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Weiß
An diesem Tag wachte ich vor dem Wecker auf, was sonst nie der Fall war, und mein Magen tat weh. Ich starrte in die Dunkelheit, krümmte mich in embryonaler Haltung zusammen, um den Schmerz zu lindern, war gerade wieder im Begriff wegzudösen, als mich das schrille Läuten unerbittlich aus dem Schlaf riss. Das Laken war nassgeschwitzt und unangenehm auf der Haut, durchs Fenster kam diffuses Licht herein, zu wenig, um den Raum zu erhellen, doch zu viel, um die Dunkelheit vollkommen sein zu lassen.
Ich schaltete also die Neonröhre an der Decke an und ging zum Waschbecken um meine allmorgendliche Toilette zu machen. Jenes Ritual, mit dem alle Tage begannen. Es blubberte und gurgelte in der Leitung, pfeifend entwich Luft aus dem Hahn, die ekelerregend nach Kanalisation stank, doch Wasser kam keins. Ich musste mich also, sehr zu meinem Verdruss, mit ein paar Tropfen Eau de Toilette begnügen, bevor die übliche Prozedur fortgesetzt wurde. Die Unterwäsche frisch aus dem Schrank, nach Weichspüler duftend, Hose und Hemd vom Vortag, säuberlich über dem Diener hängend, noch ohne Flecken, ungebügelt, gut für einen weiteren Tag.
Mein Frühstück pflege ich außer Haus einzunehmen, in einem kleinen Cafe unweit meines Büros. Es ist recht angenehm dort, am frühen Morgen, die Bedienungen kennen mich alle namentlich und bringen mir unaufgefordert Kaffee mit Milch und ein Buttercroissant. In Gedanken schon dort, den Duft des Croissants in der Nase, trat ich also aus der Türe um zum Auto zu gehen, doch da war Nichts.
Ich stand in dichtem Nebel, der sich wie eine Wand vor mir aufbaute und selbst die Geräusche der nahen Autobahn fast vollends verschluckte. Ich drückte die Taste der Fernbedienung am Schlüssel und bewegte mich mit ausgestreckten Armen tastend in Richtung des rumpelnden Geräusches des sich öffnenden Garagentors. Mein alter VW stand so, wie ich ihn am vergangenen Tag geparkt hatte, rückwärts in der Garage. Ich ließ ihn an und fuhr vorsichtig aus der Einfahrt. Im letzten Moment trat ich scharf auf die Bremse um nicht mit einem Fahrzeug zu kollidieren, das vorher nicht zu sehen war.
Nun ist Nebel für diese ehemals sumpfige, aber mittlerweile vollkommen trockengelegte Gegend nichts Ungewöhnliches, aber ich konnte mich nicht erinnern, dass dieser jemals so dicht gewesen war. Man konnte schier die Hand nicht vor den Augen sehen. Bei diesem Schneckentempo würde ich sicher zu spät ins Büro kommen, selbst wenn ich das Frühstück ausfallen ließ. Ich tröstete mich damit, dass ich sicher nicht der Einzige wäre, der heute zu spät käme. Mein erster Termin war erst kurz vor Mittag und ändern könnte ich sowieso nichts mehr, also warum sich darüber Gedanken machen? Im Schritttempo schlich ich dahin, mich am rechten Fahrbahnrand orientierend, angespannt ins weiße Nichts vor mir starrend, ob ich nicht Lichter erblickte, die da irgendwo sein mussten, andere Fahrzeuge, die Ampel der großen Kreuzung zum Autobahnzubringer, doch da war Nichts.
Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit, eine Art Nervosität, auch mein Magen begann sich wieder zu rühren. Die Kreuzung befindet sich etwa drei Kilometer von meinem Haus entfernt, selbst bei dieser unendlich langsamen Geschwindigkeit hätte ich sie schon lange passieren müssen. Doch die Straße ging immer weiter geradeaus. Die Uhr in meinem Wagen war schon seit längerem defekt, ich hatte es versäumt sie reparieren zu lassen, wohl aus Verdruss über die gewohnt schlechte Arbeit meiner Werkstatt. In diesem Moment wünschte ich mir jedoch eine Möglichkeit herauszufinden, wie lange ich schon fuhr und warum ich immer noch nicht an der verdammten Kreuzung war. Es kam mir vor als säße ich schon Stunden im Wagen, im ersten Gang, vorwärts kriechend. Da ich keine Armbanduhren vertrage, schaltete ich, ganz entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten, das Radio an, um auf dem Nachrichtensender auf das Zeitsignal zu warten. Doch auch dieser Plan schlug fehl, das Radio produzierte nur Rauschen, der Sendersuchlauf durchlief alle Frequenzen um dann wieder von vorn anzufangen. Vor mir noch immer die gräßliche weiße Wand, die rechte Fahrbahnmarkierung ein paar Meter weit sichtbar, dann das Nichts.
Einmal glaubte ich, rechts neben mir etwas aufblitzen zu sehen, doch bevor ichs näher fassen konnte, wars auch schon wieder vorüber. So blieb ich im Ungewissen ob mich nicht vielleicht nur meine Sinne getäuscht hatten. Konnte ich die Kreuzung bereits passiert haben? Das war ganz und gar unmöglich. Den rechten Randstreifen hatte ich stets im Auge um nicht von der Fahrbahn abzukommen. Wäre dieser Randstreifen auch nur für einen Meter unterbrochen gewesen, so hätte ich es bemerkt. Erst jetzt fiel mir auf, dass mir noch kein einziges Fahrzeug entgegengekommen war, seit ich den Hof verließ. Äußerst ungewöhnlich, denn auf dieser vielbefahrenen Strasse war sogar am frühen Morgen üblicherweise reger Verkehr.
Die Pendler aus meinem und den benachbarten Dörfern nutzen alle diese Strasse um dann auf den Zubringer, auf die Autobahn und in die Stadt zu gelangen. Auch ich nahm diesen Weg, jeden Tag, seit vielen Jahren, jeden Morgen hin und jeden Abend wieder zurück, noch nie hatte ich mich verfahren, wie auch, es gibt nur diesen einen Weg.
Langsam jedoch kamen mir ernsthafte Zweifel. Es musste schon fast Mittag sein, aber mein Gefühl konnte mich auch trügen. Nicht einmal die Sonne war zu sehen. Natürlich kommt es einem so vor, als würde die Zeit nicht vergehen, wenn man in einem Fahrzeug sitzt, das hundertachtzig Kilometer pro Stunde zurücklegen könnte und trotzdem nicht vom Fleck kommt.
In all den Jahren, in denen ich bei meiner Firma beschäftigt war, bin ich erst ein einziges Mal zu spät gekommen. Das war damals, als sich dieser schreckliche Unfall fast vor meiner Haustüre ereignet hatte. Damals als ich mit ansehen musste, wie die zerdrückten Körper in den Wracks verbluteten und hilflos auf den Rettungsdienst wartete. Das war das einzige Mal, dass ich nicht rechtzeitig im Büro war. Ich mache mir heute noch Vorwürfe.
Mir wurde sehr unwohl zumute, ich hatte den starken Drang mich zu übergeben, obgleich mein Magen ohne Inhalt war, ich begann Schemen im Nebel wahrzunehmen, ja, glaubte sogar für einen Augenblick ein rotes Licht vor mir zu sehen, die Ampel, die Kreuzung, doch der Nebel trug auch dieses Bild mit seinen Schleiern fort.
Anhalten konnte ich nicht, die Gefahr, dass ein nachfolgendes Fahrzeug mich zu spät bemerken und auffahren würde war zu groß, also fuhr ich weiter, immer tiefer in das wabernde unwirkliche Nichts hinein, nichts als das monotone Brummen des Motors in den Ohren. Irgendwann musste doch einmal etwas Bekanntes, Vertrautes kommen, ein Schild vielleicht, ein Haus, irgendetwas, das diese schreckliche Gleichförmigkeit durchbräche, doch es kam Nichts.
