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Wenn die Realität ihre Farbe verliert
Das Scheunentor stand einen winzigen Spaltbreit offen. Ben war sich sicher, es am vorigen Abend, wie üblich, fest verschlossen zu haben. Es kam öfter vor, dass Landstreicher seine Farm als Schlafplatz missbrauchten. Im Grunde kümmerte dass Ben nicht, - wenn die Männer den Anstand hatten vorher höfflich zu fragen.
„Okay mein Freund, raus aus der Scheune!“, rief Ben. Die Sonne stand hoch am Himmel und es war völlig windstill. Eine Krähe schwang sich vom Dach in den tiefblauen Himmel hinauf. Dabei stieß das Federvieh einen garstigen Schrei aus.
Aus dem Innern der Scheune drangen schlurfende Laute zu Ben vor. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück.
Eine Gänsehaut überzog seinen Körper und trotz der Hitze fröstelte ihm plötzlich. Undeutlich konnte Ben einen klobigen Schatten erkennen. Trübe, gelbliche Augen starrten ihn an.
„Hören sie, Mister, gehen sie in Frieden oder ich rufe den Sheriff!“ Ben war einen weiteren Schritt zurückgewichen. Eine unbestimmte Furcht hatte sich in seinen Eingeweiden breit gemacht. Die Augen glotzten weiterhin aus dem Schatten hervor.
„Ben?“ Martha stand auf der Veranda und wollte gerade zu ihm hinüber kommen, als im Haus das Telefon läutete. Sie ging eilig wieder hinein.
Ben wandte sich wieder seinem ungebeten Gast zu: „Schluss jetzt Freundchen! Raus mit ihnen sonst helfe ich nach!“ Er versuchte seine Furcht niederzukämpfen. Aber sein Körper war nass vom Schweiß.
Die Gestalt torkelte aus dem Schatten hinaus auf das Scheunentor zu. Ben Stockte der Atem, als er in das Madenzerfressene Gesicht eines Toten blickte.
Sekundenlang konnte er nur dort stehen, mit zur Grimasse verzerrten Gesichtszügen. Sein Mund Klappte auf und zu, wie bei einem Fisch auf dem Trockenen. Erst als sein toter Besucher geifernd und krächzend auf ihn zuging, löste sich seine Erstarrung. Er drehte sich um und rannte in Richtung Haus, das ihm meilenweit entfernt schien.
Ben riss die Tür auf und rannte beinahe Martha um, die im Flur stand und ihn erschrocken anblickte.
„Ben was ist los?“, brachte sie verwirrt hervor. Nie zuvor hatte sie ihren Mann in einem solchen Zustand gesehen.
„Hol die Kinder!“, brüllte er ihr zu, während er im Wandschrank herumwühlte.
„Ben was…?“
„Geh und hol die Kinder, schließt euch im Keller ein!“, brüllte er diesmal noch wilder.
Martha wirbelte herum und rannte die Treppe hoch. Diebe. Wie werden überfallen, ging es ihr durch den Kopf. Gott bitte nicht..!
Ben musste sich durch einen Berg aus Schachteln und Kartons wühlen, bevor er den schweren Revolver fand. Mit zittrigen Fingern lud er die Patronen in die Trommel. Mehrmals entglitten ihm die Kugeln und fielen auf den Dielenboden. Nur verschwommen nahm er wahr, das sich etwas an der Tür zu schaffen machte.
Dann hörte er wie in der Küche ein Fenster eingeschlagen wurde. Ben ging zur Haustür, schob den Fliegenschutz beiseite und feuerte dreimal. Das Wesen taumelte unter der Wucht der Kugeln und polterte die Treppe hinunter. Er hörte Martha und die Kinder schreien. In der Küche! Ben wollte gerade losrennen, als er sah, dass die Kreatur sich wieder erhob. Blut und Schleim troff aus den Wunden. Ben schoss noch zweimal. Diesmal in den Kopf. Das Wesen zuckte mehrmals und fiel wieder in den Staub.
Klare Gedanken gab es in Bens Bewusstsein nicht mehr. Er handelte nur noch instinktiv. Mit blassem Gesicht rannte er in die Küche. Er lud die letzten zwei Kugeln in die Kammer des Revolvers. Grässliche Schreie drangen durch die Barriere seiner geistigen Schutzmauer und zerschmetterten die Realität seiner heilen Welt endgültig.
Martha lag verkrümmt in einer Lache aus dunklem Blut. Eine ganze Gruppe dieser Wesen umlagerte sie, biss, saugte und knabberte an ihr.
Clara kauerte unter dem Küchentisch und wippte geistlos hin und her. Die Augen fest verschlossen, klammerte die Kleine sich an ihre Puppe Tinka.
Ben hob mechanisch die Waffe und feuerte seiner Tochter eine Kugel in den Schädel. Am Rande nahm er wahr, dass weitere dieser Dinger in das Haus eindrangen. Von allen Seiten her, strömten sie auf den frischen Blutgeruch zu.
Ben lachte irre und hielt sich den Revolver an die Schläfe. Zeit ist relativ und so glaubte Ben, er könnte das Betätigen des Abzugs noch verhindern, als Teile seiner Schädeldecke auch schon auf den Küchenboden klatschten.
Er hatte seinen fünfjährigen Sohn vergessen, der in einer Ecke saß und an seinem Daumen lutschte, die Augen weit aufgerissen. Eine Kugel wäre gnädiger gewesen, als von einer verwesenden Meute lebendig in Stücke gerissen zu werden.