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Wasser!

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25.01.2008
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Wasser!

Einen kleinen, einen ganz kurzen Moment wollte sie ihren Platz verlassen. Ihre Jacke hing am Haken neben der Lehne am Fenster, ihr Rucksack ruhte genau oben drüber in der Gepäckablage und ihre Wasserflasche Stilles Wasser diente als Platzhalter. Sie saß an einem der wenigen Tische im Intercity. Sie wollte den kurzen Halt des Zuges nutzen, weiter vorne das Fenster herunter zu schieben. Einige Leute stiegen ein und suchten sich aus den zahlreichen leeren Sitzplätzen einen ruhigen, von den anderen Reisenden möglichst weit entfernten Flecken. Schweißgeruch lag in der Luft. Sie blieb am Fenster stehen und schaute träge auf den Bahnsteig, ein paar Leuten zu, die sich von anderen verabschiedeten. So bemerkte sie auch kaum den jungen, sehr elegant in grau gekleideten Mann, der hinter ihrem Rücken entlang huschte mit einer Flasche in der Hand, die ihrer sehr ähnlich war. Besonders der orangene Verschluss ließ ein Alarmsignal in ihr läuten. Er kam zurück, setzte sich haargenau genau auf ihren Platz. Die Flasche ließ er unter dem leichten Bausch seines Mantels verschwinden. Sie stutzt. Was war denn das! Hat der doch tatsächlich im WC ihre Wasserflasche entleert! Es war Sommer, es war heiß, sie wollte lesen und nachdenken und vor ihr lagen noch vier Stunden Zugfahrt. Na großartig! Ruckartig wandte sie sich zum gehen, zügelte sich jedoch sofort wieder. Sie brauchte nicht empört hinstürzen, er hat das Wasser aus ihrer Flasche ja bereits ausgegossen. Aber wie sollte sie reagieren? So ein Schnösel! Ihr Mund war jetzt schon ganz trocken und sie ahnte die kommende Qual. Hatte er es wirklich so nötig, sich auf das Einsammeln von Pfandflaschen zu kaprizieren? Hatte er ihre Sachen nicht gesehen? Nein, halt, bloß nicht die Ausreden vorwegnehmen und sein Verhalten im Vorhinein entschuldigen. Was für ein Tunnelblick, tschak, Flasche, Geld! Nicht nach links, nicht nach rechts geschaut, typisch Mann, schimpfte sie innerlich dennoch weiter. Langsam schritt sie aus. Sie musste sich überlegen wie sie reagieren sollte. Quatsch Tunnelblick, eindimensionales und ausschließliches Ausgerichtetsein auf das Geldverdienen. Und das war ein zivilisatorisches Problem, keines, das angeboren war, sondern eine Frage der Erziehung, der eigenen Charakterbildung. Das alles konnte sie unmöglich sagen und ihr Wasserproblem würde es auch nicht lösen. Sie gratulierte sich, immerhin soweit problemorientiert zu sein und nicht nur dieses egozentrische Wesen zu analysieren. Aber hatte sie nicht auch den Fehler begangen, ihren Platz nicht ganz eindeutig markiert zu haben? Ja aber selbst wenn sie nicht eindeutig ein Stoppschild hingestellt hatte, so lag der Fehler dennoch nicht bei ihr. Sie sollte sich abgewöhnen, an sich selbst einen derartigen Anspruch an korrektes und angemessenes Verhalten zu stellen, jeder andere hat auch einen Kopf zum Denken, sie musste die Welt nicht alleine im Zaum halten, auch andere waren für ein Funktionieren des Miteinander verantwortlich. Und sie brauchte ihre moralische Unfehlbarkeit auch nicht als Voraussetzung, um jemand anderen zu kritisieren. Immer diese dummen Großmüttersprüche, von wegen, man solle erst vor der eigenen Haustür fegen, sich immer erstmal an die eigene Nase fassen… Wieder war sie einen Meter näher. Und es ging um ihr ureigenstes Interesse, ja um ihr Leben! Das Wort Dehydrierung leuchtete vor ihrem inneren Auge auf. Jetzt sah er sie. Er ahnte etwas. Und er setzte seinen unschuldigen Hundeblick auf. Oh, er entwickelt Schuldbewusstsein. Oder tut er nur so. Teil seines abgebrühten Verhaltens, einstudiert. Trotzdem, nein, so konnte sie ihn keinesfalls anfahren. „Entschuldigen sie, ich glaube, sie haben sich da gerade auf meine Flasche gesetzt.“ „Oh, aber ich dachte…“ Sie hörte gar nicht hin, die letzten Zehntelsekunden hatte sie bereits durchgespielt, was er alles hatte denken können, als er diese … „Das tut mir leid, soll ich ihnen das Wasser bezahlen.“ Idiot, es gab Zeiten, da war Wasser unbezahlbar. Und was sollte sie wohl für das Wasser aus ihrem Wasserhahn für einen Preis verlangen. Sie schaute ratlos. Das war ihr sehr unangenehm. Da hatte sie nicht das geringste händlerische Geschick. Jetzt käme ihr eine schlagfertige Bemerkung gerade recht. Aber Witze konnten nach hinten losgehen. Schlecht, wenn der Geldbeutel schmal ist. Die Geschichte der Höflichkeit war sicherlich zugleich auch die Geschichte fehlenden Geldes. Das Geld war bei ihr weniger das Problem. „Wollen sie meine Apfelschorle.“ Er war aufgestanden. Nur ein kleiner Wicht. Aber mit einem unglaublichen Ego. Igitt, er hatte die Flasche aufgedreht. Vielleicht schon davon getrunken. Schlimmstenfalls war seine ekelhafte Art gar ansteckend! Nun stand sie genau vor ihm. Da drängten sich, da sie doch sehr langsam gegangen war, ein paar Leute an ihr vorbei. Man sprach von Kaffee und da fiel es ihr ein. „Nun, es gibt in diesem Zug ein Bistro. Ich würde mich freuen, wenn wir dort zusammen einen Kaffee trinken würden und sie mir dort auch eine neue Flasche Wasser besorgten.“ Das würde diesem Raffzahn sicherlich am meisten weh tun.

