- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Wellen-Rausch
„Du scheiß Hosenpisser! Was bildest du dir eigentlich ein?“ Ein Tritt und ein Schlag.
Hart küsst mein Hinterkopf den bröckelnden Wandputz. Sekundenlang entfliehe ich dieser Szenerie des Leidens. Mein Gesicht erstarrt zu einer Todesmaske. Hölzern und kantig in seinen Qualen. Dann reißen seine Pranken an meinem Hemd und mich aus der Taubheit des Schmerzes. Sein unrasierter Hass schlägt mir ins Gesicht. Ein rechter Haken zermürbt meinen Nasenbeinknochen. Blutflüsse quellen auf, überströmen Lippen und Wangen.
Ich kann ihn nicht abwehren, nicht abhalten von seinen Schlägen. Versuche nur, ihn wegzudrücken. Gehemmt wie ich bin. Schmerztrunken. Planend. Alte Ängste muss ich unterdrücken. Sie verfälschen nur das Ergebnis, verschlechtern den Ertrag.
Seine Faust bahnt sich ihren Weg in mein Bewusstsein. Der Atem lässt mich im Stich. Ebenso die Kraft in den Beinen. Mir fällt Straßenbelag entgegen. Dreck knirscht zwischen den Zähnen. Seine stiefelbeladenen Füße erschüttern mein Innerstes. Sein letzter Tritt bricht mir eine Rippe und fast den Stolz.
Ich liege und zittere in der wohltuenden Kälte der Gosse. Ihre Zärtlichkeit umgarnt mich, liebkost mich, und wie in Liebe vermengen sich mein Schweiß und Blut mit ihrer Feuchtigkeit. Dort finde ich zurück zu meinem Leben. Dort in ihrem schützenden Schatten, der mich wie eine kleine Nacht bedeckt. Brauchst keine Angst haben, flüstert sie mir zu, gleich ist es vorbei.
Er steht über mir. Nach Nikotin stinkt sein Spucke. Sie klatscht mir ins blutende Ohr, brennt sich in meine Seele. Aber bald...
„Hau endlich ab und komm nie wieder! Du hast wohl geglaubt, dass ich mir solche Beleidigungen so einfach gefallen lasse. Ich hatte dich gewarnt, du ängstlicher Pisser! Das hast du jetzt davon“, regt er sich über mir wie Donner in den Wolken.
„Und das mir, deinem Vater. Ich kann gar nicht glauben, dass ich so was großgezogen habe!“
„Hast du auch nicht! Du bist nicht mein Vater! Du bist nur ein kleiner Ver...“
Stiefvaters Stiefelspitze tritt meinen Satz aus wie eine seiner Lungenkrebskippen. Blut sprudelt mir aus dem Mund. Wie eben schon. Wie schon so oft in meinem Leben.
„Hör sich einer diesen kleinen Feigling an.“
Grunzend schüttet er seinen Spott über mich.
„Erstaunlich mutig heute. Hast Glück, dass ich dich am Leben lasse. Verdient hättest du’s nicht. Verschwinde jetzt und komm ja nicht zurück!“
Mit einem Knall schließt sich unser Haus und die Tür zu meiner Vergangenheit. Ein Lächeln zerrt an meinen Lippen. Endlich habe ich die Wahrheit aus mir sprechen lassen. Endlich habe ich meinen langjährigen Gedanken einen Klang gegeben. Endlich Mut gehabt. Stiefvaters Antwort war zerstörerisch. Aber das wusste ich von vornherein. Nur um meine Mutter habe ich jetzt noch Angst. Sie ist allein dort drin. Lange schon glaubt sie allein zu sein, doch nun habe ich es wahr gemacht. Ich muss handeln...
Meine Arme richten mich wieder auf. Meine Füße finden neuen Halt. Schwarzes Blut verkrustet mein Äußeres, doch wäscht es mich endlich frei von der kindlichen Furcht. Der Plan gerät ins Rollen und zieht mich immer weiter fort.
