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Welten-Parallele
Er kam zufällig vorbei, wenn es so etwas wie Zufälle gibt. Auf jeden Fall war es das erste Mal seit langer, langer Zeit, dass Manfred nach Schuldenfurt zurückkehrte, dem Dorf, in dem er aufgewachsen war und das er als junger Kerl verlassen hatte. Der nächste Zufall: ein Feiertag. Allerheiligen, der Vorabend zu Allerseelen, an denen die Katholiken ihrer Toten gedenken. Wie das Dorf hatte er damals auch die Kirche verlassen mit ihren engen Vorschriften und dem ständigen Druck auf sein Gewissen, der alle Lebensfreude aus ihm zu pressen schien und durch den er sich, noch bevor er erwachsen war, immer mehr verwelkt, verschrumpelt und vermodernd gefühlt hatte.
Er hasste auch den Friedhof, auf dem wohlmanikürte Frauen ihre Hündchen spazieren führten, während sich andere beim Pflanzen und Unkraut jäten lauthals von einem Grab zum anderen unterhielten, ohne das, was unter ihnen lag, zu bedenken. Nur Allerheiligen mit seinen stillen Lichtern und der feierlichen Ruhe zwischen den Gräbern hatte ihm gefallen, hatte ihn tief berührt mit einer Intensität, die für ihn unverständlich war. Schließlich war er Wissenschaftler und würde sich nach seinem Tod verbrennen lassen oder seinen Körper der Forschung zur Verfügung stellen.
Allerheiligen in seinem Heimatdorf. Seine Eltern lebten nicht mehr, und so lag es nahe, das Familiengrab aufzusuchen, wenn er es nach all den Jahren noch finden würde. Natürlich hatte er keine Grablichter gekauft, aber in seinem Kofferraum fand sich Brauchbares: eine Packung Teelichter, die er für den Garten gekauft hatte und die Plastiktüte mit dem Glasmüll. Gut, dass er die Gemüsegläser ausgespült hatte. Er ließ die Flaschen und Schraubverschlüsse im Kofferraum zurück und machte sich mit der Tüte im Arm auf die Suche. Alles hatte sich verändert, Bäumchen und Sträucher waren gewachsen, Gräber neu angelegt oder zu Brachflächen umgewandelt worden, und so suchte er den Weg anhand bekannter Namensschilder. Am großen Findling vom alten „Beimpold“ vorbei, dann bei „Rudolf Bürger“ links abbiegen, dann ... „Friederike Berg“ las er unvermittelt und blieb stehen. „Die gute Rike“, entfuhr es ihm, und ein alter, täglich verdrängter Schmerz bahnte sich den Weg durch seinen Körper. Traumfetzen vieler Nächte, Erinnerungen streiften sein Bewusstsein.
„Warum musst du gehen?“
„Ich muss raus hier, ich halte es nicht mehr aus.“
„Kommst du zurück?“
„Ich weiß es nicht. Ich fange doch ganz von vorn an. Die Uni, die neue Stadt, mein neues Leben ...“
„Und das Kind ändert nichts?“
„Kind? Es ist ein Zellhaufen. Und du willst es doch auch nicht.“
„Nein, nicht jetzt. Und nicht ohne dich!“
Er hatte ihr Geld geben wollen, doch sie hatte von einem natürlichen Mittel gesprochen. Petersilie. Seine Befürchtung damals, dass es nicht wirken würde, und nicht, dass eine Frau sich damit vergiften könnte.
Lang war es her, grau der Grabstein.
Er zog das erste Glas aus seiner Tüte, packte ein Teelicht aus und entzündete es.
„Für dich, Rike. Hab deinen Frieden.“
Gleich in der Nähe war das Familiengrab, und er stellte die übrigen Windlichter auf. Natürlich sah es merkwürdig aus, diese ungefärbten Gläser zwischen den roten und weißen Grablichtern der anderen. „Besser als gar nichts“, dachte er, und grüßte wortlos seine Ahnen.
