Weißer Wolf
Ein Kristall in hellblauem Lichte leuchtet vor mir. Um es herum glitzern Tausende von kleinen Funken, die sich langsam auf und ab bewegen. Ich finde mich auf einer Wiese wieder, die vom Eis und Frost bedeckt ist. Ist es nur ein Traum? Aber warum friert es mich so? Warum kann ich mich nicht von der Stelle rühren?
Jetzt erinnere ich mich. Ich bin doch den weiten Weg hierher in die entlegene Gegend gekommen, um nach dir zu suchen, mein Freund. Damals als wir uns trennten, gaben wir uns zugleich das Versprechen, uns eines Tages wieder zusammenzufinden. Dann gingen wir unseren eigenen Weges, um nach unserem Glück und unserer Bestimmung zu suchen.
Ich hatte die große Welt bereist, viel Unbekanntes kennen gelernt und mich in den langen Jahren verändert. Aber unser Versprechen damals, das konnte ich nie aus meinem Herzen verbannen. Deshalb muss ich dich wiederfinden. Wo du jetzt auch sein magst, ich werde meine Suche nicht eher aufgeben, bis der letzte Lebenshauch aus meinem Körper gewichen ist.
Es ist alles schon so lange her, mein Liebster. Damals waren wir noch so jung, so mutig und neugierig auf alles, was um uns herum passiert. Mit dir verging sie so schnell, die Zeit des Lächelns. Nun würdest du mich vermutlich nicht mehr wiedererkennen. Die jugendliche Frische in meinem Gesicht ist verblasst, die großen, lebenslustigen Augen haben an Glanz verloren. Das dir bekannte Lächeln habe ich schon seit so langer Zeit nicht mehr zeigen können. Was die vielen schweren Jahren aus einem Menschen machen, siehst du hier und jetzt, wenn du es könntest.
Du hattest mir gesagt, dass du deinen Träumen nachjagen wolltest. Deine Träume waren bunt und leicht wie weiße Federn. Sie trugen dich davon in eine andere Welt, die hoch über unsere sichtbare Welt schwebte. Eine Welt, die für Menschen wie dich erschaffen wurde. Ich wollte dir folgen und konnte es nicht, denn die unbewusste Schwere in mir hielt mich an der Erde.
Deine Tränen erweckten einen Regenbogen, der sich lang und zart über das Horizont erstreckte. Ich wusste, dass dies die Tränen des Abschieds waren, die du für mich vergossest, obwohl mein Blick deine Gestalt nicht mehr wahrnehmen konnte.
Eine Zeit lang glaubte ich dich zu hassen, da du mich in einer solchen Einsamkeit zurückließ.
Du hattest mir den Sinn meines Lebens geraubt, meine Existenzberechtigung und meine sorglosen Tage. Ich verfiel, mein Herz sank und die Welt umhüllte mich mit Dunkelheit. Nun konnten wir uns nie wiedersehen? Wenn wir uns in die entgegengesetzte Richtung bewegten?
An einem verschneiten Tag kam ich in diese Gegend. Du warst in einem blauen Kristall eingeschlossen. Ich brach es mit einer Silberaxt auf, aber es floss weißes Blut auf den dunkelblauen Boden. Meine langen schwarzen Haare wollten mir die Sicht versperren. Aber ich gelang zu dir und sah, dass sich dein Körper violett färbte. Schnell nahm ich ein goldenes Messer und ließ das vergiftete Blut auslaufen. Auf der makellosen dünnen Schneeschicht sah man die purpurrote Blutspur. Endlich schlugst du deine Augen auf. Zu meinem Entsetzten waren sie leuchtend grün.
Ich ließ dich auf dem Boden liegen und rannte von Angst getrieben davon. Dann holtest du mich ein in der Gestalt eines riesigen weißen Wolfes auf. Durch einen gezielten Biss entließest du mich in den Tod. Bevor ich mein Bewusstsein verlor hörte ich dich flüstern: „Danke für das Wiedersehen.“
Ich sah dich lächeln und spürte nicht mehr den Schmerz, der meinen Körper in Stücke riss. Nun waren wir zusammen, genau wie wir es schon vor so vielen Jahren gewollt hatten. Wie glücklich fühlte ich mich für alles, was du meinetwegen tatst.
Der Winter verging und der Frühling erschien in all seiner Pracht. Am Himmel über der Wiese sah man tagelang das Bild eines jungen Mädchens und eines hübschen Mannes, der sich in einen weißen Wolf verwandelte. Die meisten Menschen hielten es bloß für ein Spiel der Wolken. Aber ich schrieb diese Geschichte auf, damit sie nicht in Vergessenheit geriet.