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- 19.05.2015
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Teil der Agafja-Saga
Was vom Himmel fällt
Als sie sich schlafen legt, beobachtet Agafja eine Weile das verglühende Holz. Sobald das letzte Licht erlischt, lauscht sie in die Dunkelheit, hört den Stimmen zu, dem Rascheln der Blätter, den heulenden Wölfen, dem Rauschen des Yerinats. Bevor sie wegdämmert, den Träumen entgegen, weckt sie ein Geräusch auf, ein Knall, den sie anfangs für den Teil eines Traums hält. Sie öffnet die Augen und nimmt den beißenden Geruch wahr, der nicht zu dem würzigen Duft aus Harz und Rinde passt, der sonst die Luft erfüllt. Agafja schreckt hoch und tritt vor die Hütte. In der Ferne, dort, wo Berge und Wälder aufeinandertreffen, entdeckt sie das Feuer, ein rotglühender Punkt in der Finsternis, als säße jemand an einem Lagerfeuer, als wäre etwas vom Himmel gefallen. Eine Eule schreit. Agafja erschrickt. Graue Schwaden steigen auf. Sie läuft auf und ab, stochert mit einem Ast auf der Erde, betrachtet den kargen Sternenglanz, hört hinaus und hinein. Das Ächzen der Bäume, Gerüche, die der Wind über Fluss, durch Äste und Kronen treibt, das Blinken der Sterne, mit all dem ist sie vertraut. Ein fahler Sichelmond wirft etwas Licht auf die Welt. Er zieht über die Gipfel hinweg und bald wird er hinter dem Bergkamm verschwinden, wie in so vielen Nächten zuvor. Was sie jetzt wahrnimmt, bedroht die festgefügte Ordnung, das, was war, was ist, was sein wird. Was, wenn sich das Feuer ausbreitet? Wenn sie mit einer Fackel loszieht, lockt sie Tiere und Geister an. Sie schaut genauer hin. Der Rauch breitet sich weiter aus. Was, wenn die Sterne herabfallen? Agafja schließt die Augen, spricht ein Gebet, aber kein Gott antwortet und den Engeln kann man nicht vertrauen.
Dennoch geht sie zu dem Verschlag, wo sie die Utensilien für den Notfall aufbewahrt. Der Lauf des Bärengewehrs fühlt sich kalt an, als sie es aus dem Sack zieht. In einer harmlosen Schachtel liegen sie sauber aufeinandergestapelt. Trotz der Finsternis schimmern die Kugeln. Sie lässt ein paar in die Jackentasche gleiten. Ein Tier huscht an ihr vorbei ins Freie. Eine Maus, ein Burunduk? Der Schatten verliert sich im grauen Gras. Als sie alles beisammen hat, setzt sie sich auf das abgesägte Stück der Buche, die sie im letzten Sommer gefällt hat; ein schöner Baum, gerade gewachsen. Sie senkt den Kopf, drückt die Augenlider fest zusammen, bewegt sich nicht. Lange bleibt sie sitzen. Aber der Rauch verschwindet nicht, sie kann ihn nicht besiegen. Sie hält die Hände vor den Mund, formt eine Höhle, presst Luft hindurch, sodass ihr Ruf durch den Wald hallt. Als Echo kommt das Pfeifen zurück. Ach, wenn die guten Geister ihr doch schnell antworteten! Eine vage Hoffnung, denn diese Wesen brauchen Zeit, bis sie aus der Bewusstlosigkeit erwachen. Also steht sie auf und geht zur Hütte, samt Gewehr und Munition. Dort legt sie Reisig, etwas Holz in den Ofen, reibt und dreht den Stein, entzündet das Feuer. Ein Holzscheit fällt ihr aus der Hand. Der Schmerz sendet Wellen über Fuß und Bein, verklingt nach und nach. Fackeln liegen irgendwo draußen unter dem Dach. Nicht jede Dunkelheit besiegt das Licht. Manche Rätsel löst nur Gott. Menschen sind auf die Helligkeit des Tages angewiesen. Keiner kennt die Geheimnisse, die einem Gott vorbehalten sind. Auch wenn ein Halbgott, Prometheus hatte die Mutter ihn genannt, den Menschen das Feuer gebracht hat. Aber das ist eine Sage. Gott ist groß, gut, verbrennt, zerstört, löscht aus, damit Platz gemacht werde für neues Leben.
