- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Welpenschutz
Da saß ich nun, mit nichts in den Händen und nichts in den Taschen, außer den Zellstoffresten eines Taschentuches aus unbekannten Zeiten, aufgelöst durch mehr als nur einen Waschgang. Ich nahm meine Geldbörse und zog eine kurze Bilanz meiner Situation:
Mit 3 Euro und 54 Cent sah mein Bargeld sehr überschaubar aus, während mein Konto einen mittlerweile unüberschaubaren Minuswert auswies. Einen festen Wohnsitz konnte ich jetzt auch nicht mehr mein Eigen nennen, und meine Perspektive sah allgemein nicht wirklich rosig aus. Ich war mit Problemen konfrontiert, die der sofortigen Lösung bedurften, aber da fehlte mir jegliche Erfahrung. Ich war auf mich allein gestellt, es gab Niemanden mehr, der mir den Rücken frei hielt, mir die unangenehmen Dinge abnahm oder dem ich etwas vormachen konnte. Ich musste doch allen Ernstes genau damit beginnen, wovor ich mich lange Zeit erfolgreich drücken konnte; ich musste mich kümmern. Nämlich um mich selbst, sonst würde das böse enden.
Ich betrachtete noch einmal die Garage, in der all mein irdischer Besitz im Chaos von wild gestapelten Umzugkartons ein trauriges Bild abgab. Zwei Wochen Zeit hat sie mir gegeben, dann sollte ich meine Sachen abgeholt haben, ansonsten wird alles gnadenlos von ihr entsorgt. Das glaubte ich ohne weiteres, denn ich sah den Zorn in Ihren Augen. Die seit Jahren aufgestaute Wut ließ ihren Damm der Geduld schlussendlich einbrechen, und eine Flutwelle von Frust schwemmte mich hinweg, hinaus aus ihrem Leben. Na ja, es war zu erwarten, ich bin nicht dumm, nur einfach wahnsinnig begabt im Ignorieren und meisterhaft im Verdrängen. Ich hatte immer genug zu tun, es gab Welten zu erkunden, Königreiche zu erobern, Krieger zu bekämpfen und Zauberer zu besiegen, so ein hoher Spielstatus war eine ungeheure Arbeit, und ich genoss extrem hohes Ansehen in der Welt der Zauberer und Krieger. Sandra hat dies einfach nur nie verstanden.
Da stand ich nun vor meinem unordentlich gestapelten Leben, sah die Ecke meiner Tastatur aus einem der Kartons ragen, und verstand es selbst nicht mehr.
In theatralischer Gestik nahm ich meinen Schlüsselbund, entfernte Wohnungs- und Haustür-Schlüssel, die aufgrund der ausgewechselten Schlösser nun unnütz waren. Mit langsamen und bedachten Bewegungen hob ich den Deckel der Mülltonne, wagte einen verstohlenen Blick in Richtung Fenster, mit der Hoffnung, sie würde diesen symbolträchtigen Akt beobachten, wurde aber enttäuscht. Bar jeglicher Aufmerksamkeit der Welt warf ich die Schlüssel in die Tonne, betrachtete den Schlüsselbund, dessen Sinnlosigkeit durch das Fehlen von jeglicher Schlüsseln nun besiegelt war, und warf ihn hinterher. Dann kehrte ich zur Garage zurück, zog das Tor herunter, um meinem restlichen Besitz vor den Augen und Händen Neugieriger zu schützen, und machte mich auf den Weg ins Unbekannte.
Die Frage war, was tun? Eine Wohnung, das wäre ein guter Anfang, aber ohne Geld nicht von dauerhaftem Erfolg gekrönt. Also erst ein Job. Na okay, wenn’s denn sein sollte, dann konnte ich sicher irgendwo eine Anstellung als Programmierer finden, zurückkehren in die Tretmühle, eingesperrt in einem Besenschrank mit Schreibtisch und Rechner, der Trostlosigkeit meiner eigenen Tippgeräuschen ausgesetzt. Aber schließlich konnte ich ja auch sonst nichts anderes. Nur, wie sollte ich wieder einen Job als Programmierer bekommen, wenn mein heißgeliebter Rechner, mein Arbeitswerkzeug, stromlos in der Garage versauerte, und ich noch nicht mal eine Email-Bewerbung abschicken konnte, geschweige denn einen Lebenslauf ausdrucken oder Referenzen aufzeigen konnte. Hätte ich mir doch beizeiten mal einen Laptop besorgt, der wäre in meiner temporären Obdachlosigkeit sehr hilfreich gewesen.
Also erst mal Geld, dann Wohnung, dann Weitersehen. Wie sollte ich schnell an Geld kommen? Gute Frage, da fehlten mir so die Erfahrungswerte.