 
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Hallo Herr Naso,

Dein Text hat mir gut gefallen, auch wenn ich das Ende nicht ganz ueberzeugend fand. Manchmal loesen ganz unspektakulaere Situationen ja durchaus langwierige Ueberlegungen aus. Das hast Du gut und unterhaltsam beschrieben (allerdings ein bisschen weniger unterhaltsam als in den "Sekreten Wuenschen")
Lieblingsstelle in diesem Text, "die Wasserflasche Stilles Wasser", das hoert sich so schoen nach einem Eigennamen an. Sie hat ja auch eine ganz besondere Beziehung zu ihrem Wasser, von Zuhause mitgebracht.
Wasser ist ja auch echt wichtig, die Kriege der Zukunft etc.

Hier nun einige pragmatische Hinweise.

Sie blieb am Fenster stehen und schaute dösig auf den Bahnsteig, einem Pärchen beim Abschied von ihren Eltern zu.
hier zweierlei: da wo ich herkomme (Ruhrpott) ist "doesig" nicht etwa das Adjektiv zu "doesen", sondern bedeutet "ein bisschen dumm". Vielleicht meinst Du das ja, aber mich hats hier ueberrascht.
Auch mit den Eltern des Paerchens war ich nicht ganz gluecklich, weil man nicht so recht weiss, wieviele Eltern da anwesend sind (2,3,4). Moeglicherweise teilt sich das Paerchen ein Elternpaar? Ist wahrscheinlich nur mein Problem, wollte es aber trotzdem mal erwaehnt haben.

Sie stutzt.
Diesen Tempuswechsel nur fuers Protokoll. Gut moeglich, dass es hier Absicht war.

Sie gratulierte sich, immerhin soweit problemorientiert zu sein und nicht nur dieses egozentrische Wesen zu analysieren.
fand ich ein bisschen holprig. Vorschlag zur Guete: seine Egozentrik zu analysieren.

an sich selbst einen derartigen Anspruch an korrektes und angemessenes Verhalten zu stellen,
Ich frage mich allerdings auch, inwiefern sich hier korrekt und angemessen unterscheiden.

Nein, halt, bloß keine Ausreden und Entschuldigungen für so ein Verhalten im Vorhinein.
Der Satz scheint mir etwas unelegant. Das kannst Du doch besser mit einem Deiner feinen Fremworte loesen.

Und das war ein zivilisatorisches Problem, keines, das angeboren war, sondern eine Frage der Erziehung und der eigenen Charakterbildung.
Ohne "und" klingt es noch etwas empoerter.

Und er legte seinen unschuldigen Hundeblick auf.
einen Blick auflegen hae ich noch nicht gehoert. Die uebliche Kollokation ist doch eher "aufsetzten", was allerdings zu nichts verpflichtet.

Bistrot
Da bin ich jetzt zu faul, das nachzupruefen. Aber ich wette, das dies nicht die gaengige Schreibweise ist.

So jetzt noch ganz verschaemt am Schluss: Was ist das fuer eine Apfelschorle, die er da hat. Das ist doch hoffentlich eine andere Flasche als die ihre, die er gerade vom Klo zurueckgebracht hat. Diese Verunsicherung, ob es da nicht noch ein sekretes Geheimnis gibt, kann mir nach Deinem letzten Text wohl niemand uebelnehmen. Man wird halt vorsichtig.

