Wenn die Sonne nie wieder aufgeht
Sie dachte sie würde nie wieder jemanden so lieben können wie sie ihn geliebt hatte, dass die Sonne für immer hinter dem Horizont verschwinden würde. Sie dachte, wenn sie ihn noch einmal sehen würde, so würde sie sofort vor Sehnsucht zu Staub zerfallen. Doch sie wusste auch, dass dies nicht geschehen würde, nicht geschehen konnte. Das Leben würde weiter gehen, wenn auch mit diesem riesigen Loch, das er hinterlassen hatte. Sie ging weiter zur Schule, wie sie es vor ihrer Trennung getan hatte, sah ihn jeden Tag, wie sie es vorher getan hatte, doch etwas war anders: Nicht sie war das Mädchen, das in seinen Armen lag und in diese wunderschönen, himmelblauen Augen sehen durfte, sondern ihre beste Freundin.
Alles hatte so schön angefangen: Als er aus einer anderen Stadt hierher gezogen und in ihre Klasse gekommen war, hatte sie sofort gewußt, dass er anders war als die Typen, die bisher mit ihr die Stunden, die ewig zu dauern scheinten, abgesessen hatten. Und als der Lehrer gesagt hatte, dass er den Platz neben dem ihren einnehmen sollte, hatte sie auf Wolken geschwebt. Jedesmal, wenn er sie angesprochen hatte war ihr ein Schauer wohliger Wärme durch den Körper geflossen und war es auch nur die Frage, ob sie ihm nicht mal bei einer Mathe-Aufgabe helfen könne. In dem Moment, in dem sie beide nach seinem Radiergummi gegriffen hatten und ihre Hände sich zum ersten Mal berührt hatten, war es für sie so, als ob sie ein Blitz getroffen hätte. Leider war dieser Moment viel zu kurz gewesen, er entschuldigte sich und widmete sich wieder seiner Lateinübersetzung. Es war, als bemerke er gar nicht, was ihr da widerfuhr.
Eine Woche später jedoch erreichte sie ein Brief, in dem in seiner Schrift geschrieben stand, dass er sie über alles liebe und alles für einen Platz in ihrem Herzen tun würde. Sie konnte nicht glauben, dass dies der Wahrheit entsprach, doch dort stand es in blauer Tinte auf weißem Papier! Sie holte zischend Luft und atmete langsam wieder aus. Ein drittes Mal las sie die Zeilen, die ihr Leben für immer verändern würden.
Noch einmal holte sie tief Luft und ging auf die Ecke des Schulhofs zu, in dem er immer allein und ziemlich verloren stand. Wie oft hatte sie schon geträumt dies zu tun? Sie ging einfach auf ihn zu und küsste ihn. Er schien überrascht, aber nicht erschreckt oder angeekelt oder ähnliches, er ließ es einfach geschehen. Von diesem Tag an galten sie als das Paar der Schule und sie selbst war das Glück pur. Doch dieses Glück sollte nur 2 Wochen anhalten, denn genau eine Woche und fünf Tage später beichtete er ihr, dass der Brief eigentlich nicht an sie, sondern an ihre Freundin adressiert war und das alles, ihre Liebe, ihr Glück, nicht die Wahrheit sondern nur ein großes Mißverständnis war. In diesem Moment brach ihre Welt zusammen. Sie glaubte, dass nicht gutes mehr in ihrem Leben geschehen könne, nichts. Langsam ging sie weg und als sie außer seiner Sichtweite war begann sie nach Hause zu rennen.
Am nächsten Morgen sah sie ihre beste Freundin Arm in Arm mit der Liebe ihres Lebens am Schultor stehen. Mit erhobenem Kopf ging sie an den beiden vorbei in die Klasse, doch sie schienen sie nicht einmal zu bemerken, oder sie wollten es einfach nicht. Sie ließ die Schulstunden, die doppelt so lang zu dauern schienen wie üblich, qualvoll über sich ergehen und machte sich auf ihren langen, einsamen Heimweg. Plötzlich schien sie gegen eine Laterne zu laufen, die jedoch komischerweise zu wanken und schließlich umzufallen schien, wie sie auch. Als sie aufblickte sah sie, dass die Laterne gar keine Laterne, sondern ein sehr großer Junge war, ungefähr in ihrem Alter. Er rappelte sich auf, entschuldigte sich und half ihr dann auf die Beine. Noch einmal entschuldigte er sich und erklärte ihr, dass er gerade nicht ganz bei sich gewesen sein konnte, dass er so ein hübsches Mädchen nicht gesehen habe und, noch schlimmer, es einfach so angerempelt habe. Das könne er sich nicht verzeihen, wenn er sie nicht auf ein Eis einladen dürfe. Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte sie und nahm die Einladung aus einer Laune heraus an. Sie unterhielten sich lange und plötzlich schien ihr, als kenne sie diesen Jungen schon Jahre lang. Er brachte sie zum lachen mit seinen Scherzen und sie dachte nicht einmal mehr an den Jungen, der ihr das Herz gebrochen zu haben schien. Als es bereits dunkel wurde brachte er sie nach Hause und gab ihr an ihrer Haustür einen scheuen Kuss und einen Zettel mit seiner Telefonnummer und seiner Adresse. Sie sah ihm noch lange nach, selbst als er nicht mehr zu sehen war. Dabei sagte sie leise zu sich: „Und die Sonne geht doch immer wieder auf!“