Ich humple zu dem kleinen Fensterbrett mir gegenüber. Ein Kästchen versteckt sich dort im Dunkeln, surrt leise und friedlich vor sich hin. Ich nehme es raus aus der Heimlichkeit und bringe es ans Tageslicht. In Händen halte ich mein Ticket in eine neue Welt.
Mein rotes Fahrrad trägt mich den Asphalt hinunter und der Zukunft entgegen. Das Kästchen verstecke ich wie einen Schatz, vergrabe ihn tief im Jackeninneren. Heut Nachmittag schon haben diese hässlichen Straßen und diesen widerwärtigen Slum drum herum mich endlich verlassen. Aber viele Dinge wollen vorher noch erledigt sein.
Slit harrt an der Straßenecke dieser Dinge, die da kommen mögen. Eines von ihnen bin ich, wie ich auf ihn zusteuere und quietschend vor ihm halte.
„Scheiße! Wie siehst du denn aus?“
„Hatte doch gesagt, dass ich’s selbst vom Erzeuger abhole. Was glaubst du denn, wie man nach so was sonst aussieht?“, ächze ich, als ich von meinem Fahrrad absteige. Die Gegend ist berüchtigt. Gierig greifen Slits Hände nach meinem Schatz, der nun seiner ist.
„Und? Is ’s gut geworden?“
„Schau mich an und frag noch mal!“
Slit sagt nichts weiter. Vorfreude schwappt aus seinen Augen über den schwarzen Kasten hinweg.
Ein unauffälliger Wink bittet mich, ihm zu folgen. Die Schwärze einer alten Garage, seinem Unterschlupf, verschluckt uns und schirmt uns ab vor der Neugier anderer.
„Selbstverständlich muss ich’s erst mal testen. Aber ich denke, es wird Okay sein.“
Ein alter gepolsterter Sessel fängt federnd meine geschundenen Knochen, und ich beobachte, wie Slit eine der verbotenen Wave-Kappen von irgendwo hervorzaubert.
Dem Kästchen wird ein kleiner Chip entfernt und in die Kappe gesteckt. Mit vorsichtiger Hand drückt Slit sie an seine Stirn und tippt nur flüchtig auf den An-Taster.
Wütende Begeisterung gräbt sich tief in sein Gesicht. Schnell löst er sich wieder von der Kappe.
„Oh man! Fast purer Stoff!“
Er schweigt kurz, atmet tief ein, sucht vielleicht einen Weg von seinem Kurztrip hierher zurück in die Garage.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße! Ist das hart!“ Die flache Hand klatscht an seine Wange.
„Und... ?“, frage ich drängend.
„Gibt den vollen Adrenalin-Kick! Das ist bestes Kategorie-C-Zeug! Hormo-mäßig! Kaum eine Angst-Verunreinigung dabei. Musst dich ganz schön Mühe gekostet haben.“
„Krieg ich dafür die ausgemachten 400? Ich brauch sie, um von hier wegzu... “
„Kein Angst! Krichste, krichste!“, beeilt er sich zu versichern, „Super Stoff. Nicht son künstlich erzeugter Dreck. Astrein natürliches Wave! Das verkauf ich zu Spitzenpreisen an die perversen Typen aus der Upper-East. Da kriegen die locker drei oder viermal einen Überkick draus, bis sie das nächste Zeug brauchen.“
Grübelfalten zerfurchen seine Stirn.
„Ich sag dir was: Für deine Anstrengungen und so geb’ ich dir sogar noch n Huni extra.“
Hundertfacher Dank schäumt mir aus dem Mund.
„Schon gut. Betrachte es als Alter-Schulfreund-Bonus.“
Die fünf Hunderter knittern sich anschmiegsam in meine Hand. Ein altes Waschbecken und kaltes Wasser bereiten mir zusätzliche Wonne, als ich in ihnen meine Wunden kühle.
„Um einen letzten kleinen Gefallen muss ich dich bitten.“
Slit schaut mich fragend an, doch versteht er mein Verlangen.
Mit einer Tüte in der Hand fahre ich zurück zu meiner Mutter.