Ein Rascheln dringt zu ihr durch, ein Wesen schleicht am Haus vorbei. Obwohl sie auseinanderhalten kann, was sich in der Taiga bewegt, kann sie das Geräusch nicht einordnen. Weder das Rauschen des Flügelschlages einer Fledermaus, noch das eines verirrten Erdmännchens, eines Rehkitzes, das seine Mutter sucht, noch die Schritte eines Bären, schwer und dunkel, noch das eines Erdgeistes, der aus einem Loch hervorkriecht. Manche Wahrnehmungen sind trügerisch, andere kündigen eine Veränderung an, etwas, das hier im Wald vor sich geht. Aber das sind Fantasien, der Abgeschiedenheit geschuldet, Dinge, die in ihrem Kopf stattfinden, aber nicht in der Wirklichkeit, so weit man das unterscheiden kann. Als sie aus der Erstarrung erwacht, wirft sie einen letzten Blick nach draußen. Die Schwaden haben sich nicht verzogen, aus schwarzem Rauch wurde weißer, die Sterne stehen am Himmel.
Unter der Decke kehrt die Wärme zurück. Am besten wäre zu vergessen, was sie gesehen hat. Morgen folgt ein neuer Tag. Und dann wieder einer und immer so fort. Die Schatten verlieren ihre Klarheit, lösen sich in der frischen Luft auf. Was man in der Nacht wahrzunehmen geglaubt hat, zerrinnt in den Träumen. Sie schläft tief. Im Traum hört sie die Worte ihrer Mutter, aber versteht nicht, was sie ihr sagt. Ein Gewicht, das auf ihr lastet, weckt sie auf. Die Rote balanciert auf ihrem Bauch, sucht nach Halt. Agafja erkennt das Grün in den Katzenaugen, einzelne Punkte in den Pupillen. Ihre Tatzen kratzen auf der Wolle, ihr Schnurren wird lauter. Nach einer Weile beruhigt sich die Rote, lässt sich auf ihr nieder, und streckt sich aus, bis Agafja sie vertreibt, um aufzustehen.
Der Morgen zeigt sich müde, fahl. Nebel liegt über dem Wald. Der Rauch steigt mittlerweile schwarz empor und der fremde Geruch hat sich festgesetzt. Agafja führt ihre Tagesrituale durch, betet und stellt sich vor, ein Kind zu sein, das im Gras herumschweift und den Blumen beim Wachsen zuschaut. Das Wasser des Yerinat schmeckt wie an jedem anderen Tag, ein gutes Zeichen. Nachdem sie sich erfrischt und Grütze gegessen hat, sucht sie nach der Spinne. Sie entdeckt das merkwürdige Wesen draußen vor der Tür, nahe am Eingang, wie es unermüdlich seine Bahnen zieht. Agafja greift nach einer Holzdose, schüttelt sie. Reste von Nüssen oder Kräutern fallen zu Boden. Ein, zwei schnelle Schritte, dann steht sie direkt vor der Spinne und bückt sich. Sie stülpt die Dose über das Geschöpf mit den acht Beinen, dreht sie um, verschließt sie und nimmt sie gefangen. Mitten auf den Tisch stellt sie das Gefäß.
Danach bereitet sie vor, was sie braucht. Aus der Holzkiste mit den Utensilien, die man ihr gegeben hat, wenn sie in Not gerät, holt sie das Gewehr, mit dem man Bären töten kann, schultert es, steckt Langmesser und Signalpistole in die Tasche des Mantels und zupft das Kopftuch zurecht. Mutter Erde, die Geister des Waldes und der große Gott, der alles sieht, alles weiß, lenkt sie.
Auf dem Pfad für Mensch und Tier läuft sie zum Wald. Am Yerinat entlang, führt er empor, den Bergen entgegen. Beim Gehen singt sie. Die Beine schreiten kräftig aus.
Weshalb wohl in Russland die Birken so eigentümlich sind?