Andy, der konnte mir sicher helfen, überhaupt war Andy die einzige Person, die mir einfiel. Meine Eltern waren vierhundert Kilometer weit weg, und eher hätte ich in der Fußgänger-Zone nackt getanzt und gesungen, als wieder nach Hause zu gehen. Freunde hatte ich Hunderte, aber leider keine Ahnung, wie sie richtig hießen und wo sie wohnten. Das waren eben die Nachteile, wenn man hauptsächlich virtuell gelebt hat; es gab kaum Klingelschilder mit richtigen Namen in richtigen Straßen, eher Profile ohne Anschrift, die einem nichts nutzten, wenn man gerade Dauer-Off war. Andy zählte zu den wenigen Menschen, zu denen ich sporadisch noch realen Kontakt hielt, hauptsächlich weil er mein bisher einziger Auftraggeber war, ich entwarf und pflegte die Homepage seiner Umzugsfirma. Überhaupt litten meine sozialen Kontakte in den Jahren, nachdem ich meinen Job verlor, und neue kamen auch keine hinzu, was mitunter vielleicht auch ein Grund für Sandras Schloss-Austausch-Und-Karton-Pack-Aktion gewesen sein könnte, aber das war natürlich reine Spekulation von mir.
„Ne du, sorry. Aber momentan hab ich echt nichts für dich zu tun.“
Ein tiefer Schlag in meine Magengrube. Andy stellte mir eine dampfende Tasse Kaffee hin, deren Duft mich fast verrückt werden ließ. Ich ergriff sie und redete dabei einfach drauf los: „Ach komm, irgendwas wird sich doch bestimmt finden, deine Firma läuft doch gut, da brauchst du doch bestimmt an irgendeiner Stelle Hilfe? Hab gerade einen schlechten Lauf und muss mir dringend was dazu verdienen.“ Anhand seiner hochgezogenen Augenbraue bemerkte ich, dass mein großherziges Angebot, irgendwas zu machen, den richtigen Nerv bei Andy traf. Was hatte ich bloß getan, etwa meine Seele verkauft? Vorsichtig nippte ich an meinen Kaffe und wartete auf seine weitere Reaktion. „Naja, wenn du mich so fragst. Jemand, der anpacken kann, können wir immer gebrauchen, und wenn du dir dafür nicht zu schade bist, kannst du eigentlich gleich anfangen, mir fehlen Leute an allen Ecken und Enden“. Okay, es gab zwei Möglichkeiten: Meine feinen Programmierer-Hände sind wirklich zu schade für körper- und kraftbetonte Arbeiten, ich stehe auf, sage nett danke und verabschiede mich. Dann hätte ich immer noch keine Idee gehabt, wie es weitergehen sollte, mich aber wieder erfolgreich um körperliche Arbeit gedrückt. Zweite Möglichkeit ...
Eine halbe Stunde später saß ich im LKW, an den Händen nagelneue Handschuhe mit roten Gumminoppen auf der Innenseite, die ich vergeblich versuchte zu zählen, und war auf dem Weg zu mir völlig unbekannten Menschen, um deren Möbel in den LKW zu schleppen, nur um sie irgendwo anders wieder in ein Haus zu tragen. Der Fahrer des LKWs entpuppte sich als der schweigsame Typ, er fragte mich gerade mal nach meinem Namen, sagte dann seinen und damit war jegliche Konversation vorerst erledigt. Die beiden Jungs auf der hinteren Sitzreihe sagten gar nichts, ich wusste ihre Namen nicht, und fragte auch nicht danach. Die ganze Situation machte einen bizarren Eindruck auf mich, so fremdartig, ungewohnt. Als wir beim Kunden ankamen, sprangen die beiden Jungs raus, ließen die Hebebühne des LKWs runter, holten Decken und Rollbretter heraus, und machten sich auf den Weg in Richtung Haus. Das sah nach Routine und Erfahrung aus, durchorganisiert und geplant. Ich fühlte mich desorientiert und etwas fehl am Platz. Der schweigsame Fahrer klopfte mir kurz auf die Schulter, und sagte lächelnd: “Komm in die Hufe, Kollege!“.
Knappe sechs Stunden und viele Liter Schweiß später, aber 50 Euro reicher, saß ich wieder bei Andy im Büro, aber statt Kaffee verlangte mein Körper nach Wasser. „Sag mal, was is’n los bei dir? Wieso suchst du ausgerechnet bei mir ’nen Job?“ Mit leicht zittrigen Händen trank ich das kalte Wasser, selten schmeckte mir einfaches Wasser so gut, wie in diesem Moment. Dann brach es aus mir heraus, der ganze Frust meiner Lage brach sich Bahn, und ich erzählte einem fast Fremden meine Sorgen und Nöte; dass ich keinen Job hatte, kein Geld mehr, und seit neun Stunden auch noch obdachlos war.
