- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 26
Wenn du mich liebst
Damals, an einem Sommertag, der so verregnet war, dass man nichts anderes tun konnte, als Zuhause zu sitzen und sehnsüchtig aus dem Fenster zu starren, kam mein Onkel Gabriel nach Hause, durchnässt bis auf die Knochen, und fragte mich, ob ich ihm einen Gefallen tun könnte.
Ich war acht und lebte schon seit zwei Jahren bei ihm. Nach dem Tod meiner Eltern, war er die einzige Familie, die mir geblieben war. Ich liebte, vergötterte ihn und ich hätte alles für ihn getan. Er war mehr ein großer Bruder, als ein Onkel. Nur sechzehn Jahre trennten uns und manchmal kam es mir so vor, als sei er das größere Kind von uns beiden.
Obwohl ich erst sechs war als meine Eltern starben, wusste ich, dass diese Sache ihn vollkommen aus der Bahn geworfen hatte. Seine Schwester und sein Schwager, die ihn nach dem Tod meiner Großmutter aufgezogen hatten, waren plötzlich nicht mehr da. Von einem Tag auf den anderen hatte er erwachsen werden müssen.
Ein fester Tagesablauf und regelmäßige Essenzeiten waren für ihn bis dahin Fremdwörter gewesen. Schon an meinem ersten Tag in der neuen Schule, kam ich zu spät und in den ersten Wochen bestand mein Pausenbrot hauptsächlich aus Süßigkeiten. Das war zwar nicht gerade gesund, aber eine ungemein große Hilfe beim Finden neuer Freunde.
Ich saß auf der Couch im Wohnzimmer, die Nase in ein Buch gesteckt, als Gabriel tropfend durch die Haustür kam. Er fluchte über das Wetter, sah, dass ich ihn bemerkt hatte und anstarrte und lachte, während sich auf dem Fußboden eine kleine Pfütze bildete.
Er verschwand in seinem Zimmer, nachdem er seine Schuhe und Socken ausgezogen hatte. Als er zu mir ins Wohnzimmer zurückkam, hatte er sich eine trockene Trainingshose und ein T-Shirt angezogen. Seine dunklen Haare standen wild in alle Richtungen ab. Das Handtuch, mit dem er versucht hatte, sie zu trocknen, lag über seinen Schultern.
Ich bemerkte die Gänsehaut auf seinen Armen und legte mein Buch zur Seite. Dass er fror, sah ich als gerechte Strafe dafür an, dass er mich alleine gelassen hatte, um sich mit Sofia zu treffen. Ich mochte Sofia nicht. Eigentlich mochte ich keine der Frauen, mit denen er sich traf. Ich hatte Angst, ihn zu verlieren und es machte mich rasend eifersüchtig, wenn ich in meinem Zimmer bleiben musste, um nicht zu stören.
Ich glaube, Gabriel spürte meine Eifersucht. Er brachte nie zwei Nächte hintereinander eine Frau mit nach Hause. Papa hatte das immer verärgert. Er hatte einmal zu meiner Mutter gesagt, ihr „nichtsnutziger Bruder wechsle die Freundinnen wie die Unterwäsche“. Mir konnte das nur Recht sein. Gabriel und ich brauchten keine Ersatzmutter, die mich von meinem Platz in seinem Bett verdrängte.
„Wird Zeit, dass ich mir ein neues Auto kaufe“, sagte Gabriel, sah mich an und dann an mir vorbei aus dem Fenster, als hätte er gerade etwas unglaublich Wichtiges gesagt. Das konnte er besonders gut. Er sprach irgendeinen einfachen Satz aus und man war überzeugt davon, sein Leben hinge von diesen Worten ab. „Kannst du dir vorstellen, dass die Mistkarre schon wieder den Geist aufgegeben hat?“
Ich nickte, bei diesem alten Auto wunderte mich gar nichts mehr.
„Ich wollte den Bus nehmen, aber der ist genau vor meiner Nase weggefahren und ich bin den ganzen Weg von Sofias Wohnung hierher gelaufen!“
Mein Mitleid für ihn hielt sich in Grenzen. Innerlich verspürte ich einen Hauch von Schadenfreude.
„Hör' mal, Engelchen. Die letzten Monate waren verdammt schwer für mich, das weißt du, oder?“
„Ja“, antwortete ich leise und betrachtete eine Narbe an meinem Knie, um Gabriel nicht ansehen zu müssen. Es gab immer wieder Zeiten, in denen wir besonders aufs Geld achten mussten, und ich fühlte mich jedes Mal schuldig, wenn ich Gabriel abends über den Rechnungen sitzen sah, die noch bezahlt werden mussten.