Weshalb wohl die Bäume mit der weißen Rinde alles verstehen?
Sie stehen am Wegesrand und schwanken im Wind.
Es fallen fallen die Blätter herab, wo sie traurig vergehen..
Ich gehe auf der Straße, die Weite des Landes macht mich munter,
Nur eines möchte ich in meinem Leben noch wissen:
Weshalb fliegen die Blätter so traurig herunter,
liebkosen die Haut unter meinem Hemd, wie ein wärmendes Kissen?
Und wieder und wieder wird es ums Herz so heiß,
und wieder und wieder ich keine Antwort weiß.
Ich bin wie das Blatt, das auf die Schulter fällt:
Losgerissen und getrennt von der übrigen Welt.
Und wieder und wieder wird es ums Herz so heiß,
und wieder und wieder ich keine Antwort weiß.
Ich bin wie das Blatt, das auf die Schulter fällt:
Losgerissen und getrennt von der übrigen Welt.
Währenddessen setzt sich eine Hummel auf Agafjas Arm und krabbelt auf und ab. Sie bewegt sich unbeholfen, ein Brummer, schwarz, weißbestäubter Hintern, versucht davonzuflattern, aber es gelingt nicht. Sie rennt und rennt, kann aber nicht abheben. Vielleicht sind die Flügel verklebt, vielleicht fürchtet sie sich, in den Fluss zu fallen und in der Fremde zu ertrinken. Mit dem Zeigefinger streichelt sie den Körper des Insekts, pustet es an, ermutigt es in den Bemühungen, nicht nachzulassen. Jedes Lebewesen ist mit jedem anderen verbunden, die Schöpfung ein Wunder aus Gemeinsamkeit. Agafja weiß, wo sich das Nest befindet, unter einem Felsen, der von Farbadern durchzogen ist. Gerade als sie beschließt, die Hummel dorthin zu bringen, fliegt sie steil zum Himmel empor, sonnenumfluteten Blumen entgegen, dem Nektar des Lebens.
Der fremde Geruch verstärkt sich, je näher sie zu ihrem Ziel kommt. Hoch wächst das Gras, Gestrüpp wuchert. Die Bäume stehen dicht beieinander, eine stumme Familie, über Wurzeln miteinander verbunden. Sie stolpert über Steine, die aus der Erde ragen. Bevor die Höhenlinien beginnen, werfen die Berge ihre Fänge aus, mächtige Findlinge, mit Moos bewachsen. Im Gestein des Felsmassivs ist so manches eingeschlossen. Der Vater hat hier nach Salzadern gesucht. Höhlen hat er gefunden, Lapislazuli, Säle mit Tropfsteinen, lichtdurchflutet, dunkel, fledermausbehangen. Bären überwintern hier, Wölfe ziehen ihre Jungen groß, graben ihre Bauten so, dass sie darin enden oder dort beginnen, je nachdem, wie man es sieht.
Immer den Rauschwaden entgegen. Agafja erschrickt als ein Tannenhäher sich vom Ast einer Zirbelkiefer in die Luft erhebt. Sie ist jetzt ganz nah, entdeckt Glutnester, sieht glühende Metallstücke, rot und weiß. Zwischen zwei Buchen klemmt ein Stahlstück. In den Boden gerammt, beinahe baumhoch. Es hat beim Fallen Äste mit sich gerissen, abgeknickt, der Boden aufgerissen, sodass ein kleiner Krater entstanden ist, von dem Hitze ausgeht. Was vom Himmel fällt, kann gut und böse sein, je nachdem. Es muss einen Grund dafür geben, dass es ausgerechnet im Sayan-Gebirge, am Yerinat, gelandet ist. Aber welchen? Nichts geschieht zufällig.
Sie schaut sich auf dem Gelände nach Spuren um. Nirgendwo sonst im Wald entdeckt sie Rauch. Keine Spur von Menschen, keine Schreie. Wenn ein Flugzeug oder Hubschrauber abstürzt, muss der Rumpf irgendwo liegen, weiter entfernt, mag sein. Damals war sie selbst mitgeflogen, in riesigen stählernen Särgen. Irgendwo müssten mehr Stücke verstreut sein, aber da ist nichts, kein Feuerschweif hinter den Bergen.
