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Wege aus dem Nebel
Wege aus dem Nebel
Er trinkt direkt aus dem Licht der Träume, denn hier vermutet er das Leben. Am Delta aller Kreisläufe, wo die Strömung so stark ist, dass in den unzähligen Schaumkronen das Schicksal sich bricht und hinfort geschwemmt wird in das ewige Vergessen; dorthin treibt ihn seine letzte Flucht. Langsam wacht er auf. Beim Versuch aufzustehen, taumelt er kurz und stürzt in eine der schemenhaften Gestalten um ihn herum. Bekannte und unbekannte Gesichter starren durch ihn durch, jedes in einem anderen, selbstherrlichen Leben. Doch er überstrahlt sie alle. Nie mehr soll es diese Schatten neben ihm geben. Er, der Lichtspender der Welt, verlässt dieses stinkende Loch, um sich am Anblick seiner zukünftigen Bewunderer zu befriedigen.
Als er die Straße betritt, ist es noch früh und der feuchte Nebel jener Novembertage legt sich schmeichelnd um seinen zarten Jünglingskörper, um rasch auf seiner leicht gebräunten Haut zu verdunsten. Er ist heiß. Seine Blicke lodern, entkleiden jeden, den sie streifen und bohren sich tief in die Herzen der Männer und Frauen, die ihn vom Straßenrand her beäugen. Tief in die Seele schauen sie, um doch nichts zu finden. Es sind fremde Menschen, die ihn zu kennen glauben. Was hält ihn hier? Er streift flink durch den Ort, die Hüften in der engen Jeans wiegen sich sachte, als er den Ortsausgang erreicht. Die Zukunft kann nie schnell genug kommen. Er flattert nun fast, wie ein verlorener junger Vogel, der durch das Unterholz kriecht und es längst aufgegeben hat, nach seiner Mutter zu rufen. Doch sein strahlendes Gefieder bietet keinen Schutz im monotonen Unterholz. Wohin fliegst du, junger Vogel? Hinter ihm bricht die Vergangenheit ein. Häuser stürzen in nie mehr zu erhellendes Dunkel. Die Frauen, die ihm eben noch hinterherschauten, tauschen jetzt argwöhnische Blicke aus und die Männer lachen rau und spöttisch: „Der Träumer wird´s wohl nie zu etwas bringen.“ So sprechen diese unglücklichen Menschen, deren höchste Freude darin besteht, einen heimlichen Fick mit der Frau des besten Freundes zu ergattern. Zu diesem „etwas“ bringen sie es alle und auch er weiß das. Trotzdem hört er immer noch ihr Lachen, sieht die musternden Blicke seinen weichen Körper abtasten und fleht darum, dass sie nicht sein Herz sehen mögen. Ein offenes Leben ist kalt und die Wahrheit macht nackt und verletzlich. Eine Welt wie diese kann mit nackten Menschen nichts anfangen, wenn sie nicht obszöne Gesten vollführen.
