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Wenn ich dich sehe
Ich habe in meinem Leben an vieles geglaubt. An das Christkind zum Beispiel, oder daran, dass man vom vielen Fernsehen viereckige Augen bekommt. Ich habe geglaubt, dass Freundschaften ewig halten, und eine Zeit lang ging ich in die Kirche und glaubte an Gott. Nur eines habe ich immer geleugnet: Liebe auf den ersten Blick. Und ausgerechnet die hat mich erwischt.
Sie ist ein hübsches Mädchen. Nicht von jener Beliebigkeit, die viele hübsche Mädchen teilen. Als ich sie entdeckte, lächelte sie mich an. Es war ein echtes Lächeln, eines, das die Augen umfasste. Dabei strich sie ihr Haar aus dem Gesicht, und das öffnete etwas in mir.
Seitdem sehe ich sie. Sehe sie mit jenem inneren Auge, das für besondere Menschen bestimmt ist. Jetzt wohnt sie in meinem Herzen und weht durch meine Träume.
Sie allerdings, sie sieht mich nicht. Noch nicht. Ich muss ihr auffallen, irgendwie.
Ich muss sie überraschen.
Als Alexandra ein kleines Mädchen war – fünf, höchstens sechs Jahre alt – besuchte sie mit ihren Eltern und Mona ihre Großmutter auf dem Friedhof. Auf dem Weg kamen sie an einem Grab vorbei, auf dem ein hellblauer Plüsch-Elefant stand. Ihre Mutter begann zu weinen. Alexandra verstand das nicht, und ihr Vater nahm sie zur Seite und sagte: „Manche Dinge erzählen eine Geschichte, weil sie an einem Ort sind, an dem sie nicht sein dürften. Und diese hier ist traurig.“
Jetzt, über zwei Jahrzehnte später, flackerte dieser Satz in Alexandras Erinnerung, als sie tropfnass und mit einem Handtuch umschlungen ihr beschlagenes Spiegelschränkchen öffnete. Der Zettel klebte auf der Innenseite.
Alexandra zuckte zurück. Noch bevor sie die drei Zeilen gelesen hatte, wusste sie, dass dieser Zettel eine Geschichte erzählte, die sie lieber nicht wissen wollte.
Sie hob ihre Hand und löste ihn. Lange blickte sie auf das Geschriebene, dachte an einen Scherz und fühlte gleichzeitig einen Eindringling durch ihren Körper kriechen.
Sie musste den Text oft gelesen haben, denn als sie ihren Schrank schloss, war der Spiegel vorne klar, und Alexandra blickte in ihr eigenes, blasses Gesicht.
„Du musst zugeben, es ist ein klein wenig romantisch“, sagte Mona, während sie auf Alexandras Couch saß und ihre Nägel lackierte.
„Es ist kein bisschen romantisch. Es ist eine Unverschämtheit.“
„Ach komm. Jetzt übertreib nicht. Jemand macht dir ein Kompliment, und du –“
„Das ist kein Kompliment. Lies nochmal genau, was draufsteht.“
Mona beugte sich nach vorne. „Die Augen brennen, verblendet von Herrlichkeit. Wenn ich dich sehe.“ Sie blickte auf. „Klingt für mich wie ein Kompliment. Da findet dich jemand toll.“
„Verblendet von Herrlichkeit. Das ist kein Kompliment. Geblendet wäre eins. Möglicherweise.“
Mona schüttelte den Kopf. „Schau, das ist typisch für dich. Immer machst du an solchen Kleinigkeiten rum. Verblendet, geblendet, wo ist da der Unterschied?“
„Da ist sogar ein großer Unterschied.“
Mona fuhr fort, sich die Nägel zu lackieren. Alexandra hatte damit gerechnet, von ihrer Schwester nicht verstanden zu werden. Als Zwillinge hatten sie den Mutterleib geteilt, doch damit erschöpften sich die Gemeinsamkeiten.
„Was denkst du, wer hat das geschrieben?“, fragte Mona.
„Martin natürlich.“ Wer hätte es sonst sein können? Gestern Abend waren schließlich nur er, Mona und Malek zu Besuch gewesen. Martin musste den Zettel angeklebt haben, als er pinkeln gegangen war.
Mona blickte ihre Schwester an und wedelte mit der linken Hand, um den Nagellack zu trocknen. „Ja, denk ich auch. Er steht auf dich. Ist das nicht süß?“
„Du verstehst es nicht, oder?“
„Alexandra, jetzt mal ernsthaft. Martin schreibt dir einen – so einen Zettel, und du tust so, als –“
„Ein Haiku.“
Mona runzelte die Stirn.
