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Weißer Oleander
Vor ihm sitzt eine junge Frau von 21 Jahren. Ein paar Strähnen ihres braunen Haares hängen ihr ins hübsche Gesicht, als wollte sie nicht, dass man ihre Augen sieht. Sie sind rot. Rot vom vielen Weinen der vergangenen Stunden. Unbeholfen knetet sie die rastlosen Finger und ab und an verschwinden sie unter dem viel zu großen Pullover des Kollegen. Ihre eigene Kleidung war völlig durchnässt, als man sie fand. Den Kopf zum Boden geneigt und mit hängenden Schultern sitzt sie dem Polizeibeamten gegenüber.
"Miss, wollen Sie mir nicht endlich erzählen, was passiert ist?"
Mühsam unterdrückt sie ein Schluchzen.
"Beruhigen Sie sich. Ich weiß, es ist schwer für Sie, aber ich muss die Wahrheit wissen."
"Könnten sie die Wahrheit überhaupt erkennen, wenn Sie sie sehen?"
"Natürlich. Vorausgesetzt, man lässt mich."
Die Frau erhebt sich und geht auf eine Wand zu. Sie starrt darauf, als würde sie dahinter etwas erblicken.
*
"Wir waren auf dem Weg zu meiner Mutter. Sie lebt im Kensington Hospital. Eine Nervenheilanstalt. Seit dem Tod meiner Schwester. Wir wollten gemeinsam Weihnachten feiern. Nur wir drei. Etwa 120 Meilen hätten wir fahren müssen. Mein Vater und ich. Schnee fiel vom Himmel. Dichter, immer dichter. Ich sah aus dem Autofenster. Sah die Bäume und die Häuser vorbei fliegen. Wir sprachen nicht miteinander. Wir sind uns fremd geworden, seit ich in New York studiere. Vielleicht schon vorher. Ich beobachtete ihn. Sein Blick war starr auf die Straße gerichtet. Er saß kerzengerade. Korrekt wie immer. Eingehüllt in seinen schwarzen Mantel, sieht er immer aus wie eine Fledermaus. Seine Haare streng nach hinten gekämmt. Sehr korrekt. Es wurde langsam dunkel. Der Schnee fiel in so dicken Flocken, dass man kaum weiter sehen konnte als dreißig Meter. Ich schlief ein. Als Vater mich wach rüttelte, standen wir auf dem Highway im Stau. 'Setzte dich gerade hin', fauchte er mich an. Allmählich näherten wir uns einer Abfahrt. Vater wollte auf der Landstraße weiterfahren, damit wir noch pünktlich bei Mutter ankommen würden.
Die Landstraße führte durch ein Waldgebiet. Wir passierten die ersten Bäume. Das Schneegestöber wurde weniger. Die Bäume hielten den Wind zurück. Doch der Nebel wurde stärker. Plötzlich sah ich eine Gestalt auf der Straße stehen. Ich schrie Vater an, er solle stoppen. Er trat auf die Bremse. Der Wagen kam auf dem Schnee ins Rutschen. Das Auto drehte sich und prallte mit dem hinteren Teil gegen einen Baum. Er brüllte mich an. Fragte, ob ich verrückt geworden sei. Ich stieg aus und sah mich um. Da, mitten auf der Straße stand sie. Sie trug ihr hellblaues Kleid. Es war furchtbar kalt und sie trug keine Jacke. Ich wollte auf sie zulaufen, aber Vater packte mich am Arm und wirbelte mich herum.
'Was ist in dich gefahren? Warum hast du so geschrieen?', fragte er mich. Ich antwortete nicht. Schaute über meine Schulter. Sah Katie in der Kälte stehen. Wieder zerrte er an mir. Sein Blick machte mir klar, dass ich besser tun sollte, was er wollte. Wir gingen zum Auto. Vater drückte mich auf den Beifahrersitz. Ich saß gerade. Sekunden später nahm er neben mir auf der Fahrerseite Platz.
Vater holte das Mobiltelefon aus der Jackentasche und versuchte, einen Abschleppdienst zu erreichen. In dem Wald hatte das Telefon keinen Empfang. Er sagte, ich solle es weiter versuchen, während er die Straße absichern und eine Tankstelle suchen würde, um zu telefonieren. Ich starrte auf das Display. Kein Netz. Ich versuchte erst gar nicht, die Wahlwiederholung zu drücken. Es klingelte. Beethovens Neunte erfüllte das Innere des Fords. Eigentlich untypisch für meinen Vater, denn die Sinfonie wurde nie vollendet. Doch selbst solch korrekte Menschen wie Vater machen Fehler, verstehen Sie?"