Vor der Haustür stehe ich, das Verderben in Person. Von drinnen höre ich altbekanntes Geschrei und Gezänk. Wie früher, wie immer. Nie konnte ich meiner Mutter helfen. Nie konnte ich etwas dagegen tun. Hatte nie den Mut mich zu erheben, nie die Kraft ihm zu widerstehen.
Doch jetzt! Jetzt besitze ich sie. Jetzt besitze ich seine!
Aus der Tüte ziehe ich eine alte Wave-Kappe, Slits Abschiedsgeschenk an mich. Unsicher schiebe ich den kleinen Chip mit meiner kopierten Welle hinein. Die Kappe schmiegt sich eng an das Haar. Ihre W-Heads surren in Erregung und mein Zeigefinger langt zögernd nach dem An-Taster.
Ein Blitz. Tausendfacher Schmerz. Qualen. Rotes Flackern. Ich spüre beinah, wie meine Hirnwellen überlagert werden, wie ich aus meinem eigenen Kopf hinausgedrängt werde.
Aber nein!
Ich bin es selbst, wie ich es noch nie zuvor war. Und ich bin er.
Bin sein Hass. Bin sein grauenvoller Trieb. Brenne in Zorn. Lodere in Wut. Gleiße in Erregung. Meine Muskeln kochen in seiner Kraft. Mein Herz schlägt den feurigen Tod der Welt. Ich bin ihr verfeindet, wie er es ist. Ich fühle seine unbändige Feindschaft allem gegenüber. Allem und jedem, und besonders sich selbst.
Diesen Hass will ich nun zurückbringen.
Ich werfe mich gegen die Tür. Mit hölzernen Schreien gibt sie nach. Drinnen sehe ich ihn, meine Mutter am ausgestreckten Arm. Sie winselt.
Und seine Feindseligkeit ist in mir, seine Lust auf körperliche Macht übermannt mich:
Ich springe ihn an. Sehe meine Faust auf seinem Gesicht. Schlag um Schlag. Sehe Mutter, wie sie sich kreischend zwischen uns stürzt. Sehe Füße. Tritte. Der Tisch kippt. Blut, das mir aus dem Munde geifert. Wieder Schläge. Ein Stuhl zerbricht. Blut an meinen Fäusten. Ein Schrank fällt um.
Holzsplitter in meiner Hand.
Splitter in seinem Hals.
Sein Blut in pumpenden Fontänen.
Schmerzen im ganzen Körper empfangen mich, als ich aus der Ohnmacht erwache. Sehr tief schaut die Sonne bereits durchs Fenster. Unablässig plappert der Fernseher vor sich hin und sendet sein Bild in den Teppichboden.
Stunden mögen vergangen sein. Das Blut an meinen Fingern und in meinem Gesicht ist bereits eine krustige Schicht in dunklem Rot. Neben mir liegt mein Stiefvater, seine offenen Augen sind der Decke zu gewandt. Das abgebrochene Stuhlbein in seinem Hals wirft einen langen Nachmittagsschatten über den blutverschmierten Teppich.
Im Takt des Herzens schlägt mein Hirn gegen die Innenseiten des Schädels. Stöhnen will nicht helfen.
Langsam richtet sich mein Körper auf. Mit schweifendem Blick schaue ich umher. Wo ist Mutter. Ist sie vor uns geflohen?
Verwüstung beherrscht das Zimmer und ich überlege, ob ich aufräumen sollte. Gerade will ich den Schrank aufstellen, da sehe ich die zwei Füße darunter. Mit zittrigen Händen stemme ich den schweren Kasten und finde meine Mutter mit zerschlagenen Kopf. Am Regal klebt das mich liebende Blut. Mein Blut.
Der Schrank wird schwerer und gleitet mir wieder aus den Händen. Denn der Anblick, den er entblößt, raubt mir alle Kraft und Genugtung.
Tränen brennen in meinen Augen und Panik erfasst mein Denken. Panik und Zorn. Auf ihn, mich, meine Mutter und die knisternden, blutbesudelten Scheine in meiner Tasche. Es zerrt an mir. Es zerreißt mir das Herz. Und zieht mich schließlich hinaus auf die Straße, hinaus in eine andere, fremde Welt.