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Weißt du wieviel Sternlein stehen
Weißt Du wie viel Sternlein stehen?
Till war erst zwei Jahre alt, als er seine Mutter verlor. Eines Tages hatte sie sich von ihm verabschiedet: „Till, mein Schatz. Mami geht zum Friseur. Oma passt auf dich auf.“
Sie küsste ihn auf beide Wangen und Till musste lachen, weil ihre Haare ihn dabei in der Nase kitzelten. „Tschüss Mama!“ hatte er ihr noch auf Omas Arm an der Haustür zugerufen und so lange gewunken bis das Auto weg war. Eine halbe Stunde später klingelte das Telefon. Oma meldete sich. Till wollte auch telefonieren, er griff ständig nach dem Hörer, aber Oma ließ ihn nicht. Sofort fing er an zu brüllen und Oma gab ihm das erste Mal im Leben einen Klaps auf dem Po. Es tat ihm nicht weh, aber er war total überrascht und verschwand mit vorgeschobener Unterlippe in seinem Zimmer. Normalerweise kam nach wenigen Minuten immer Mama oder Oma hinterher, wenn er sich beleidigt hinter seinem Bett versteckte. Heute war es anders. Oma telefonierte weiter. Till beobachtete sie heimlich hinter der Tür. Omas Gesicht wirkte ernst, als sie etwas aufschrieb und nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, rief sie gleich wieder jemanden an. Till hörte, dass sie mit seinem Papa sprach, denn sie nannte seinen Papa Gerhard. „Gerhard, etwas Furchtbares ist passiert“, hörte er sie in den Hörer sprechen. Dann verstand er nur die Worte Auto, Sabine, und Krankenhaus. Den Rest, den Oma vom Blatt Papier ablas, verstand er nicht. Er bemerkte jedoch, dass Oma weinte. Er wusste, dass Sabine seine Mama war, denn Oma und Papa nannten sie so. Aber warum weinte Oma denn? Till begann, sich ihr vorsichtig zu nähern. Oma hatte dicke Tränen im Gesicht, das sah er deutlich. Jetzt bemerkte Oma ihn endlich. Verstohlen wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und lächelte ihn an: „Na, mein Junge, wollen wir zusammen etwas spielen?“
Sie strich ihm übers Haar und nahm ihn auf den Arm. Till spürte genau, wie traurig Oma war, auch wenn er nicht genau wusste warum. Also pustete er ihr ins Gesicht, wie Mama es immer tat, wenn er sich weh getan hatte. „Heile, Heile Oma“, sagt er ernst. Oma spielte mit ihm, bis er müde war. Dann legte sie ihn in sein Bett. Als er wieder erwachte, rief er nach Mama, wie er es immer tat. Doch Mama kam nicht. Stattdessen kam sein Papa und hob ihn aus seinem Bettchen. Schlaftrunken schmiegte sich Till in dessen Arme. Dieser drückte ihn fest an sich. Nach einer Weile spürte Till, dass auch sein Papa sehr traurig war. Till war jetzt beunruhigt und er fing an zu weinen. „Mama! Mama! Mama!“ verlangte er lauthals. Er wand sich aus Papas Armen und durchsuchte die Wohnung wie er es immer tat, wenn sie Versteck spielten „Mama!“ rief er „Mama! Huhu! Hier bin ich!“ Er sah unter die Bettdecke im Schlafzimmer der Eltern, er sah in sein Spielzelt. Aber Mama war nirgendwo zu sehen. „Till,“ sagte sein Vater leise, „Mama ist nicht da, Mama ist fortgegangen, Mama ist jetzt ein Engel im Himmel.“ Till verstand seinen Papa nicht wirklich, aber als er sah dass sein Papa auch weinte, spürte er, wie ein kleiner kalter Ring sein Herz umschloss.
Als Till fünf Jahre alt wurde, konnte er sich kaum noch an seine Mutter erinnern. Ihr Gesicht kannte er nur von Bildern, die in Fotoalben geklebt waren. Ein großes Bild von ihr hing im Wohnzimmer an der Wand. Mittlerweile wusste Till, dass seine Mutter tot war. Als letztes Jahr sein Kaninchen gestorben war, hatten Papa und er ein Loch in die Erde gebuddelt und das Kaninchen darin vergraben. Zuerst weinte er, weil er Angst hatte, dass das Kaninchen sich in der dunklen Erde fürchten wird. Doch Papa erklärte ihm, dass nur der tote Körper in der Erde ruhe. Die Kaninchenseele sei auferstanden und im Himmel.
„Dann ist das Kaninchen jetzt ein Engel, so wie Mama?“ fragte er.
„Ja so ähnlich“, antwortete Papa. Wenn Till an seine Mama dachte, konnte er sich noch ein bisschen an das warme Gefühl erinnern, das er spürte, wenn er auf ihrem Schoß gesessen und mit ihr geschmust hatte.