Dann schlenderte er die Straße hinunter zum Fluss. Sie war heute bebaut, mit Zweitwohnungen und Ferienhäuschen. Ihm fehlte die Vorstellung, warum jemand seinen Urlaub hier verbringen wollte, in diesem Allerweltsdorf ohne geschichtliche Bauten oder Sehenswürdigkeiten. Das einzige Gut, dass es hier gab, war die Natur, eine Weite von Feldern und Wiesen, umrandet von vielen kleinen Waldgebieten. Und die "Schulde" natürlich, die wie eh und je träge durch ihr Bett kroch. Den Fluss hatte er wirklich vermisst, und sein Gurgeln und Plätschern in vielen Nächten erträumt. Er suchte seine Stelle am Ufer, den großen Stein im hüfthohen Gras, das ihn herbstlich gelb und vom Regen erdrückt umringte. Er hockte sich wie früher darauf, mit angezogenen Beinen „wie ein Mädchen“, und sah auf das Wasser vor sich, das stetig in eine Richtung floss.
Was wäre gewesen, wenn ich nicht gegangen wäre damals?, überlegte er. Wenn er die Tischlerlehre bei seinem Vater beendet und dessen Betrieb übernommen hätte? Hätte das etwas genutzt gegen die Konkurrenz der Möbelhäuser, die ganz in der Nähe und unerreichbar billig ihre Waren anboten? Hätte sein Bleiben das Geschäft und das Herz seines Vaters gerettet, womöglich sein Leben verlängert? Und seiner Mutter die Trauer erspart, ihre Verwirrtheit und Angst, sich in der veränderten Welt zurechtzufinden? Er schüttelte den Kopf, heftig, bis ihm der Nacken schmerzte, als wenn er mit der Kopfbewegung die Zweifel in seinem Inneren ausmisten könnte.
Sein Leben war doch in Ordnung, genau so, wie er es geplant hatte. Das Studium, die gutbezahlte Arbeit, gebildete Freunde und ein schönes Heim, ohne Kinder, aber als Krönung von allem Diana, seine Frau. Das waren seine Träume gewesen, und er hatte es geschafft, sie zum Leben zu bringen. Diana war der Grund gewesen, Rike nicht mitzunehmen, sondern ganz neu anzufangen. Sie hatte ihm all die Chancen geboten, die er zu nutzen verstand, mit ihrer gutsituierten Familie, den Beziehungen, dem offenen Weltbild und guten Geschmack. Wie ein Schlag des Schicksals war es ihm erschienen, als sie auf dem Campus ineinandergestolpert waren, und er hatte gewusst: diese Frau, diese Hochschule, diese Stadt musste es sein ... Was wäre gewesen, wenn ...?
Früher hatte er bis spät in den Herbst hinein im Fluss gebadet, und sein magerer Jungenkörper hatte mit der Kälte des Wassers gekämpft. Heute war der Tag der verrückten Ideen, überhaupt schien ihm die Welt ein wenig aus den Fugen mit den Zufällen und Gurkengläsern auf den Gräbern. Sollte er ...? Kein Mensch weit und breit, und so zog er eilig seine Kleidung aus und sprang in die kalten Fluten. Eis umfasste seine Brust, sein Atem stockte, und er schwamm schnell ein paar Stöße, um mit den Muskeln Wärme zu erzeugen. Das hatte er als Junge auch immer getan, und dann war, wie bei einer Feder, sein Atem wieder angesprungen, und seine Haut hatte sich wie glühend angefühlt, wenn er das Wasser verließ. Doch diesmal blieb der Atem aus, und seine Arme ließen sich kaum bewegen, als wenn sie allmählich in Lähmung übergehen würden. Einmal schnappte er gierig nach Luft, doch statt Sauerstoff drang Wasser in seinen Mund und seinen Rachen, und er begann zu husten und zu würgen.
„Papa, was ist...?“ Der Junge neben ihm zog seinen Kopf über das Wasser, so dass er einen Atemzug machen konnte. Dann fasste er ihn von hinten unter die Schultern und zog ihn rückwärts dem Ufer entgegen. Dort wurde er von einer Frau in die Arme genommen und mit einem groben Handtuch gründlich abgerieben.
„Ach, Manfred, immer in diesem kalten Wasser! Ich habe dir doch gesagt, dass es zu spät im Jahr ist. Obwohl ich, ehrlich gesagt, mehr Angst um unseren Sohn hatte.“ Dabei wandte sie sich jetzt lächelnd dem Jungen zu und rieb auch ihn ab. Mit Stolz in der Stimme sagte sie: „Toll hast du reagiert!“
„Rike“, murmelte er, „ich verstehe nicht ...“
Das Piepen und Brummen der Monitore erfüllte das Krankenzimmer.