Agafja nimmt einen der Äste, stochert in der Erde, kratzt hier und dort, sucht nach Zeichen, nach Chiffren, die etwas über die Herkunft verraten. Außer ein paar kyrillischen Buchstaben, die halb und halb sichtbar sind, aber keinen Zusammenhang erkennen lassen, ein lebloses Nichts. Das Ding wirkt verdreht, die Kanten an einzelnen Stellen gerade, an anderen abgerundet, das Metall geschmolzen, von Zufall oder Schöpfer zu bizarren Figuren verdreht, als wüsste der Urheber nicht, welche Form das Gebilde annehmen solle, als sei es nicht geschaffen für die Welt, auf die es stürzte, ein Engel, ein Stern, der hier im Wald verglühte, in einer verlassenen Gegend, die kaum einer kannte. Geschmolzenes Metall riecht nach Tod, nach den kalten Fängen des Winters, schmeckt nach dem bitteren Hunger der Tage, an denen Gott fern ist.
Agafja spürt Hitze auf der Haut. Ihre Verwirrung wächst. Sie stampft auf den Boden. Aber die Erde gibt nicht nach, bleibt fest, unnachgiebig wie zuvor.
Die Männer des Gouverneurs haben ihr die Waffe gegeben. „Damit du dich wehren kannst, wenn du in Bedrängnis gerätst. Du musst den Schaft fest an die Schulter pressen. Wegen des Rückschlags. Der kann dir das Schlüsselbein zerschmettern, wenn du nicht aufpasst.“
Sie streicht über den kalten Lauf des Gewehrs, bewundert die gerade Linie. Sechs große Patronen stecken im Magazin. Es klickt, als sie es einrastet. Sie legt an. Auf eine Zielscheibe hat sie geschossen. Den Bären hat sie verfehlt.
Sie zielt. Mitten ins Herz des Wesens, das vom Himmel fiel. Im letzten Moment reißt sie den Lauf nach oben. Der Schuss geht in die Luft und ein lauter Knall dringt durch den Wald. Danach gleitet ihr das Gewehr aus der Hand ins Gras. Nach einer Weile hebt sie es auf und lehnt es an eine durch den Absturz verletzte Esche. Das Metallstück regt sich nicht. Man kann es nicht erschießen. Man darf überhaupt nichts erschießen. Etwas geht vor, etwas verändert sich.
Dann macht sie sich an die Arbeit, drückt Moos und Wurzeln fest, richtet die Äste der jungen Bäume auf. Am Firmament hängen ein paar zerfledderte Wolken, dazwischen endloses Blau. Die Berge sehen aus wie immer, Zeugen der Ewigkeit, des Unvergänglichen, weit entfernt, ganz nah. Furcht und Panik eines winzigen Menschenwesens bedeuten nichts dagegen. Gerade jetzt gilt es, all ihre Kraft einzusetzen, nicht nachzulassen, Glaube, Liebe und Hoffnung zu bewahren. Was, wenn das erst der Anfang war, die Apokalypse nahte, die Sterne auf die Erde fielen, millionen, abermillionen Lichtgebilde herabstürzten? Und schließlich der Himmel selbst, mitsamt dem Paradies versank, die Sonne verschwand, vollständige Dunkelheit herrschte, Armageddon begann?
Wer standhaft bleibt, besiegt die Kälte, hält dem Sturm stand, erträgt den Hunger. Agafja reißt sich los, schnappt sich, was sie mitgebracht hat, und entfernt sich von dem Fremdkörper. Sie schreitet den Bergen entgegen, blickt nicht zurück. Wind streicht über sie hinweg. Je weiter sie geht, desto friedlicher hört sie dem Rauschen und Rascheln der Welt zu, die sie umgibt. Als sie am Hummelbau ankommt, beobachtet sie wie die Insekten aus- und einfliegen, einem gemeinsamen Willen verpflichtet, eine Familie, die füreinander sorgt, in der jeder seine Aufgabe hat, sammelt, was die Natur schenkt, zu nähren und zu schützen das Volk, die Königin und ihre Nachfahren.