„Deswegen wollte ich dich um einen Gefallen bitten.“
Ich nickte sofort. Hätte er mich darum gebeten, hätte ich ihm sogar mein geliebtes Sparschwein gegeben, in das ich jeden Cent steckte, den ich geschenkt bekam. Ich verkniff es mir sogar, mir so einen Unsinn wie Bonbons oder Kaugummi zu kaufen, weil ich unbedingt ein neues Fahrrad haben wollte.
„Ich habe ein paar Bekannte, die das Foto von dir in meiner Brieftasche gesehen haben“, erklärte Gabriel. „Sie finden, dass du das hübscheste kleine Mädchen bist, das sie je gesehen haben und sie würden uns eine ganze Menge dafür bezahlen, wenn du einmal unser Spiel mit ihnen spielst.“
„Aber das ist doch unser Spiel!“, platzte es aus mir heraus. Ich konnte Gabriel einfach nicht verstehen. Er sagte immer, dieses Spiel sei etwas ganz besonders, das man nur mit Menschen spielte, die man liebte. Und weil ich Gabriel so vergötterte spielte ich immer mit, obwohl es oft wehtat. Ich wusste, er musste mich sehr lieben, denn er hatte mir erklärt, dass ich eigentlich noch viel zu jung dafür war. Deswegen musste es auch unser Geheimnis bleiben. Ich wollte nicht, dass er meinetwegen Schwierigkeiten bekam, also dachte ich mir irgendwelche Ausreden aus, wenn ich in der Schule wieder Bauchschmerzen hatte.
Einmal hatte meine Lehrerin bei uns angerufen und Gabriel gebeten, in die Schule zu kommen, weil sie mit ihm über meine Ernährung reden wollte. Meistens schob ich die Schmerzen auf irgendwelche Süßigkeiten, die ich in Wirklichkeit gar nicht gegessen hatte. Gabriel hatte auf seine Art mit ihr gesprochen, sein bestes Lächeln aufgesetzt und ihr hoch und heilig versprochen, mir weniger Zucker zu geben. Dann war er mit mir in einen Laden gegangen und ich hatte mir eine brandneue Babypuppe aussuchen dürfen. Zur Belohnung, weil ich Geheimnisse so gut für mich behalten konnte.
„Nicht jeder hat soviel Glück wie wir. Es gibt Menschen, die haben niemanden, der sie liebt und die einsam sind“, sagte Gabriel bedrückt. „Ich finde das traurig. Du nicht?“
„Doch...“
„Willst du diesen Leuten denn nicht helfen?“
„Ich weiß nicht.“
„Du könntest etwas Gutes tun und gleichzeitig eine Menge Geld dafür bekommen. Wir kriegen genug, um die ausstehenden Rechnungen zu bezahlen und dir ein neues Fahrrad zu kaufen.“
Das klang zwar verlockend, aber nicht genug, um meine Zweifel beiseite zu schieben. Gabriel bemerkte, dass ich zögerte, setzte mich auf seinen Schoß und strich über meine Haare.
„Würdest du es noch nicht einmal für mich tun?“, fragte er. Sein trauriger Blick brach mir fast das Herz. Ich streckte meine Hände aus und berührte seine Wangen, um ihn zu trösten.
„Aber ich liebe sie doch nicht, wie ich dich liebe“, erwiderte ich.
„Ich weiß. Aber wenn du mich liebst, kann es doch nicht so schwer für dich sein, mir einen Gefallen zu tun, oder? Ich dachte wirklich, dass du mich liebst und es für mich tun würdest...“ Gabriel seufzte. „Du musst es nicht tun, wenn du nicht willst. Meine Bekannten werden zwar sehr wütend auf mich sein, aber wenn dir das lieber ist... ich kann mir ja noch einen Job suchen. Nachts kann man sehr gut verdienen... “
Ich wollte nicht, dass Gabriel Ärger bekam, aber am wenigsten wollte ich, dass er noch mehr arbeitete und mich die ganze Nacht alleine ließ.
„Ich mache es.“ Ich schlang meine Arme um ihn und drückte ihn so fest an mich, wie ich konnte. Auf keinen Fall wollte ich Gabriels Zuneigung verlieren. Schließlich war er der einzige Mensch, den ich auf der Welt noch hatte.