„Und warum kann man die Engel im Himmel nicht sehen?“ forschte Till weiter. „Du kannst sie doch sehen Till, in der Nacht, wenn keine Wolken sind, funkeln sie am Himmel strahlend schön.“
„Hm“, Till überlegte. Oma sang ihm zum Einschlafen oft ein altbekanntes Lied vor:
„Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt, weißt du wie viel Wolken gehen, weit hin über alle Welt. Gott, der Herr, hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet, an der ganzen großen Zahl, an der ganzen großen Zahl.“
Ein bisschen von diesem warmen Gefühl hatte er auch immer, wenn er dem Lied lauschte.
Eines Tages kam Papa nach Hause und brachte eine fremde Frau mit. „Hallo Till“, sagte sie freundlich zu ihm. „Ich heiße Marianne.“
Marianne verbrachte jetzt öfter Zeit mit Till und seinem Vater. Sein Vater lachte viel mit ihr zusammen, während Till meist sehr still war. Aus unerklärlichen Gründen fühlte Till, dass irgend etwas in seiner Brust schwer wie ein Stein war.
Er wusste nicht genau was es war, aber es stimmte ihn sehr traurig.
Wenn Till abends im Bett war, kämpfte er noch oft mit den Tränen, „er war doch ein schon ein großer Junge“, dachte er trotzig. Große Jungs weinen nicht, wusste er, aber er spürte doch diesen kalten Ring in seiner Brust.
Till konnte nicht einschlafen. Er lag in seinem Bett und versuchte mit seinen Augen, die
Dunkelheit zu durchdringen. Die Nacht veränderte seine vertraute Umgebung. An einer Wand hing sein Käpt`n Blaubär, der aus blau- rotem Filz geschneidert war. Dessen dunkler Umriss hob sich klar von der hellen Wand ab. Doch Till erschrak im ersten Moment, weil die Gestalt sich doch irgendwie bewegte und seine Fantasie erschuf ein Wesen, vor dem er sich fürchtete. Schnell versteckte er sich unter seiner Bettdecke, bis diese ihm zu schwer und zu warm wurde. Vorsichtig lugte er hinaus, um erleichtert festzustellen, dass Käpt`n Blaubär wieder wie gewohnt still und starr an der Wand hing. Er schob die heiße Decke runter zu seinen Füßen, trampelte und knautschte sie an das Fußende seines Bettes. Der kalte Ring in der Brust war immer noch da. Till schloss die Augen und faltete seine Hände zu einem Gebet über seinen Bauch zusammen. „Lieber Gott,“ murmelte Till noch leise, bevor er in einen sanften Schlaf hinüberglitt.
Till wollte sein Gebet sprechen, als er ein helles Licht bemerkte. Dieses Licht kam von draußen durch das Fenster in sein Zimmer immer näher auf ihn zu. Till spürte keine Angst, nein, er ahnte, dass dieses Licht freundlich war.
Das Licht verharrte neben ihm und Till konnte genau sehen, wie das Licht die Gestalt einer Frau annahm. Das erleuchtete Gesicht war ihm irgendwie vertraut, und sein Herz machte solche Freudensprünge wie ein junges Schaf, das über die Wiese springt. Dann berührte die Hand der Lichtgestalt behutsam seine Brust. Till sah wie ein Licht in seine Brust eindrang und sofort wurde ihm warm ums Herz. Er blickte in das Gesicht der Frau. „Du bist ein Engel?“ fragte er mit großen Augen. Die Gestalt nickte. Tränen flossen über das Gesicht des Jungen, Tränen, die er bis dahin nie weinen konnte, Tränen der Erleichterung, die den Ring seiner Brust sprengten. Dann lachte Till die erleuchtete Frau an und spürte ihre Liebe zu ihm.
Als Till erwachte, saß Marianne auf seiner Bettkante und streichelte sein Gesicht. Eine Hand von ihr ruhte warm auf seiner Brust. Etwas verlegen sagte sie zu ihm: „Du hast im Schlaf so geweint, ich wollte dich trösten. Ich mag dich sehr.“
„Ich mag dich auch, Marianne“, flüsterte Till zurücklächelnd. „Marianne bleibst du jetzt bei mir?“
„Wenn du das willst, ja gerne“, antwortete Marianne und drückte seine kleine Hand ganz fest.
Till war schon im Halbschlaf, als er kaum hörbar flüsterte:
„Marianne, mich hat ein Engel berührt. Ich glaube, das war Mama. Sie hat gesagt, dass du mich lieb hast.“
„Sogar sehr lieb, mein kleiner Schatz“, antwortete Marianne dem schlafenden Kind.
Ein strahlendes Licht hinter ihr entfernte sich und wurde immer kleiner, bis es ein Stern am
Nachthimmel war.
Anmerkung
Weißt du wie viel Sternlein stehen (Wilhelm Hey 1837)