Selbst, wenn ich die Kreuzung irgendwie übersehen hätte, danach kann doch die Straße auch nicht ewig geradeaus weitergehen. Bisher, war ich, von meinem Haus kommend, an der Kreuzung stets nach links abgebogen, dem Weg zur Autobahn folgend, in die Stadt. Nie war es mir in den Sinn gekommen einmal rechts oder geradeaus zu fahren. Wozu auch, die Straße führte nur in irgendwelche uninteressanten Dörfer, dort hatte ich nie zu tun.
Meine Einkäufe erledigte ich für gewöhnlich in der Stadt, wenn ich doch mal etwas vergessen hatte, was jedoch nur sehr selten vorkam, gab es in meinem Heimatdorf einen Supermarkt mit überhöhten Preisen, auch eine Tankstelle gab es, also kein Grund in die Ortschaften zu fahren, die hinter der Kreuzung lagen. Ich versuchte mich zu entsinnen, wie die erste Ortschaft hieß, die ich hätte passieren müssen, wenn ich an der Kreuzung geradeaus gefahren wäre. Auf der Karte habe ich diesen Namen schon viele Male gelesen, auch Arbeitskollegen kamen von dort, die Ortschaft liegt etwa fünf Kilometer hinter der Kreuzung, doch der Name fiel mir nicht ein.
Dafür kam mir dieser alte Mann in den Sinn, ohne dass dafür ein Anlass bestanden hätte, der Bettler, der jeden Tag vor dem Gebäude meiner Firma sitzt, auf immer dem gleichen schmutzigen Kissen, mit immer dem selben alten Schlapphut vor sich, ein paar Cent darin. Der Bettler der mich jeden Tag aus seinen dunklen, traurigen Augen bittend anschaut. Er, der von mir noch nie etwas bekommen hat. Ich bin ein großherziger Mensch, der Bedürftigen immer gerne gibt, aber ich hasse es, Faulheit zu unterstützen. Es mag wohl sein, dass es schwierig ist, heutzutage eine Arbeit zu finden, erst recht in seinem Alter, aber ich erwarte von jedem, dass er sich zumindest darum bemüht. Einfach nur dazusitzen und darauf zu hoffen, dass einen die Gesellschaft schon durchfüttern wird, das kann und will ich nicht fördern.
Trotzdem musste ich an ihn denken, mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu dachte ich an seine Augen, die diesen unergründlich tiefen flehenden Blick hatten. Er hatte das wohl trainiert. Sah er sein Tun vielleicht als seine Arbeit, ja möglicherweise sogar als eine Art Kunst an? Der Ekel ließ mich erzittern, ich verlor für einen Augenblick die Kontrolle über meine Muskeln, fuhr etwas über die Mittellinie, um dann mein Fahrzeug mit einer ruckartigen Bewegung am Lenkrad wieder an den rechten Rand zu manövrieren.
Durch diesen Schreck wurde ich wieder völlig klar. Diese Klarheit machte mir erst bewusst, dass ich zuvor in Träume abgeglitten und nicht mehr voll aufs Fahren konzentriert war. Seit ich als junger Bursche meinen Führerschein mit Bravour bestanden habe, wurde ich nie in einen Unfall verwickelt. Die Versicherung hat mir bereits mehrmals meine vielen Jahre unfallfreien Fahrens bestätigt.Seit Jahren zahle ich den Mindestsatz und hoffe, dass sich das auch nicht ändert. Ich war bisher recht zufrieden mit meinem Leben, alles war so eingerichtet wie es mir passte, jede auch noch so kleine Veränderung war mir zuwider.
Nur eine Veränderung wünschte ich mir nun doch sehnlich herbei: Dass dieser verfluchte Nebel sich lichte, dass endlich wieder vertrautes Gefilde in Sicht käme, dass ich aus dieser weißen Hölle befreit werde. Dies wurde mir nicht vergönnt.
Ich bin noch immer gefangen im Weiß. Zwar sitze ich nicht mehr im Auto, wie ich hierher kam weiß ich nicht, doch um mich herum ist alles weiß. Ich liege in einem weißen Bett aus weißen Metallrohren, festgeschnallt mit weißen Gurten und starre auf die weiße Decke. Es gibt keine Veränderung.
Ich bin es zufrieden.