Sie schiebt den Vorhang aus Ataman-Gras beiseite, der den Eingang der Höhle bedeckt. Glattnasen hängen an den Wänden, beachten Agafja nicht, ruhen sich aus, bevor sie sich in der Nacht fallen lassen, die Schwingen ausbreiten und zum Jagen bereit machen. Feuchtigkeit überzieht den Fels der Höhle an einigen Stellen wie eine Haut. Von dem Gestein, das draußen so kalt und unnahbar erscheint, geht Wärme aus, als wenn es von innen, vom Kern der Berge beheizt würde. Langsam gewöhnt sie sich an das fahle Licht. Sie blinzelt, gewöhnt sich an den scharfen Geruch der Fledermäuse. Niemand wird sie in ihrer Zuflucht finden, niemand.
Sie durchquert den Saal, erreicht die Stelle, die zum nächsten Raum führt, bückt sich. Wurzeln ragen aus dem festen Boden. Tropfsteine wachsen, schimmern hell. Blaue Adern durchlaufen das Gestein. Von irgendwoher fällt Licht ein. Inmitten der Halle, auf einer ebenen Fläche, steht der Holzbottich, in dem sie zur Welt gekommen ist, bedeckt von einem wiesenfarbenen Tuch, das Agafja selbst gewebt hat. Eine alte Esche mit mächtigem Stamm habe der Papa geschlagen, ausgehöhlt, die Astlöcher geschliffen, geschmirgelt, poliert, damit ein Behältnis entsteht, in dem man baden, ein Tier ausweiden und eben gebären konnte.
Agafja berührt das Holz und steigt in den Zuber. Eine Weile verharrt sie, atmet ein, atmet aus, schließt schließlich die Augen und zieht die Beine an. Gerade jetzt sucht sie nach Rat, braucht die Verbindung zu den Seelen all der Verstorbenen. Es vergeht nur ein Moment, dann hört sie die Stimme ihrer Mama.
Ihr müsst wissen, dass der Teufel ein Engel ist, eine Lichtgestalt, die von Gott abgefallen ist, die Finsternis aus freien Stücken gewählt hat. Auch ein Engel hat einen eigenen Willen, kann sich entscheiden. So wie wir Menschen uns für das Gute oder das Böse entscheiden, in jedem einzelnen Augenblick ja oder nein sagen können.
Damit ihr eure Sinne schärft, erzähle ich euch vom Teufel. Als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, kam er als Maus zu mir. Ich war ein kleines Mädchen, wälzte mich im Stroh, fand keinen Schlaf, kratzte mich am Kopf, weil die Läuse zwischen den Haaren ihre Nester einrichteten, als etwas an meinem rechten Zehen knabberte. Ich zuckte zusammen, fuhr hoch und streifte die Decke ab, um zu sehen, was es war. Da bemerkte ich, dass eine Maus mich fixierte. Nahezu bewegungslos lief sie langsam, ohne den merkwürdig intensiven Augenkontakt aufzugeben, über die Beine, den Bauch entlang bis zu meiner Brust, wo sie verharrte. Ich blieb ruhig, ohne zu wissen, warum. Die Maus war nicht besonders groß, eigentlich eine ganz normale Maus, nur die Augen erschienen mir im Verhältnis zum Körper überdimensioniert. Sie sprach nicht und dennoch verstand ich, was sie mitteilte, ja ich verstand das Flüstern klar und deutlich.
„Ich wollte dir einmal einen Besuch abstatten, ganz freundschaftlich. Dich quälen die Läuse, die Flöhe und die Wanzen. Und das Stroh sticht dir die Haut auf. Habe ich recht? An sich nicht weiter schlimm. Aber du schläfst schlecht und es kitzelt dich, stimmt’s? Ich kann dir helfen.“
„Du, eine kleine Maus?“
„Heute siehst du mich als Maus, später bin ich vielleicht ein Bär. Und wenn ich kein Bär mehr bin, dann bin ich selbst eine Laus. Und wenn ich keine Laus mehr bin, ein Adler.“
„Und ein Mensch, kannst du auch ein Mensch sein?“
„Nicht einer, viele, Frauen, Männer, Kinder, Bauern, Beamte, Zaren, Priester und Bettler.“
Ich nahm allen meinen Mut zusammen, ließ mir aber nichts anmerken, deshalb schwieg ich, als die Maus weiterredete.
