- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Weißabgleich
Ich rückte mir einen Sessel im Wohnzimmer zurecht und schaute auf den See.
Diesen Ausblick wollte ich wieder genießen können, zumindest ertragen sollte ich ihn. Denn hier wollte ich bleiben, noch viele Jahre wohnen, glücklich sein, wenigstens zufrieden.
Es war lange her, seit ich das letzte Mal an diesem Fenster gesessen hatte. Ich schmiegte mich in den Sessel, versuchte, in den Bauch zu atmen und die Erschöpfung als angenehm zu empfinden. Der See sah mild und warm aus, obwohl sein Wasser im April noch eisig ist. Ruhig lag er und spiegelte den heller werdenden Himmel.
Kurz nach neun sah ich meinen Nachbarn zum Ufer hinuntergehen. Er ging zu der kahlen Stelle und blieb nah am Wasser stehen, ein dünner Mann mit dünnen, blonden Haaren. In seiner Latzhose und den Gummistiefeln wirkte er noch magerer. Er sah sich um, sah über den See und zum Himmel. Die Sonne schien auf seinen Rücken.
Ich wußte wenig über meinen Nachbarn. Er war ungefähr so alt wie ich, Akademiker wie ich, ohne Auto und ohne Frau wie ich. Niemals hatte ich gesellige Stimmen aus seinem Garten gehört. Abends war eins seiner Fenster hell oder keines.
Fast wäre ich zu ihm hinausgegangen. In diesen Minuten hätte ich Worte gefunden, um alles zu teilen. Er hatte die Bergung der Leiche damals nicht beobachtet, aber ich war sicher, daß er auch noch unter dieser Geschichte litt, daß seine Träume seither schwerer geworden waren, daß er öfter an den Tod dachte oder an Flucht.
Mit den Händen fuhr er durch die schwarzen Zweige. Ich hörte das trockene Geräusch in meinem Kopf. Blühende Bäume und Sträucher verbargen die kahle Stelle von Tag zu Tag mehr, aber von meinem Fenster aus würde ich sie den ganzen Sommer lang sehen. Das war das Furchtbare: Nicht der Tod, nicht die Leiche, sondern der Ort, über den kein Gras wachsen wollte.
Mein Nachbar hatte die Hände in die Taschen gesteckt und sah sich um. Er zog die Schultern dabei so hoch, daß ich seinen Hals nicht mehr sah, und ruckte mit dem Kopf. Wenn sein Blick mein Haus, meine Fenster bestrich, presste ich den Rücken gegen das Polster. Ich wollte nicht mehr hinausgehen. Die Schwere war wieder da. Ich hatte gedacht, ihr entkommen zu sein, aber sie wohnte in meinem Garten. Ich war davon umgeben, darin gefangen, seit man den gefrorenen Körper aus dem Wasser gezogen hatte, so nah bei mir, meinem Bett, meinem Herd. Schlafen wollte ich immerzu, aber nicht mehr träumen.
So blieb ich sitzen, fröstelte in meinem Sessel und sah meinem Nachbarn zu, von dem jetzt nur noch der Schopf zu erkennen war, denn er hatte sich hingehockt oder hingekniet, mitten zwischen die schwarzen Pflanzen. Vielleicht untersuchte er den Boden. Glaubte er immer noch, die Schwärze dort werde von Motten verursacht? Überprüfte er seine Theorie von der geringfügigen Abweichung? Aber wie? Und warum interessierte mich das überhaupt?
Sollte ich nicht lieber darüber nachdenken, was ich letzte Nacht getan hatte? Was mit mir geschehen war, nachdem ich zugepackt und die vernarbte, gezeichnete Haut der Fremden mein Gesichtsfeld, mein Denken und schließlich meinen Mund ausgefüllt hatte? Ihr Blut hatte geschmeckt wie meins. Fast konnte ich glauben, es sei meins gewesen.
