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Warum?
Endlich war Sophie am Kino angekommen. Vorsichtig stellte sie das neue Fahrrad, ihren ganzen Stolz, in einen Fahrradständer und schloss es sorgfältig ab. Aufgeregt betrat sie das große Kino, schon seit ungefähr einem Jahr freute sie sich auf die Fortsetzung ihres Lieblingsfilms.
"Was darf ´s sein?", fragte der korpulente, schlecht gelaunte Mann hinter der Kasse.
"Ein Ticket für Raum 3, bitte!", sagte Sophie uneingeschüchtert. Doch die schlechte Laune des Mannes konnte die Vorfreude von Sophie nicht trügen.
"Gibt ´s Extrawünsche?", fragte der Mann ohne aufzusehen.
"Was meinen Sie?"
"Na, ob du ´nen bestimmten Platz willst?", er wurde immer genervter. Sophie wurde rot und schaute sich kurz um, als sie niemand entdeckte, trat sie näher an die Kasse heran und stellte sich auf Zehenspitzen, um vernünftig mit dem Mann reden zu können.
"Etwas Günstiges wäre mir ganz recht."
"Okay!", sagte der Mann leicht irritiert, er schien sich zu fragen, warum sie sich so umguckte, während er ihr Ticket über den Tresen schob.
"Das macht dann 7,45€!", nuschelte er wieder in aller Gelassenheit. Sophie kramte in ihrem Geldbeutel, dann schob sie das Geld dem Mann zu, dieser seufzte, als er das ganze Kleingeld sah und begann zu zählen, es schien zu stimmen. Gerade wollte sie den Kinosaal betreten, als Kinder aus ihrer Klasse auf sie zu kamen, sie hatten jede*r einen großen Softdrink und Popcorn.
"Schaust du dir auch den Film an, Sophia?", fragte ein großer Junge aus der Gruppe hämisch. Sophie wurde schon wieder rot.
"Ja, ich freu mich schon voll, aber eigentlich heiße ich Sophie..", meinte sie schüchtern, doch der Junge unterbrach sie.
"Du hast ja nicht mal Popcorn!", lachte er. Sophie erschrak, nicht das schon wieder, sie wollte der Situation um jeden Preis aus dem Weg gehen.
"Oh, du hast Recht, ich hab es wohl vorne vergessen, ich hole schnell neues!", schob sie sofort hinterher.
"Schon klar", sagte ein Mädchen, "haben deine Eltern nicht ein bisschen zu wenig Geld für zweimal Popcorn?"
Nervös lachte Sophie, ohne zu wissen warum. Sie wollte die Coole spielen, irgendetwas machen, das zur Abwechslung nicht peinlich war, doch ihr fiel nichts ein. Schnell rannte sie nach vorne, die aus ihrer Klasse lachten und klatschten ab.
Vorne angekommen, schaute Sophie in ihren Geldbeutel, ihr letzter Rest Taschengeld würde vielleicht noch für eine ganz kleine Tüte reichen.
"Eine kleine Tüte Popcorn, bitte!", sagte sie wieder zu dem Mann. Als er wieder einen Haufen Kleingeld sah, rollte er mit den Augen, gab ihr dann aber ihr Popcorn.
"Danke!", rief sie ihm zu, während sie wegrannte, woraufhin er nur brummte. Wahrscheinlich waren die anderen längst im Saal. Vielleicht hatte sie die Chance, ungesehen an ihren Platz zu gelangen. Doch als sie an den Toiletten vorbeikam, hörte sie gedämpftes Lachen. Zu spät! Die Kinder aus ihrer Klasse hatten in der Toilette auf sie gewartet und stürmten auf einmal aus ihren Verstecken. Der große Junge und ein anderer hatten einen ganzen Eimer Wandfarbe dabei, Sophie ahnte Übles. Auf Kommando leerten sie den ganzen Eimer über Sophie aus, die Farbe durchtränkte alles, ihre Klamotten, ihre Haare, das Popcorn.
