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Weihnachten in Las Vegas
„Dieser Mistelzweig macht mich noch ganz wahnsinnig. Warum müsst ihr Amis bloß immer Mistelzweige aufhängen?“
„Aber Darling, was wäre ein Weihnachten ohne Mistelzweig?“
„Vermutlich deutlich europäischer.“ Ich seufzte. „Du hast dich verändert.“
Meine Cousine lächelte mir zu. Ich seufzte. Weihnachten! Warum war meine Mutter nur auf die Schnapsidee gekommen, es hier in Amerika zu verbringen? Und warum hatte ich mich von meiner Liebsten breitschlagen lassen, es ihr gleichzutun? Dinah lächelte ein Zahnpastalächeln und verschwand in der Küche, um nach dem Truthahn zu sehen.
„Außerdem gibt es hier Erdbeben“, raunte ich meiner Freundin zu. „Das hab ich gelesen.“
Sie lächelte und küsste mich auf die Stirn. „Mach dir keine Sorgen. Wenn ein Erdbeben kommt, fahren wir nach Las Vegas.“
„Was würde ich ohne dich tun“, murmelte ich und zog sie an mich. „Und was machen wir nur hier?“
„Keine Angst, nächstes Jahr feiern wir wieder mit meinen Eltern. Und übernächstes Jahr. Und überübernächstes.“ Ihre Finger wanderten meinen Rücken hinab, fanden meine Seite und pieksten. „Wir sollten dringend eine eigene Familie gründen, damit wir eine Ausrede haben.“
„Gleich jetzt?“ Ich sah sie flehend an.
Sie lachte. „Ich helf' den anderen mit dem Truthahn. Versuch, dich zu amüsieren, nimm es nicht so schwer. Wie schlimm kann es schon werden?“
Meine kleine Schwester wuselte in der Küche herum und stand allen im Weg. Ich wollte eigentlich nur einen Schluck trinken. "Beim Essen, Schatz", vertröstete meine Mutter mich. "Die paar Minuten wirst du ja wohl noch Zeit haben."
"Das hast du vor einer halben Stunde auch schon gesagt", murrte ich und verzog mich in den "Restroom", wo ich mich ausgiebig aus der Wasserleitung bediente. Dann ließ ich mich auf dem WC nieder und bemitleidete mich einige Minuten lang.
Als ich neue Kraft geschöpft hatte, machte ich mich an den Abstieg. Meine Schwester plapperte in ihrem grässlichen Englisch auf Dinah ein, die auch noch so aussah, als würde sie das Ganze genießen.
"Sag mal, warum sprichst du eigentlich kein Deutsch mit ihr?", fragte ich und versuchte, nicht in den Teppich zu beißen.
"Because in America we be", grinste sie und präsentierte eine riesige Zahnlücke. Es tat mir wirklich Leid, dass sie keine Pfennigabsätze trug, über die sie hätte stolpern und sich den Hals brechen können.
Ich flüchtete in die Küche, in die Arme meiner Liebsten. "Kann ich den Truthahn aufschneiden?", fragte ich. Es hätte mir gut getan, meine Frustration an ihm abzureagieren.
"Nein, das hat deine Schwester schon getan", meinte Bea und rollte mit den Augen.
Ich warf einen Blick auf den ehemals stattlichen Truthahn. Er sah aus, als wäre er durch einen Fleischwolf gedreht worden. "Ja, ich seh es."
"Robert, sei nicht immer so gemein zu ihr. Du mobbst sie andauernd!", schalt meine Mutter, praktisch über die Schulter hinweg im Vorbeigehen.
"Ja, weil sie widerlich ist und weil sie es verdient hat und weil es mir unglaublich peinlich ist, dass sie angeblich mit mir verwandt sein soll", zischte ich, und Bea drückte mich fest an sich.
"Ich weiß, sie hat es verdient. Aber wenn du nur lange genug wartest, wird sie irgendwann von selbst auf die Schnauze fallen."
"Das sage ich mir, seit sie sprechen kann..."
"Come, christmas supper", hallte die Stimme meiner Mutter durch den Flur und beendete die leidige Diskussion.
"Komm schon, nimm dich zusammen, Schatz. Wie schlimm kann es schon werden?"
Sie hatte untertrieben. Es war schlimm. Alle saßen um den großen Tisch herum. Mein Vater, meine Mutter, Dinah, ihre Eltern, Dinahs frischgebackener Ehemann Dave, dessen Eltern, meine kleine Schwester, die geradezu ekelerregend adrett und niedlich aussah. Sogar die Katze saß auf einem Stuhl und musterte den Braten nachdenklich. Amerika, du Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Dave plauderte mit meiner kleinen Schwester, die sich die größte Mühe gab, ihn mit ihrem schauderhaften Englisch zu beeindrucken. Jedes Mal, wenn ich hörte, wie sie wieder einmal die einfachsten Regeln der englischen Grammatik aufs Grausamste malträtierte, zuckte ich zusammen. Hätte Beas Hand auf meinem Oberschenkel mich nicht daran gehindert, wäre ich vermutlich explodiert.
