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Welche Tür?
Seine Stimme klingt warm. „Es erfordert nur einen Schritt nach vorn.“
Aha. Nur einen Schritt nach vorn also. Ein lächerlicher Schritt. Den Schritt über die Schwelle. Den Schritt in einen neuen Anfang, oder wie immer man das auch nennen mag.
Sein Blick wird eindringlicher. „Ich kann Sie nur ermuntern, es zu tun. Es wird Ihnen helfen, da bin ich sicher.“
Zweifelnd schaue ich ihn an. „Woher wollen Sie das so genau wissen?“
Er zieht die Brauen hoch. „Das ist mein Job.“
Ich lehne mich zurück. „Okay, das ist richtig. Trotzdem; Verzeihen ist für mich in diesem Fall undenkbar.“
Er lächelt. „Es wird Sie entlasten.“
Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Wissen Sie eigentlich, was Sie da von mir verlangen - was das für mich bedeutet?! Sie sagen das so leicht daher, aber es gibt nun mal Dinge, die kann man nicht verzeihen, niemals!“
Langsam legt er die Fingerspitzen vor seinem Gesicht zu einem Dreieck zusammen. „Sehen Sie, mir ist klar, dass Sie in einem Dilemma stecken. Das belastet Sie über alle Maßen und beeinträchtigt Ihr Leben in einer Weise, die Sie sich gar nicht vorstellen können.“ Er beugt sich vor. „Ihr Wunsch ist es, da heraus zu kommen und ich will Ihnen doch nur helfen, es zu schaffen.“
Meine übereinander geschlagenen Beine wippen. „Das habe ich ja verstanden“, entgegne ich. „Dennoch; mir ist nicht deutlich geworden, was mir dieses Verzeihen bringen soll.“
Er macht eine kleine Pause und sieht mich an. „Sie bekämen dadurch die Chance, sich auch selbst zu verzeihen“, sagt er schließlich.
Ich starre ihn an. „Wie bitte?!“ Dann richte ich mich auf und umfasse ich die Armlehnen meines Sessels. „Ich hab mich wohl verhört? Das ist doch jetzt nicht Ihr Ernst, oder?!“
Er lächelt wieder sein warmes Lächeln. „Doch, das ist mein Ernst. Mein voller Ernst.“
Ich schnaube hörbar durch Nase. „Ich soll verzeihen? Ich?! Ich, das Opfer, soll ihm verzeihen? Und dann auch noch mir selbst?! Das ist …“ Einen Augenblick fehlen mir die Worte. „Das ist einfach ungeheuerlich!“, bringe ich schließlich heraus.
Seine Stimme wird weich. „Richtig. In Ihren Ohren mag das ungeheuerlich klingen, doch wenn es Ihnen gelingt, durch diese Tür zu gehen, findet Ihre Seele Frieden. Glauben Sie mir.“
Was faselt er da? Ich betrachte mir den so genannten Fachmann genauer.
Entspannt zurückgelehnt in seinem Sessel wirkte er vor knapp einer Stunde ganz sympathisch und harmlos auf mich, doch sein gleich bleibendes Lächeln und die eingefrorene Mimik seiner Augen straft nun diesen Eindruck Lügen.
Auf den rechten Ellenbogen gestützt, klickt er mehrmals mit seinem Daumen auf den Kugelschreiber und sieht mich dabei fragend an, doch ich ignoriere es. Mein Blick wandert weiter und bleibt an seinen mageren, blassen Fesseln hängen, die aus beigefarbenen Hosenbeinen hervor lugen. Blaue, feine Äderchen durchkreuzen ziellos den unteren Teil seiner Waden; Verästelungen, die aus dem Ruder gelaufen sind, wie seine Worte.
Nein, nicht mit mir. Ich stehe auf.
Ich mache einen Schritt nach vorn und fixiere das smarte Grinsen meines Gegenübers. „Eines weiß ich genau, Herr Dr. Merten: Bevor ich durch – wie haben Sie es genannt? - diese Tür gehe, gehe ich erst einmal durch Ihre!“ Mit Schwung drehe ich mich um und verlasse den Raum.
Noch während ich die Klinke in der Hand halte, ruft er mir nach, „wie Sie wollen! Sie müssen damit leben, nicht ich!“
Draußen betrachte ich für einen kurzen Moment die Tür, deren Schwelle ich mit solcher Zuversicht betreten hatte.
Offenbar habe ich mich in der Adresse geirrt.