Wer schon einmal ganz alleine Nachts auf den Straßen gewesen ist, kennt vielleicht dieses Gefühl von kompletter Einsamkeit. Ein Knoten im Bauch, der einen nach unten zu ziehen scheint, eine Klaue, die sich um einen schließt, das Gefühl, erdrückt zu werden. Von einem Moment zum anderen wechselten Sophies Gefühle von Glück, Vorfreude und Lust auf den seltenen Snack zu diesem einen Gefühl. Um sie herum regten sich Leute, Erwachsen, die ihre Mitschüler fragten, was das sollte, Aufseher, die sich um die Farbe auf dem Boden kümmerten, doch für Sophie blieb alles stehen. Sie wollte stark sein, nicht weinen, ihren nicht geben, was sie wollten, doch die Trauer übermannte sie. Ihre Augen wurden feucht und nacheinander lösten sich einzelne Tränen und rollten ihre Wangen herunter. Gedemütigt rannte sie aus dem Kino, zu ihrem Fahrrad, nur um festzustellen, dass auch dieses über und über mit Farbe beschmutzt war. Geschockt und zugleich wie betäubt fuhr sie die zehn Minuten nach Hause. Immer wieder spürte sie irritierte Blicke auf sich, Kleinkinder zeigten auf sie, doch sie blendete die Welt um sich herum aus.
Als sie die Haustür des riesigen, grauen, Neubaublocks aufschloss und die Treppen zur Wohnung hochlief, tropfte sie alles mit Farbe voll. Das würde Ärger mit dem Hausmeister geben, auch das noch! Zuerst wollte sie beim Aufschließen der Wohnungstür leise sein, damit ihre Eltern nichts merkten, doch ihr fiel ein, dass sie noch bis spät abends arbeiten waren. Im Spiegel des Eingangsbereichs schaute sie sich an und musste sofort wieder anfangen zu weinen. Warum quälten die anderen sie so? Was hatte sie ihnen denn getan? Wenn wirklich alle dachten, sie sei blöd, entsprach es vielleicht der Wahrheit.
Sie hatte keine Lust, sich umzuziehen, wahrscheinlich war sie ihrer Klamotten gar nicht wert. Schwerfällig schob sie die Glastür des kleinen Balkons auf, von dem Farbgeruch bekam sie Kopfschmerzen, Umziehen wäre vielleicht doch keine schlechte Idee gewesen, aber vielleicht verdiente sie das. Von dem Balkon hatte man eine tolle Aussicht, ihre Wohnung war schön weit oben, man konnte über den ganzen anliegenden Park gucken und weiter. Langsam glitt ihr Blick weiter nach unten. Der Balkon war hoch, sehr hoch, aber unter Höhenangst hatte sie noch nie gelitten, was für ein Adrenalinschub das wohl auslösen würde, wenn sie sprang. Warum nicht ausprobieren? Sie hatte nichts zu verlieren, ihre Klasse hasste sie, Omas und Opas hatte sie nicht und ihre Eltern wären sicher besser ohne sie dran, ohne so eine Versagerin. Mit einer Hand hielt sie sich an der Wand fest und mit der anderen am Geländer, erst schwang sie das rechte und dann das linke Bein über das Geländer. Jetzt war es doch etwas sehr hoch, wenn sie jetzt sprang, würde sie niemals mehr den Film gucken können. Was dachte sie da? Sie war feige, genau wie die anderen sagen. Was brachte es schließlich noch zu leben, wenn einem eh nur alle weh taten? Vielleicht war sie woanders besser aufgehoben. Vorsichtig ließ sie sich noch ein weiteres Stück nach vorne gleiten, fast wäre sie vornüber gefallen, die Farbe war glitschig. Sie musste nur loslassen, dann war alles vorbei, doch irgendwie gelang es ihr nicht. Es war wohl wie beim ersten Sprung vom drei Meter Brett, es gelang einfach nicht, obwohl man wusste, dass man es eigentlich wollte. Wahrscheinlich musste sie es so lösen, wie sie es damals auf dem Brett getan hatte, einfach machen und nicht nachdenken. Sie probierte noch einmal die Freude in sich zu sammeln, die sie vor dem Film empfunden hatte, doch sie musste nur sofort wieder an die Farbe und ihr komplett versautes Fahrrad denken, sie hatte es doch gerade erst zu Weihnachten bekommen, schon wieder musste sie weinen.
"Da habt ihr es, ist das, was ihr wolltet?", schrie sie hinaus, kurz dachte sie an ihre Eltern, "Ich habe euch lieb, Mama und Papa!"
Und mit diesen Worten ließ sie los.