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Was der Schnee so alles bedeckt
Sie wartete schon seit 1 Stunde und 7 Minuten. Es schneite. Ihre Füße waren kaum noch zu spüren. Das Bushaltehäusschen war außer ihr leer. Sie saß zusammengemummelt in ihrer dicken Winterjacke und wartete weiter. Sie war nicht sauer, sondern eher traurig: Hatte er sie vergessen? Es war doch so ein besonderer Tag!
Vor einem Jahr war sie mit ihrem Freund zusammengekommen. Ein Jahr lang waren sie glücklich gewesen und sie waren es immer noch. Mit ihm konnte sie über alles reden, selbst ihre beste Freundin wusste nicht so viel über sie wie er. Sie hatten eine Band gegründet. Am Anfang hatte sie das nicht gewollt, doch nach einiger Zeit hatte sie sich doch getraut, alles in Bewegung gesetzt und sie hatten angefangen Musik zu machen. Jetzt waren sie ein gutes Team und schrieben ihre eigenen Songs. Für das Weihnachtsfest, das morgen anfangen würde, hatten sie für den ersten Weihnachtstag klassische Stücke für Klavier und Gesang eingeübt.
Damals hatten sie einander aus der Patsche geholfen und sich selbst gefunden, mit der Unterstützung des anderen. Sie hatten Lieben gelernt, sie liebten sich und sie bekam keiner auseinander. Das wussten sie und das wusste auch der Rest der Welt. Sie waren ein zusammengeschweißtes Pack gegen den Rest der Welt, ihnen konnte keiner was anhaben, denn ihre Liebe war stärker als alles auf der Welt, was sie schon alles erlebt hatten, in einem Jahr. Ihre gemeinsamen Ferien in Wales und Brasilien und alle möglichen Ausflüge...Sie liebte es über dieses vergangene Jahr nachzudenken, es lenkte auch ein wenig von der Kälte ab.
Sie fing an zu summen, das Lied, dass sie ihm zum Geburtstag geschrieben hatte, er hatte geweint, als sie es ihm vorgesungen hatte. Dieses Liebeslied kannten nur sie und er, niemand anders hatte es je gehört und würde es je hören. Es war nur für ihn persönlich und es war eines ihrer vielen kleinen schönen Geheimnisse.
Wie auch das Gedicht, dass er ihr damals geschenkt hatte, als sie zusammengekommen waren. Sie kannte es schon auswendig und hatte es immer dabei, sie ging nie ohne es aus dem Haus. Die Computerseiten waren schon sehr abgegriffen nach diesem einen Jahr. Er hatte es ihr so oft noch mal vortragen müssen, sie liebte es wenn es aus seinem Mund kam, dann hatte es die richtige Betonung und war einfach zauberhaft und nahm einen mit in die Welt und Sprache der Poeten.
Ja, er war wunderbar! Sie konnte ihr Glück, dass sie zusammen hatten meist selbst nicht fassen. Manchmal dachte sie, es wäre alles nur ein Traum und sie würde gleich aufwachen und alles wäre weg. Das letzte Jahr war so schön, natürlich gabs auch einige Krisen, aber Krisen waren dazu da sich hinterher noch besser zu verstehen. Die Versöhnungen, die von beiden Seiten kamen, waren meist das wunderbarste in der Welt.
Als sie sich kennenlernten, hätten sie nie gedacht, dass sie einander später wiedersehen, doch dann wurden sie wieder zusammengeführt und alles fing an. Sie würde das nie vergessen, dieses Kribbeln. Manchmal fuhr es heute noch durch ihren Körper, urplötzlich und total aufregend, bei einem tiefen Blick in seine Augen oder wenn er auf sie zu kam, und auf sie zuschritt, wie ein Engel, der einen in den Himmel heben will und eine wunderbare Ausstrahlung hat.
Sie schaute raus in den Schnee, er fiel gleichmäßig und ruhig, aber schnell und es waren dicke Flocken, die sofort liegen blieben als müssten sie etwas hässliches schnell bedecken. Sie hörte ein Brummen und knattern, das war der Bus. Sie sprang auf und ging auf den Bürgersteig. Die Lichter des VW-Buses der Familie ihres Freundes blendeten sie und fuhren langsam auf sie zu. Der Bus bleib stehen, doch hinterm Steuer saß nicht ihr Freund, der Bruder ihres Freundes saß dort mit verheultem und geshocktem Gesicht. Sie riss die Tür auf: "Was ist los? Warum holt er mich nicht ab? Wo ist er?" Sein Bruder sah starr nach vorne: "Komm erst mal rein." Sie kletterte in den Bus auf den Beifahrersitz und zog die Tür zu. Was sollte dieses dämliche Getue? Der Bruder wannte ihr den Kopf zu, er sah schlimm aus, so ein Gesicht hatte sie noch nie gesehen. Er holte Luft und sagte mit leiser Stimme "Er hatte einen Unfall auf dem Weg zu dir...er ist tot." Sie war geschockt. In ihr wurde alles leer, mit ihm war auch sie gestorben. Der Schnee fiel immer noch gleichmäßig und ruhig, doch auch schnell und in dicken Flocken, denn in dieser Nacht musste er zwei liebende Tote bedecken.