Viele Gruesse und schoenen Abend
feirefiz

 

Guten Abend, Herr Naso,

Die Geschichte wirkt auf mich unbeholfener als die letzte; nur an ein paar Stellen kommt sie in Schwung, und der Schluß hat mir gar-gar-nicht gefallen. Der ist lahm!
Wieso will sie mit dem Depp denn auf einmal Kaffee trinken? Und wieso dieser Frau-mit-Herz-Anbaggerspruch? Wozu hat sie sich denn dann überhaupt ihr Köpfchen so zerbrochen, wenn das dabei herauskommt?
Sie hätte sagen können "Wissen Sie, was Sie da gerade weggeschüttet haben? Ich hoffe, Sie sind besser versichert, als sie aussehen." Und dann wären da heimlich die Elixiere des Teufels dringewesen, millionenteuer und astgefährlich!
Oder ihre eigene Flasche hätte, nachdem sie dachte, sie hätte alles durchgespielt, unter ihrem Krempel liegen können, voll mit ihrem Wasserhahnwasser, und er hätte eben genau dieselbe gehabt und seine eigene ausgeleert, was weiß ich. Ich jedenfalls habe törichte Hoffnungen auf irgendeinen BANG genährt. Da sitz ich jetzt...
Vielleicht soll die Geschichte Geschlechterrollenklischeeprobleme beleuchten. Daß frau z.B. nicht sagt, was sie eigentlich sagen will etc. Oder Wasserprobleme. Aber da hab ich ja kein' Sinn für.
Falls ich alles falsch verstanden habe: Mea maxima culpa. In jedem Fall eine gute Nacht und freundliche Grüße!
Makita.

 
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Hallo Ihr beiden (diese Tatsache irritiert mich ein wenig), vielen Dank für die Anmerkungen (habe einiges abgeändert), für Vorschläge und für die Komik (lautes Lachen am PC) und bitte um Entschuldigung für arg spätes Reagieren.

Makita, still und heimlich, in meiner Kammer, werde ich diese Geschichte umschreiben und sie wird genau dieses wundervolle Ende haben. Ich habe aber, angeregt durch deine Anmerkung, noch etwas eingfügt in die Überlegungen. Ich zitier es hier, erspart das noch mal lesen:

Jetzt käme ihr eine schlagfertige Bemerkung gerade recht. Aber Witze konnten nach hinten losgehen. Schlecht, wenn der Geldbeutel schmal ist. Die Geschichte der Höflichkeit war sicherlich zugleich auch die Geschichte fehlenden Geldes. Das Geld war bei ihr weniger das Problem. [...] Das [Spendieren] würde diesem Raffzahn sicherlich am meisten weh tun.

Feirefiz, Fremdwortvariante: Kausalzusammenhänge des Habitus antizipieren fand ich nicht so passend, hab aber dennoch umgerüstet und korrigiert. Und korrekt und angemessen unterscheide ich, wenn das eine regelkonform ist und das andere regelabweichend, aber zwischenmenschlich ausgehandelt ist.

Viele Grüße Claudio

@Forum, sorry, dass die Story wieder so weit oben.

 
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Guten Abend Claudio,

mein Gott, Du tobst Dich ja hier durch die Reihen des Alltags.

Nur eine Kleinigkeit, die mir beim Lesen der 2. Version aufgefallen ist. Du hast das Paerchen auf dem Bahnsteig jetzt durch Leute ersetzt, beziehst dich aber spaeter auf "das Paerchen", das sich an der Protagonistin vorbeiquetscht. Passiert schon mal beim Umbau.
Ob die Rache am Geldbeutel des Diebes Makitas Wunsch nach Dramatik befriedigt? Naja, man darf gespannt und ein wenig skeptisch sein. Eine weitere Ueberarbeitung des Endes ist ja zumindest in Aussicht gestellt.
Sehr unfein uebrigens von Dir, dass ich jetzt weiter raetseln muss, ob er ihr seine Urinprobe anbietet.

So, das wars schon, kannst wieder weitertoben.

@Forum, sorry, dass die Story wieder so weit oben.
Was ist denn das fuer ein Bescheidenheitstopos?

feirefiz (und jetzt flugs hinaus in die Nacht)

 
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Danke feirefiz, für das nochmalige aufmerksame Lesen. Den Kurzschluß zwischen Urinprobe und Apfelschorle werde ich wohl nicht mehr los. Ein Hinweis auf die andere Flasche wäre unzureichend, denn an der Fragwürdigkeit der Flüssigkeit ändert das andere Gefäß ja au nix. Hab nach Unterscheidungskriterien gesucht, wie Sprudeln oder Schäumen, aber da wurde es mir zu abartig und ich lass es unkommentiert. Da entzieht sich mir diese fremde Figur, die mir jetzt nur noch fremder wird.
Hoffentlich verfolgt mich diese Frage nicht als Ceterum censeo durch alle meine Beiträge.
Tanti Saluti in die Nacht, die ja jetzt erstmal keine ist
Claudio

 

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