„Du weißt längst, wer ich bin. Aber ich versichere dir, es sind Lügen, die sie über mich verbreiten. Ich bin weitaus wohltätiger, als der, den ihr Herr nennt, zu dem ihr betet. Wenn ihr Gott um einen Gefallen bittet - und wenn es nur ist, dass er euch von den Flöhen und Läusen befreit - dann grinst er und erzählt von den Plagen, die der Mensch ertragen muss, damit seine Seele umso reiner und unschuldiger zum Himmel aufsteigt, dass das Leid die Bedingung für das Paradies sei. Und ihr, wenn ihr ihn hört, versteht nicht, was er meint. Er will euch knechten. Er macht euch sein Paradies schmackhaft, einen Ort, wo Honig und Wein fließen, wo ihr euch in ewigem Müßiiggang die Bäuche vollschlagen dürft. Aber er erzählt euch nicht, dass alles, was Freude bereitet, an dem verheißenen Ort verboten ist. Beten und betteln müsst ihr, erstarren vor der Majestät. Lachen könnt ihr vergessen. Im Paradies wird nicht gelacht, das stört die Andacht nur. Und die Engel, was glaubst du, wie die sich benehmen? Sie sind seine Generäle, kommandieren. Die kleineren, unbedeutenderen unter ihnen passen genau auf, was ihr tut, sagt, sogar was ihr denkt. O nein, der Himmel ist kein Vergnügen. Ich kann dafür sorgen, dass du ein gutes Leben führst, ein richtig gutes, eines, von dem du nie zu träumen gewagt hast, ein Paradies auf Erden. Ach, was sind die niedlich, die Läuse, so hübsche Tierchen. Ich werde mich um sie kümmern, damit sie von alleine verschwinden, nicht wahr, das willst du?"
Der Wortschwall hörte nicht auf, ein Monolog wie das endlose Sprudeln aus der Quelle eines großen Flusses, eine Woge heißer Luft, die dich versengt, wenn du dich nicht irgendwo verkriechst. Ich riss mich los, zwang mich zu handeln. Jetzt oder nie, jetzt, oder ich erlag dem Wesen, das zu mir sprach, all den Worten, dem Strom aus Lügen, Halbwahrheiten, Verlockungen. Ich umfasste die Maus mit der Hand, sie zu würgen, ersticken, zum Schweigen zu bringen, aber gerade, als ich zudrücken wollte, bemerkte ich, dass da nichts mehr war, mein Krafteinsatz nutzlos. Ab diesem Moment war ich mir sicher, dass mir der Teufel höchstpersönlich einen Besuch abgestattet hatte. Ich bekreuzigte mich, betete. Seltsamerweise fühlte ich mich glücklich, besonders aber als ich das leise Flüstern des Windes hörte, aus dem Gott sprach, ohne dass ich die Bedeutung verstanden hätte. Diese Prüfung war vorerst bestanden. Aber weitere würden folgen.
Die Worte der Mama verklingen. Agafja öffnet die Augen, streckt sich, als wäre sie auf aus einem langen Traum erwacht. Nach einiger Zeit entsteigt sie dem Gefäß, in dem sie einst den Schrei nach Leben ausgestoßen hat. Als sie die Höhle verlässt, zupft sie die Kleider zurecht und blickt zum Himmel. Die Wolken ziehen langsam vorbei, dazwischen das Frühlingsblau ungetrübt. Der Rauch wird sich nach und nach verziehen. Während sie tänzelnd den Pfad entlang nach Hause geht, hört sie den Geräuschen des wachsenden Grases zu.
In der Hütte angekommen, nimmt sie die Dose, schüttet den Inhalt aus und zertritt die Spinne, stampft sie in den Lehmboden, bis die Überreste sich in eine Form verwandeln, die der des Metallstücks ähnelt, das vom Himmel fiel.