"Wer war das Mädchen, Rebecca? Sie kennen sie, nicht wahr?"
"Sie sollten einfach nur zuhören. Sie wollten doch die Wahrheit wissen, oder? Ich bin noch nicht fertig.
Ich nahm das Gespräch an und lauschte. 'Hilf mir', flüsterte mir eine Mädchenstimme ins Ohr. 'Bitte, Becky, hilf mir. Es ist so kalt.' Noch bevor ich Katies Namen ausgesprochen hatte, war die Verbindung beendet. Von der Rückbank nahm ich die Wolldecke und verließ den Wagen. Starrte in den Wald hinein und wartete auf ein Zeichen von meiner Schwester. Die Lichtkegel der Scheinwerfer wurden schwächer. Panische Angst stieg in mir auf, die Batterie könnte leer sein, bevor Vater zurück war. Doch dann wurde es heller. Es waren aber nicht die Lichter eines Autos. Katie stand wieder auf der Straße. Sie rief nach mir. Ich ging auf sie zu. Doch je näher ich ihr kam, desto weiter entfernte sie sich von mir. Ich blieb stehen. Aus Furcht, sie könnte erneut verschwinden.
Ein kleiner Kreis aus frischen Gras entstand vor meinen Füßen. Ich kniete nieder und berührte es. Es war wie ein Traum und wunderbar warm. In der Mitte wuchs eine Pflanze. Zarte Knospen bildeten sich vor meinen Augen. Sie öffneten sich. Wunderschöne Blüten verströmten ihren Duft. Weißer Oleander. Katie liebt weißen Oleander. Deshalb habe ich auch welchen in Mutters Garten gepflanzt. Ich versank in dem Duft und der Wärme, die von ihm ausging. Es war nicht mehr kalt.
Ich sah meinen Vater. Er riss den Oleander mit den Wurzeln aus dem Erdreich. Schnitt die Blüten und die Blätter ab, bis nur mehr die Wurzel übrig blieb. Diese kochte er und füllte einen Teil des Wassers in Katies Lieblingstasse. Vater goss Apfelsaft darauf und brachte die Tasse nach draußen zu ihr. Ich wollte sie ihr wegnehmen, aber ich konnte nicht. Ich saß noch immer im Schnee. Hilflos sah ich zu, wie sie den Saft trank. Musste zusehen, wie ihr der Schweiß über die Stirn rann. Sie griff sich an die Brust und krümmte sich vor Schmerzen. Irgendwann bewegte sie sich nicht mehr. Ihre Augen starrten ins Leere. Vater und Mutter standen bei ihr. Steif und gerade, als hätten sie einen Stock verschluckt. Erst Minuten später rief Mutter den Notarzt.
Dann stand Katie neben mir im Schnee. Mit ihrer eiskalten Hand wischte sie mir die Tränen aus dem Gesicht. Leise wimmerte ich ihr zu, dass ich ihr nicht helfen konnte. 'Ich weiß', flüsterte sie. Sie küsste mich auf die Stirn. Katie hatte noch nie jemanden geküsst und niemals hatte jemand Katie küssen dürfen. Man durfte sie auch nicht berühren, ohne dass sie vor Panik losgeschrieen hätte. Nur manchmal erlaubte sie mir, ihr über den Kopf zu streicheln. Nur mir. Meine kleine Schwester hat nie gesprochen. Bis heute. Dann ließ sie mich allein zurück in der Eiseskälte.
Ich sah meinen Vater. Er erklärte mir, der Abschleppwagen würde so schnell wie möglich kommen. Ich sah ihn erschrocken an und wollte vor ihm davon laufen. Doch er hielt mich am Arm fest.
'Du hast Katie umgebracht', brüllte ich ihm entgegen. 'Ich habe dich gesehen.'
Sein Griff wurde fester. Sein Blick unruhig. 'Was ist los, Rebecca? Nimm dich zusammen. Hast du wieder mit offenen Augen geträumt? Was willst du gesehen haben? Du warst doch in New York, als Katie an Herzversagen starb.'
'Du hast sie getötet. Der weiße Oleander. Mutter weiß davon, nicht wahr?'
Das erste Mal in meinem Leben sah ich meinen Vater fassungslos.
'Sie passte nicht zu uns. Sie war nicht wie du.'
'Du gibst es zu?'
'Habe ich dich jemals belogen?'
