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Weltschmerz
Er steht buchstäblich im Regen. Der Turnbeutel hängt ihm lose an der Schulter. Der feuchte Wind wiegt ihn behutsam. Den Geruch von Autoreifen und Herbstlaub schleift er hinter sich her. Er benetzt seine fahlen Lippen und Wangen, und seine gerötete Stirn. – Könnte sie ihn einfach vergessen haben? Der kleine Junge wartet schon eine Weile vor der Turnhalle. Eingeschnürt in seinen Anorak, wie ein Paket bestellt, und doch nicht abgeholt. Vor Kälte preßt er sanfte Wolken aus seinem Mund. Das Wasser läuft in den Falten seiner Jacke zu Seen heran. Die Schlappen seines Regenhutes wanken bedrohlich unter der Last des angestauten Regens.
Unter das Vordach will er sich nicht setzen. Er hofft, wenn er im Regen ausharrt und sich die Nässe an seinem warmen Körper sättigt, würde sie ihn gewiß schneller abholen kommen. Er hält Ausschau nach dem Auto. Da entführt ihn seine kindliche Phantasie, fort von hier. In einem Spiel streckt er seine Arme weit von sich. Mit den Händen wünscht er sich, alle Regentropfen einfangen zu können – damit der Himmel aufhört zu weinen. Dann öffnet er sie gespannt. Zwischen den Fingern hält er nichts. Außer Wasser.
An seiner linken Hand aber schimmert ein silberner Ring. Er dreht ihn ein paar Mal, denkt an sie. – Warum kommt sie bloß nicht, ihn zu holen? In der bleiernen Wolkenmasse sucht er vergeblich Antwort auf seine Frage. Es scheint, als hätte ein Dieb den verloren geglaubten Schlüssel zum Himmel gefunden, ihn aufgebrochen, ihn entzwei geteilt, und die schönere Hälfte mitgenommen. Die Häßlichere stürzt nun unaufhaltsam zur Erde. Aus ihr fliehen Regentropfen. Wie Sorgen und verlebte Träume zerplatzen sie auf dem harten Pflaster. Sie verlieren sich in murmelnden Bächen, die Welt unterhalb der Straße saugt sie auf. – Was geschieht mit ihnen da unten? Womöglich türmen sie sich zu einem gewaltigen Berg auf, dessen Gipfel irgendwann einmal den Boden durchstoßen wird.
Dort, in der dunklen Fremde, würden die Regentropfen sich ängstigen, bangt er. Und weil sie ihm Leid tun, faltet er seine hohlen Handflächen, um sie zu retten. Doch durch seine Finger rinnt nur noch eine trübe Brühe. Mit Staub und Dreck verquollen. Wie alles Himmlische verlieren sie ihren Glanz, kaum daß sie die Erde berühren. Er erinnert sich an den Winter. Taumelnde Schneeflocken im Wind besitzen jenen Schimmer noch. Auf dem starren Erdboden verlieren sie ihn, und grauer Schmutz überzieht sie. Er möchte darum den Tropfen ihr Leuchten zurückgeben. Er mag keine Veränderungen an ihnen, so wenig wie um sich selbst. Mutig hüpft er also in die Pfützen. An den kurzen Momenten, in denen sich ihre Spritzer in der Schwebe befinden, erheitert er sich. Ihr Geflimmer spiegelt sich in den groß getupften Augen des Jungen. Die Lider beben im Takt seines Entzücken. Er strahlt mit ihm um die Wette – und stürmt los, sie endlich zu suchen.
* * *
Sie sitzt in ihrem Auto. Abseits der Turnhalle beobachtet sie den Jungen im Rückspiegel. Sie will ihn warten lassen, will loslassen. Der Regen klopft an die Scheiben, möchte sich zu ihr setzen. Unter ihren Augen schleicht er sich schließlich hinein. Ihr Herz pocht beschwerlich. Sie versucht es zu verdrängen, und beruhigt sich mit der Vorstellung, ihm vorher die beste Regenkleidung angezogen zu haben. Er ist doch schon sehr tapfer und erwachsen, redet sie sich ein. Unbewußt streicht sie dabei über ihre Brust, und glaubt für einen kurzen Augenblick den Grund ihrer Zerrissenheit in den Fingerspitzen zu spüren. Erschreckt zieht sie die Hand weg. Sie denkt an das Krankenhaus, den schweren Eingriff, die Chemotherapie und an den Arzt zurück. Diese ständige Ungewißheit. Erneut tastet sie zögerlich um ihre Brust. Brustkrebs. Sie wird bald sterben.
Ein Lächeln fängt ihre Tränen auf. Sie sieht, wie fröhlich er im Regenguß spielt. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, dass er sich Glück und Heiterkeit in der Welt erhält – auch wenn sie einmal nicht mehr da ist. Einen Ring schenkte sie ihm zu seinem Geburtstag. Er soll ihm beizeiten helfen. Doch noch ist sie in Gedanken bei ihm. Wie tausend kleine Lawinen fahren die Regentropfen durch sein Gesicht, erschüttern das innige Vertrauen, das er in sie legt. Die Nässe zementiert seine Füße, und kriecht unbarmherzig am zitternden Leib empor. Hinter seinem Frohmut versteckt er Zweifel und Ängste, erwägt sie schaudernd. Anders kann sie sich seinen Leichtsinn bei diesem scheußlichen Wetter nicht erklären. Ihre Hand greift intuitiv zum Zündschlüssel. In einer Umdrehung könnte sie sich ihrer Schmerzen entledigen. Sie tut es nicht.
Erst als er plötzlich losläuft, steigt sie aus und eilt ihm entgegen. "Mama!" Er drückt sich an ihre Hüften, schluchzt in ihren Bauch hinein. Sie beugt sich hinab, küßt ihm die Wangen, und streicht ihm sein Haar aus dem verkühlten Gesicht. "Komm, wir gehen", flüstert sie ihm liebevoll ins Ohr.
"Sag' mir Mama, warum kommst du jetzt erst? Du darfst mich nie wieder allein lassen", fordert er, und mit jedem Wort sickert eine Träne durch seine Wimpern. Sie richtet stumm ihren Blick zum Himmel, versucht, die Tränen aufzuhalten. Der Regen hört auf. Er zieht sich unter ihre Augen zurück. Erschöpft fahren beide heim. Versehentlich lässt er seinen Turnbeutel zurück. Er wird ihn morgen holen gehen. Allein.