Wenn er schon nicht seinen Körper prostituieren wollte, dann sollte er es eben mit seinem Geist tun. Sollte beweisen, dass er nicht anders ist. Dass er die Einheitszeitung liest, dass er die Einheitsmeinung spricht und die Einheitsfrauen vögelt. Er hatte es wirklich probiert. Er las die Zeitungen mit den blutigen Überschriften, nickte verständnisvoll, wenn für Terroristen die Todesstrafe gefordert wurde, und besuchte ab und zu den örtlichen Puff. Doch es ging nicht. Erst streikte sein Körper. Er bekam plötzliche Schweißausbrüche und starke Magenkrämpfe. Morgens kotzte er sein Bett voll. Es sollte alles aus ihm raus gespült werden. All diese Oberflächlichkeit, dieser Neid der kannibalischen Leistungsgesellschaft; er wollte es alles aus sich raus würgen, bis er nicht mehr konnte. Er war sechsundzwanzig. Er wollte etwas ändern, solange er noch die Kraft dazu hatte und das mit der Radikalität, die ihm nötig schien. Anfangs blieben die regelmäßigen Besuche in seinen Stammkneipen aus. Dafür sah man ihn immer häufiger mit jungen Männern ans Meer fahren. Er hörte auf, sich um Politik zu kümmern und auf die prüfende Nachfrage hin, ob er denn wenigstens noch in die Kirche gehen würde, antwortete er: „Ich bin schwul, aber nicht pädophil“, als Anspielung auf die jüngsten Gerüchte um den örtlichen Pfaffen. Das war zu viel für all die Kleingärtner und Mülltrenner und sie zogen sich von ihm zurück. Eine kurze Zeit war er glücklich, doch hatte er die Rache des Mobs unterschätzt. Da er nicht dazugehören wollte, ignorierte man ihn. Schnell verlor er seine wenigen sozialen Kontakte, von denen er sich zunächst unabhängig glaubte. Doch er vereinsamte, verbrachte Tage vor Fernsehen und Internet. Er war angewiesen auf den Respekt der Menschen, die er zutiefst verachtete. Es war so lächerlich und so demütigend. Dafür sollte er nicht geboren worden sein. Er wollte für die Welt leben, von der er sich in seiner Jugend so viel erhofft hatte, doch er lebte in der Welt seiner konservativen Eltern und seiner verhassten Generation, deren Ignoranz nur von ihrer Skrupellosigkeit übertroffen wurde. Er wollte nur Verfall sehen und sein ganz persönliches Drama. Die Desillusion traf ihn hart und kam zu früh für ihn. Viel zu früh. Doch er war zu feige, wegzuziehen. Er hing an dieser verfluchten Stadt, an deren Ortsgrenzen man den großen Ozean rauschen hören konnte. Also flüchtete er zuerst in Träume, dann in Trips. Für Menschen, die Extreme suchen, ist das ein ganz natürlicher Übergang. Er war nicht dumm. Er wusste um die Gefahren, die ihm in den Zeitungen mit den großen fauligen Buchstaben immer wieder gezeigt wurden. Er warf viel mehr freiwillig weg, was andere als nutzlos erachteten: sein Leben.
So tragen ihn seine Füße weiter und weiter aus der Stadt. Vorbei an grauen Wiesen und toten Hölzern. Sein Stern zieht gen Unendlichkeit, die Energie hat ihn noch nicht verlassen. In seinen schönen grünen Augen liegt noch der Glanz jugendlicher Sehnsüchte, doch die stecknadelgroßen Pupillen starren nach vorne. Kompromisse sind keine Option für ihn. Am Himmel rasen die Wolken entgegen, in seinem Gesicht wechseln Licht und Schatten mit jeder Sekunde. Doch ihn blendet nichts. Als er die Dünen erreicht sind seine Schuhe schon vollkommen aufgeweicht durch den Morgentau, er wird sie nicht mehr brauchen. Barfuß zieht er weiter. Im nassen Gras hinterlässt er keine Spuren, so leicht scheint er zu sein. Als er die Spitze der Düne erreicht, macht er keine Pause. Er ist noch nicht am Ziel. Er ist niemals am Ziel. Keine Zeit für Ausblicke, als er den Abhang hinab läuft. Er riecht das morsche Holz der maroden Strandhäuschen und Salz liegt in seinen Lungen, als er den Strand erreicht. Noch ist Flut, doch bald wird Ebbe sein und das Meer wird seine Freunde mit sich ziehen. Er kennt keine anderen mehr. Hässlich lacht er die Liebe an, die seine Schritte stoppen will. „Du betrügst mich nicht noch einmal. Wie oft habe ich gehofft, dir zu begegnen. Doch du, Hure meiner Träume, bliebst täuschendes Gefühl. Scher dich, lüsterne Priesterin! Kein Mann und keine Frau bedeuten etwas in dieser flüchtigen Welt.“ Mit weit aufgerissenen Augen kreischt er diese Worte. Schwer atmend fährt er fort: „Ich will nur eins werden mit der großen See! Mächtige Welle und ewiges dunkles Wasser sein!“ Mit diesen Worten betritt er den wackligen Holzsteg. Rasch trägt es ihn weiter und weiter. „Dies sind keine Tränen, dies ist meine letzte Hoffnung!“ Dann taucht er.
Irgendwo am Horizont vermutet er die Sonne.