Mitglied
- Beitritt
- 25.01.2008
- Beiträge
- 36
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Wasser!
Einen kleinen, einen ganz kurzen Moment wollte sie ihren Platz verlassen. Ihre Jacke hing am Haken neben der Lehne am Fenster, ihr Rucksack ruhte genau oben drüber in der Gepäckablage und ihre Wasserflasche Stilles Wasser diente als Platzhalter. Sie saß an einem der wenigen Tische im Intercity. Sie wollte den kurzen Halt des Zuges nutzen, weiter vorne das Fenster herunter zu schieben. Einige Leute stiegen ein und suchten sich aus den zahlreichen leeren Sitzplätzen einen ruhigen, von den anderen Reisenden möglichst weit entfernten Flecken. Schweißgeruch lag in der Luft. Sie blieb am Fenster stehen und schaute träge auf den Bahnsteig, ein paar Leuten zu, die sich von anderen verabschiedeten. So bemerkte sie auch kaum den jungen, sehr elegant in grau gekleideten Mann, der hinter ihrem Rücken entlang huschte mit einer Flasche in der Hand, die ihrer sehr ähnlich war. Besonders der orangene Verschluss ließ ein Alarmsignal in ihr läuten. Er kam zurück, setzte sich haargenau genau auf ihren Platz. Die Flasche ließ er unter dem leichten Bausch seines Mantels verschwinden. Sie stutzt. Was war denn das! Hat der doch tatsächlich im WC ihre Wasserflasche entleert! Es war Sommer, es war heiß, sie wollte lesen und nachdenken und vor ihr lagen noch vier Stunden Zugfahrt. Na großartig! Ruckartig wandte sie sich zum gehen, zügelte sich jedoch sofort wieder. Sie brauchte nicht empört hinstürzen, er hat das Wasser aus ihrer Flasche ja bereits ausgegossen. Aber wie sollte sie reagieren? So ein Schnösel! Ihr Mund war jetzt schon ganz trocken und sie ahnte die kommende Qual. Hatte er es wirklich so nötig, sich auf das Einsammeln von Pfandflaschen zu kaprizieren? Hatte er ihre Sachen nicht gesehen? Nein, halt, bloß nicht die Ausreden vorwegnehmen und sein Verhalten im Vorhinein entschuldigen. Was für ein Tunnelblick, tschak, Flasche, Geld! Nicht nach links, nicht nach rechts geschaut, typisch Mann, schimpfte sie innerlich dennoch weiter. Langsam schritt sie aus. Sie musste sich überlegen wie sie reagieren sollte. Quatsch Tunnelblick, eindimensionales und ausschließliches Ausgerichtetsein auf das Geldverdienen. Und das war ein zivilisatorisches Problem, keines, das angeboren war, sondern eine Frage der Erziehung, der eigenen Charakterbildung. Das alles konnte sie unmöglich sagen und ihr Wasserproblem würde es auch nicht lösen. Sie gratulierte sich, immerhin soweit problemorientiert zu sein und nicht nur dieses egozentrische Wesen zu analysieren. Aber hatte sie nicht auch den Fehler begangen, ihren Platz nicht ganz eindeutig markiert zu haben? Ja aber selbst wenn sie nicht eindeutig ein Stoppschild hingestellt hatte, so lag der Fehler dennoch nicht bei ihr. Sie sollte sich abgewöhnen, an sich selbst einen derartigen Anspruch an korrektes und angemessenes Verhalten zu stellen, jeder andere hat auch einen Kopf zum Denken, sie musste die Welt nicht alleine im Zaum halten, auch andere waren für ein Funktionieren des Miteinander verantwortlich. Und sie brauchte ihre moralische Unfehlbarkeit auch nicht als Voraussetzung, um jemand anderen zu kritisieren. Immer diese dummen Großmüttersprüche, von wegen, man solle erst vor der eigenen Haustür fegen, sich immer erstmal an die eigene Nase fassen… Wieder war sie einen Meter näher. Und es ging um ihr ureigenstes Interesse, ja um ihr Leben! Das Wort Dehydrierung leuchtete vor ihrem inneren Auge auf. Jetzt sah er sie. Er ahnte etwas. Und er setzte seinen unschuldigen Hundeblick auf. Oh, er entwickelt Schuldbewusstsein. Oder tut er nur so. Teil seines abgebrühten Verhaltens, einstudiert. Trotzdem, nein, so konnte sie ihn keinesfalls anfahren. „Entschuldigen sie, ich glaube, sie haben sich da gerade auf meine Flasche gesetzt.“ „Oh, aber ich dachte…“ Sie hörte gar nicht hin, die letzten Zehntelsekunden hatte sie bereits durchgespielt, was er alles hatte denken können, als er diese … „Das tut mir leid, soll ich ihnen das Wasser bezahlen.“ Idiot, es gab Zeiten, da war Wasser unbezahlbar. Und was sollte sie wohl für das Wasser aus ihrem Wasserhahn für einen Preis verlangen. Sie schaute ratlos. Das war ihr sehr unangenehm. Da hatte sie nicht das geringste händlerische Geschick. Jetzt käme ihr eine schlagfertige Bemerkung gerade recht. Aber Witze konnten nach hinten losgehen. Schlecht, wenn der Geldbeutel schmal ist. Die Geschichte der Höflichkeit war sicherlich zugleich auch die Geschichte fehlenden Geldes. Das Geld war bei ihr weniger das Problem. „Wollen sie meine Apfelschorle.“ Er war aufgestanden. Nur ein kleiner Wicht. Aber mit einem unglaublichen Ego. Igitt, er hatte die Flasche aufgedreht. Vielleicht schon davon getrunken. Schlimmstenfalls war seine ekelhafte Art gar ansteckend! Nun stand sie genau vor ihm. Da drängten sich, da sie doch sehr langsam gegangen war, ein paar Leute an ihr vorbei. Man sprach von Kaffee und da fiel es ihr ein. „Nun, es gibt in diesem Zug ein Bistro. Ich würde mich freuen, wenn wir dort zusammen einen Kaffee trinken würden und sie mir dort auch eine neue Flasche Wasser besorgten.“ Das würde diesem Raffzahn sicherlich am meisten weh tun.