Du kannst an mir üben, hatte sie gesagt, und dieser alberne Satz hatte vor Bedeutung gezittert. Meine Grenzen hatte sie niedergerissen, und vielleicht hatte sie genau daran Freude gehabt. Jetzt, allein im Tageslicht, fühlte ich mich besudelt von Grenzenlosigkeit. Ich hatte gründlich geübt und nichts gelernt. Sie hatte eine Entzündung aufgeschnitten, aber ich konnte den Eiter nicht abwaschen. Was nützte mir die Erinnerung?
Mein Nachbar kauerte immer noch an der kahlen Stelle. Jetzt schien mir ganz deutlich, daß er etwas suchte. Manchmal verschwand auch sein Haar hinter den toten Pflanzen und kam dann ein wenig weiter links oder rechts wieder zum Vorschein.
Ich stand auf und öffnete ein Fenster, ganz leise, als könne er mich von dort aus hören. Kühle, würzige Luft wehte mir ins Gesicht, ich roch Wasser und Erde, überlaut drangen die Stimmen der Morgenvögel zu mir herein. Nah am Haus schüttelte eine Ente ihr Gefieder zurecht und hob ab. Ihr Flattern und Rufen übertönten jedes andere Geräusch, dann war sie schon über den halben See geflogen. Ich trat vom Fenster zurück.
Lange, lange stand ich hinter dem Sessel, umklammerte die Lehne und versuchte, an allem vorbeizuhören, an meinem Atem, meinem Herzschlag, dem Knacken meiner Gelenke, wenn ich mein Gewicht verlagerte, den Tierstimmen, dem Plätschern der Wellen, dem Echo der dunklen Worte und Schreie in meinem Kopf. Ich stand und lauerte, jetzt wußte ich es, ich lauerte, weil etwas passieren würde. Etwas würde passieren, und ich durfte es nicht verpassen, denn sonst wäre alles … was? Umsonst gewesen? Zum Scheitern verurteilt?
Ich hätte den ganzen Tag dort gestanden, aber so lange mußte ich nicht warten. Der Blondschopf meines Nachbarn tauchte aus dem Gestrüpp auf, dann seine Schultern, mühsam kam er auf die Beine, sicher waren ihm die Knie eingeschlafen. In seiner Hand hielt er etwas, ich konnte es nicht erkennen, ein Fetzen Stoff könnte es gewesen sein, es hatte die gleiche Farbe wie der Uferschlamm. Er wollte es in die Tasche stecken, in die Brusttasche seiner Latzhose, ungeschickt knüllte und fummelte er daran herum, während er sich abermals umsah.
Schnell trat ich ans Fenster, trat ins Licht, rief ihn an, winkte. Er zuckte zusammen, machte einen hastigen Schritt, als wolle er losrennen, doch er überlegte es sich anders und blieb stehen. Langsam hob er den Arm und bewegte die Hand, es sah aus wie ein Winken, aber dann legte er die Hand über die Augen, wandte sich ab und ging zu seinem Haus zurück. Ich sah ihm nach, während ich schon meine Hand nach hinten ausstreckte, in das dunkle Zimmer hinter mir, sah, wie er hinter der Hecke verschwand, hörte seine Terrassentür quietschen und scheppernd zufallen, während ich drei Schritte ging und das Telefon aus der Station nahm.
Die Nummer der Polizeidirektion wählte ich aus dem Gedächtnis.
„Ich habe etwas beobachtet“, sagte ich.
Noch am selben Tag wurde mein Nachbar abgeholt. Ich stand vor dem Haus, als er mit hängenden Schultern den Weg zur Straße hinauftrottete, die Hand eines Beamten wie begütigend auf seiner Schulter. Er trug keine Handschellen und sah mich nicht an. Beim Einsteigen stolperte er und stieß sich den Fuß an der Bordsteinkante.
Wenige Tage später las ich in der Zeitung, er habe den Mord gestanden. Jetzt wußte man auch, wer die Tote gewesen war. Ihr Gesicht war auf der Titelseite der Lokalzeitung, ein frisches Gesicht, ohne Narben und ohne Zeichen, aber ich erkannte sie sofort.
Mit der Zeitung in der Hand ging ich hinunter zum Ufer, um dem Mädchen auf dem Bild die jungen Triebe zu zeigen.