.
"Wenn das so leicht wäre, hätte man Sie längst durchgeschleust, Mann. Wir hatten eben eine außerordentliche Konferenz über Sie. Beide Seiten am runden Tisch und das kommt nicht oft vor, können Sie mir glauben. Keiner weiß, wohin mit Ihnen. Deshalb das alles."
"Deshalb schickt man mich im Kreis?"
"Nein, das ist der Grund, warum Du hier noch rumhängst. Das gehört zu dem ganzen Scheiß dazu."
Ich beginne zu realisieren, dass mein Hirn vollständig aufgeweicht ist. Es bereitet mir schon Schwierigkeiten, ihm überhaupt zu folgen.
Seine Stimme wird plötzlich zu einem leisen Zischen: "Hör mal, Mann, der Boss ist grad weg. Hör auf, Dich zu wehren und sitz es einfach aus. Das ist Teil des Ganzen. Irgendwann holt man Dich da raus. Auf welche Seite auch immer."
"Ich soll hier weiter in der Warteschleife hängen?" "Ja, Mann. Das hast Du mehr als verdient. Aber ich hab nix gesagt. Von mir hast Du's nicht."
Ich versuche mit aller Kraft die Rädchen in meinem Hirn anzuschieben, um ihm zu folgen, aber es gelingt mir nicht.
"Kann ich nicht einfach jetzt auf Eure Seite kommen? Ist mir ganz egal, wo das ist."
"Nein, Mann, wir können nicht einfach einen reinlassen. Es gibt da Verträge. Der Boss ist eh schon sauer, weil hier unten alles vollgestopft ist. Und die da oben jammern, dass sie nicht mal jeden zehnten Platz gefüllt haben. Die Zeiten sind halt nicht mehr, was sie mal waren und die legen ihre Latte einfach zu hoch, wenn man mich fragt. Denn wenn man's genau nimmt: Die meisten warten schließlich ein Leben lang drauf, da reinzukommen, also sollten die einfach den Fans die Türen auf machen." Diesen Satz begleitet wieder das irre Kichern. "Dann hätten wir hier unten auch wieder würdiges Material. Und nicht immer diese Halbgebackenen."
Nach einer kurzen Pause fährt er fort: "Also, Mann. Letzte Chance: Haben Sie mal einen Busfahrer beleidigt?" "Nein", muss ich zugeben. Ich fahre schon seit einer Ewigkeit nicht mehr Bus. ‚Aber Taxifahrer, fast wöchentlich!', will ich hinzufügen, nur dazu komme ich nicht mehr.
"Na dann, good luck, Mann!" Dieser Satz wird von einem Klicken gefolgt, an das sich wieder das Gedudel anschließt.
Ich habe in all dem hier zwar keinen Sinn ausmachen können, aber vor einer unmessbaren Weile hat es mich an etwas erinnert, was ich mal gehört habe. Ich glaube, es hat mit der Kirche zu tun, oder so. Seitdem hat keiner mehr abgehoben. Ich verbringe die Ewigkeit damit, den Rest meines Denkvermögens von Fahrstuhljazz aufweichen zu lassen, weil ich zu dem Schluss gekommen bin, dass Denken die Wurzel allen Übels ist. Dann muss ich nicht mehr darüber nachdenken, ob ich hier bis zum Jüngsten Gericht festhänge, oder ob man mich früher erlöst. Ein wenig habe ich die Befürchtung, dass ich religiös werden könnte, oder so. Ich weiß nicht, ob ich das ertragen könnte.