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Wassertropfen
Gestern war es wieder schlimm gewesen.
Niels sitzt auf seinem Stuhl. Sein Nachbar neben ihm guckt nach vorne, schaut, was der Lehrer macht. Beinahe hätte er dem Drang wieder nachgeben, hätte wieder alles zu Nichte gemacht, was er sich in den letzten drei Monaten mithilfe der Ärzte erarbeitet hatte. Nervös reibt er seine Hände an der Hose. Von dem Geräusch abgelenkt guckt sein Nachbar kurz rüber, fragt sich wohl, was er da macht, lenkt seine Aufmerksamkeit aber schnell wieder auf das Unterrichtgeschehen..
Ja, Gestern war es schlimm, denkt Niels, aber heute ist es noch viel schlimmer.
Er schielt verstohlen zum Waschbecken, beobachtet wie kleine Wassertropfen langsam aber stetig aus dem Wasserhahn rinnen und ins Porzellanbecken klatschen.
Dreck, Dreck, du bist so dreckig. Überall ist Schmutz, überall Bakterien! Du bist so schmutzig!, hört er es in sich Rufen.
“Niels?”
Ruckartig wendet er sich dem Lehrer zu.
“Was ist der Logarithmus von 4 zur Basis 2?”
Niels stottert.
“Niels passt du schon wieder nicht auf im Unterricht?”
“Nein... Nein... Herr Bahr...”
“Zwei”, Flüstert jemand hinter ihm.
“Zwei?”, wiederholt er zögerlich.
Herr Bahr schüttelt den Kopf, wahrscheinlich weiß er, dass die Antwort nicht von ihm stammt.
“Richtig, richtig. Der Logarithmus von 4 zur Basis 2 ist 2.”, wiederholt er, und fährt in seinem Unterricht weiter.
Jemand berührt Niels leicht am Arm. Er dreht sich um. Ein kleiner Zettel liegt hinter seinem Stuhl auf dem Boden. Er beugt sich hinunter und hebt ihn auf. Seine Hand zittert.
Der Zettel ist von Marina, die ihn in der Psychatrie mit ihrer besten Freundin Alex besucht hatte. Sie ist die einzige Person - mit Alex - die wissen, wo er in den letzteb paar Monaten war und warum er nicht in die Schule gegangen war. Er hatte es ihnen in einen seiner schwachen Momente, in denen er nicht “Nein!” sagen konnte, verraten, obwohl ihm die Ärzte davon abgeraten hatten, ihm gesagt hatten, dass er die Geschichte aus der Schule raushalten sollte.
Langsam öffnet er ihn.
“Hey, wie geht’s dir? Die Zicken haben Alex schon wieder gefragt, wieso du so lange weg warst und Alex hat’s verraten. Tut mir leid. Aber die sind voll doof, echt. Bestimmt verraten die das allen. Was machen wir jetzt? Die haben doch gar keine Ahnung, was du durchmachst, die verstehen das nicht... Ich komm’ in der Pause zu dir.”
Niels lässt das Zettelchen auf den Tisch sinken, Tränen schießen ihm in die Augen, schnell vergräbt er den Kopf in seine Armen. Dreck, Dreck..., flüstert es ihm immer noch zu. So intensiv und bedeutend.
Wieder wenden sich seine Augen dem Waschbecken, folgen den Tropfen des Wassers.
Was sollte er nur machen?