„Ja, und wie hast du dir das gedacht? Wo willste denn heute Nacht pennen? Und sei mir nicht bös, aber duschen solltest du vielleicht auch, auf jeden Fall sogar, wenn du morgen noch mal im LKW mitfahren willst und nicht nebenher laufen möchtest.“
„Keine Ahnung“, gab ich direkt und unumwunden zu, und es entsprach den Tatsachen. Ich hatte mir wirklich noch nicht die geringsten Gedanken gemacht, wo ich die Nacht verbringen konnte. „Ich glaub, ich leg mich in die Garage zu meinen Sachen, ist das Einzige, was mir spontan einfällt.“
„Mhm“, grunzte Andy. „Duschen kannst du in der Umkleide, macht hier eigentlich keiner mehr, weil alle zu Hause duschen, aber funktionieren wird sie noch, wenn man sie mal frei räumt. Nur Pennen, das kannste hier nicht“.
Nachdem ich gefühlte tausend halbvolle Farbeimer und sorgfältig verstauten Unrat aus der Duschkabine geräumt hatte, war das Duschen eine Wohltat, die in meiner Erinnerung Vergleichbares vergeblich suchte. Ich stand eine geschlagene halbe Stunde unter dem heißen Strahl, spürte jeden Muskel, und jeder Muskel erinnerte sich lautstark an jedes einzelne Möbelstück, dass ich auf- und abgeladen hatte.
Die Nacht in der Garage erwies sich als alles andere als bequem, aber es mangelte einfach an besseren Alternativen. In irgendeinem Karton fand sich, nach aufwändiger Suche mit einem Feuerzeug, eine meiner Taschenlampen. Damit ging ich auf die Jagd nach irgendetwas, das ich als Bett nutzen konnte, fand ein paar Kissen (meine heißgeliebten Schalke-Kissen, die sinnlose Macho-Deko bekam einen neuen, unschätzbaren Wert) und meine Winterjacke aus Daunen. Daraus, und aus alten Computer-Magazinen, die ich als Isolierung und notdürftige Matratze auf dem Boden verteilte, bastelte ich mir ein halbwegs akzeptables Bett zwischen all meinen Kartons, und wähnte mich glücklich, dass nie ein Auto hier hereingefahren wurde, das die ohnehin stickige Luft durch Restbestände von Abgasen schier unerträglich gemacht hätte. Warum haben Garagen keine Fenster? Essentielle Fragen, auf die es keine Antwort gab. Genauso wie auf, wie geht es weiter? Erstaunlicherweise ging es mir gut, jedenfalls körperlich, ich spürte zwar jeden Knochen, aber ich spürte auch mich, endlich wieder mich selbst.
Wo war ich die letzten Jahre? Was habe ich getan? Was erreicht? Ich hatte gar keine Ziele mehr, mich verkrochen, mich versteckt, meinen kleinen Bunker gebaut, und meine Freundin zu Beton degradiert, zum Stein in der Mauer. Wie oft hatte sie versucht, mit mir zu reden. Wie oft sagte sie, so könne es nicht weiter gehen. Und ich nahm es nie ernst, es sei doch nur eine Phase, wird schon wieder besser. Ich mache mich selbstständig, Web-Designer sind gefragt, das wird schon wieder, wirst schon sehen. Naja, kannst du meinen Mietanteil für diesen Monat noch mal mit übernehmen? Hab gerade kein Geld. Ne, das mit der Selbstständigkeit läuft noch nicht so gut, gab bisher noch nicht genug Aufträge. Naja, insgesamt bekam ich eh nur einen Auftrag, aber was du nicht weißt, macht dich nicht ....
Angelogen habe ich sie, nur um meine Ruhe zu haben. Habe in einer halben Stunde, irgendwelche Seiten zusammengebastelt, und diese stolz als mein Tageswerk präsentiert, während ich die restlichen achteinhalb Stunden als Kronus gegen virtuelle Feinde meinen glorreichen Status verteidigte oder auf sonstige sinnlose Art und Weise Zeit verschwendete.
Herr im Himmel, was für ein Depp ich doch war. Natürlich musste sie mich rausschmeißen, es war eine Frage der Zeit, bis mein Welpenschutz ablief, und schließlich wurde ich gebissen und verbannt.
Wenn man zwischen zusammengewürfelten Kartons, des komprimierten Restes seiner eigenen Identität, auf einem selbstgemachten Bett aus Zeitungen und Winterjacke liegt, wird man wach, während man eigentlich gerade vor Erschöpfung einschläft.
Zwei Wochen, das werde ich schaffen.