'Warum? Weil sie anders war? Weil sie nie studieren würde? Weil sie deinen Vorstellungen nicht entsprach? Ich habe sie geliebt. Und du? Hast du sie geliebt?'
'Sie wusste doch überhaupt nicht, was Liebe ist.'
'Weißt du es denn?'
'Ich liebe dich, Rebecca. Dich und deine Mutter.'
'Nein, das tust du nicht. Nur die Vorstellung davon, dass ich korrekt bin. Nicht wie Katie. Sie war einfach sie selbst und das konntest du nicht akzeptieren. Sie war nicht manipulierbar.'
Ich riss mich aus seinem Griff los und stieß ihn von mir. Er verlor das Gleichgewicht und prallte auf die Motorhaube. Rutschte aus und fiel mit dem Kopf auf einen Stein. Bewusstlos lag er vor mir. Ich setzte ihn auf und lehnte in gegen den Kühler. Flüsterte ihm ins Ohr: 'Sitz gerade.' Langsam ging ich fort von meinem Vater, der mir den liebsten Menschen genommen hatte, den ich hatte. Ich ging weiter, bis mich die Scheinwerfer des Abschleppwagens einfingen. Als wir an unserem Wagen ankamen, war Vater tot. Erfroren. Aber das war er schon vor seinem Tod. Erfroren. Tief in ihm drin. Der Fahrer des Abschleppwagens ging zum Funkgerät."
*
"Er hat mit Ihnen über Funk gesprochen, oder? Endlich blickt sie auf und sieht dem Polizeibeamten direkt in die Augen. Fragend. Er nickt nur und verlässt den Raum. Draußen trifft er seinen Kollegen. "Tom, es ist besser, wir verständigen den Psychologen. Sie scheint ziemlich verwirrt zu sein. Erst ihre Schwester. Dann ihr Vater. Das hat sie offensichtlich sehr mitgenommen. Gib dem Psychologen eine Kopie des Videobandes mit. Er soll sich das mal anschauen."
*
Tage später sitzt Rebecca neben dem Bett ihrer Mutter. Seit ihrer Einlieferung hatte Rebecca mit niemanden gesprochen. Mit Ausnahme ihrer Mutter. Ein Pfleger beobachtet sie, wie sie ihrer Mutter etwas ins Ohr flüstert.
*
"Tom, hast du die Fotos von diesem Professor und seiner Tochter noch?"
"Ich dachte, das wäre erledigt. Er ist auf den Stein gefallen. Sie hat ihm geholfen, aber er ist erfroren, bevor man den Arzt rief."
"Ja, das ist erledigt, aber das Mädchen und ihre wirre Geschichte gehen mir nicht aus dem Kopf. Kann ich die Bilder mal eben sehen?"
"Liegen noch auf meinem Schreibtisch."
Lange betrachtet er die Fotografien.
"Sag mal, Tom, was ist das neben dem Toten?"
"Das sieht aus wie..., aber das ist unmöglich. Nicht bei dieser Kälte."
"Was?" Ungeduldig raunzt der Beamte seinen Kollegen an. Ungläubig starrt Tom noch einmal auf das Bild. "Da wachsen Blumen. Die hat meine Frau auch im Garten. Weißer Oleander."
"Verdammt, Tom. Das hättest du mir wirklich früher sagen können!"
Eilig stürmt er aus dem Revier zu seinem Einsatzwagen und rast ins Kensington Hospital. Als er eintrifft hält Rebecca ihre Mutter im Arm. Mit traurigen Augen und dennoch einem Lächeln auf den Lippen blickt sie ihm entgegen. "Ich musste es tun. Für Katie. Es ist vorbei."
Wortlos drückt er den Alarmknopf und legt Rebecca die Handschellen an.
Während sie auf die Ärzte warten, schaut Rebecca aus dem Fenster. Eine herrliche, sternenklare Nacht liegt vor ihr. Fast unmerklich wird es heller und heller. Die Sterne scheinen auseinander zu gleiten und strahlendes Licht bricht aus dem Schwarz hervor. Rebecca entdeckt Katie. Ihre geliebte Katie, wie sie auf den Strahl zugeht und zu ihr herüber blickt. Sie lächelt. Der Wind spielt mit ihrem blonden Haar und wieder trägt sie das hellblaue Kleid. Sie winkt Rebecca zu. Dann ist es wieder dunkel. Leise flüstert Becky in die Nacht hinein: "Ich liebe dich, Katie. Jetzt ist alles korrekt."