„Es ist widerlich“, beschwerte ich mich flüsternd, während Dinah freudestrahlend große, zerhackstückelte Truthahnbrocken auf den Teller meiner Schwester schaufelte. Bea gab mir einen Kuss auf die Wange. „Liebste, wie hältst du es nur mit mir aus?“ Ich musste seufzen. „Die ganze Zeit jammer ich dir die Ohren voll.“
„Wann feiert ihr hier eigentlich Weihnachten“, fragte meine Schwester in unüberhörbarer Lautstärke. Es klang wie „When does you, äh, when you does, äh, when do Christmas, äh?“ Ich konnte nicht glauben, dass sie das gesagt hatte, schloss resignierend die Augen und warf ihr dann einen bösen Blick zu. Sie sonnte sich im Bewusstsein ihrer eigenen Niedlichkeit und streckte mir die Zunge heraus. „I have readen that, äh, presents, you, äh, morning, äh... tomorrow.“
Bea knabberte an meinem Ohrläppchen. „Ich verstehe, warum du sie nicht magst“, flüsterte sie. „Es war eine schlechte Idee, hierher zu kommen.“
„Du machst Witze. Ich hätte sie mit dem Kissen ersticken sollen, als sie noch klein war.“ Ich wusste selbst nicht so genau, ob ich es ernst meinte, aber in diesem Moment bedauerte ich mein Versäumnis.
„Wer keine Ahnung hat, sollte die Klappe halten“, pflichtete sie mir bei.
„Bob, do you want meat?“
„Ich heiße Robert, Dinah.“
„Do you want meat, Robert?“ Ihr Lächeln wirkte noch amerikanischer als jede McDonalds-Werbung. Ich schaffte ein Grinsen, obwohl mein Mund sich anfühlte, als hätte ich in eine saure Zitrone gebissen. „Ja, danke.“ Sie legte mir eine Scheibe auf den Teller. Ich tauschte mit Bea und hielt ihr den leeren Teller hin. Eine wilde Freude durchfuhr mich, als ich den widerlichen Teller mit Stars and Stripes gegen einen etwas weniger widerlichen mit der Flagge von San Francisco, einen Adler mit irgendetwas Rotem und goldenen Bändseln, tauschte und die perfekte Symmetrie der Tischordnung – Sterne und Adler, Sterne und Adler – durcheinanderbrachte. Bea schenkte mir ein verschmitzes Lächeln und drückte ihr Knie an meins.
„Naja, vielleicht haben wir Glück und es gibt doch noch ein Erdbeben.“
Gott oder Satan oder wer auch immer hatte meine Gebete erhört. Ich kam gerade vom Klo und hatte eine unheimliche Begegnung der dritten Art unter diesem widerlichen Mistelzweig. Bea und ich nutzten die Gelegenheit für einen langen Kuss, vielleicht war das ihre Art, mich dafür zu belohnen, dass ich noch niemandem an diesem Tisch gesagt hatte, was er mich mal konnte.
Ich dachte zuerst, es läge an mir, als plötzlich alles bebte – mein Kreislauf vielleicht. Wir würden uns entschuldigen und ins Hotel zurückfahren und uns an die Produktion einer Familie machen können. Aber es kam noch viel besser. Als Bea den Kuss jäh unterbrach und erschrocken aufkeuchte, begriff ich, dass die Erde tatsächlich bebte. Ich schnappte ihre Hand, wollte aus dem Haus ins Freie laufen, aber sie hielt mich fest.
„Bleib hier“, rief sie über das Dröhnen hinweg. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als rechts und links von uns die Decke einbrach.
„Zu Hause in Deutschland wäre das nicht passiert“, kommentierte Bea das Ereignis schließlich. Die Wände standen noch, aber das Haus hatte jetzt nur noch ein Stockwerk, das dafür ziemlich hohe Räume hatten. Rechts und links von uns lag alles in Trümmern.
„Woher wusstest du das mit der Tür?“
„Das hab ich in einem Buch gelesen. Der Doppelstern, oder so, von Tanja Kinkel.“
„Klingt nicht nach einem Buch über Erdbeben.“
„Wars auch nicht. Solltest du mal lesen, ist echt gut.“
Ich stieg auf die Reste des ehemaligen Flurs und nahm die Jacke meines Vaters vom Garderobenhaken, der wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war.. In seiner Tasche fand ich den Autoschlüssel und klimperte verheißungsvoll damit. „Das ist ein Zeichen, Bea, Gott wollte nicht, dass wir hier leiden - der Schlüssel zur Freiheit, Süße! Wir können nach Hause, wenn wir wollen!“
„Davon träumst du.“
Ich sah sie entsetzt an. „Du willst die doch nicht etwa da rausholen? Das Universum wird sich irgendetwas dabei gedacht haben, dass sie von der Decke zerquetscht wurden und wir nicht!“
Sie kicherte boshaft. „Wir fahren nach Las Vegas. Ich wollte da schon immer mal hin. Und jetzt haben wir was zu feiern.“
Das klang schon besser. „Und wenn wir da sind, können wir auch gleich heiraten.“
Sie küsste mich.