„Es soll zumindest eins sein. Es sind siebzehn Silben, aufgeteilt in fünf, sieben, fünf.“
„Also gut. Siehst du, er schreibt dir sogar ein Gedicht. Und du tust so, als hätte er dir an die Titten gefasst.“
„In gewisser Weise hat er das.“
Mona zog die Augenbrauen hoch. „Du bist manchmal so komisch. Wirklich.“
Natürlich. Ihr ganzes Leben war sie komisch gewesen, weil sie still und schüchtern war und gern Zeit allein verbrachte. Was bei anderen Menschen als Introversion bezeichnet wurde, galt bei ihr als unnatürlich, weil Mona ein global player war und jeder offenbar dachte, Zwillinge müssten sich gleich verhalten.
„Er hat meine Privatsphäre verletzt.“
„Deine Privatsphäre? Er hat dein Badezimmerschränkchen geöffnet, das war alles.“
„Ja, und das gehört sich nicht. Das ist privat.“
„Was hast du da drin, deinen Dildo?“
Alexandras Gesicht wurde heiß. „Natürlich nicht.“ Es war sinnlos, mit Mona darüber zu sprechen.
Mona begann, die Nägel der rechten Hand zu lackieren. „Schau mal, er ist eben schüchtern. Wenn er den Zettel woanders hingelegt hätte, hätte ihn vielleicht jemand anderes zuerst gesehen. Er wollte, dass du ihn findest, und da ist das Schränkchen eine gute Wahl. Besser, als ihn zu deiner Unterwäsche zu legen, oder?“
Alexandra stieß ein humorloses Lachen aus. Sie musste zugeben, an diesen Punkt nicht gedacht zu haben. Hatte sie doch überreagiert? „Da wäre er kaum rangekommen.“
„Ja, schade eigentlich. Ich finde, ihr wärt ein tolles Paar. Wie findest du ihn denn?“
Alexandra zuckte mit den Schultern, was Mona nicht sehen konnte, weil sie ihre Nägel studierte. „Weiß nicht. Hab da nicht drüber nachgedacht.“
„Das ist auch nichts, worüber man nachdenken muss. Du kennst ihn doch. Findest du ihn süß oder nicht?“
„Er ist – nett“, sagte Alexandra und merkte, wie lahm es klang.
„Oh je. Sag ihm das nie direkt. Nett ist das Schlimmste, was du zu einem Mann sagen kannst. Was hast du jetzt vor?“
Alexandra nahm den Zettel, las ihn erneut. Die Augen brennen, verblendet von Herrlichkeit. Wenn ich dich sehe. Sie wollte es als Kompliment auffassen, es gelang ihr nicht. Nein, beim Lesen hatte sie eher das Gefühl, in einen Apfel zu beißen, der süß und saftig aussah und sich dann als faulig herausstellte.
„Keine Ahnung“, sagte sie.
Als sie abends im Bett lag, hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie würde nichts tun.
Eine Stimme flüsterte, das sei ein feiger Weg, aber Alexandra war überzeugt, Martin würde auf sie zugehen, wenn es ihm ernst war.
Er hat den ersten Schritt gemacht. Jetzt bist du dran.
Nein, das war kein Schritt. Es war ein Zettel, geschrieben in Blockschrift, ohne Unterschrift. Was, wenn er nicht von Martin stammte? Alexandra drehte sich hin und her. Es kamen nur er, Mona oder Malek in Frage, und ihre Schwester und deren Freund schieden aus. Es musste Martin sein.
Inzwischen war ihre Wut verflogen. Vermutlich war Martin in Beziehungsfragen ebenso unerfahren wie sie – sie kannte ihn seit einer Weile, eine Freundin hatte er nie erwähnt – und startete jetzt einen unbeholfenen Versuch.
Martin und sie. Sie und Martin. Auch diesen Gedanken wendete sie hin und her.
„Mein Freund Martin“, sagte sie laut in die Dunkelheit. „Martin, mein Freund.“ Ihre Stimme klang einsam, das Gesagte ungewohnt.
Als ihr klar wurde, dass sie nicht einschlafen konnte, schaltete sie die Nachttischlampe an, um noch Musik zu hören. Pachelbels Kanon in D-Dur oder Bachs Air aus der Suite Nr. 3 würden sie beruhigen. Als sie ihren kabellosen Bose-Kopfhörer von der Ladestation nahm, sah sie den Zettel. Er klebte in einer der Ohrmuscheln.
Laut sog sie Luft ein. Mona, dachte sie. Warst du das?
Sie nahm den gelben Post-It, hielt ihn ins Licht.
Das Ohr, es frohlockt
beim Klang deiner Melodie.
Lauscht nicht der Vernunft.
Ihre Hand, die den Zettel hielt, begann nach einer Weile zu zittern.
Sie saßen zu dritt in einem Café. Alexandra wäre gern zuhause geblieben oder hätte sich allein mit Mona getroffen, aber Martin hatte eine SMS geschrieben. Ihr war keine Ausrede eingefallen.
Er erzählte über Indien. Anscheinend plante er eine längere Reise. „Es geht nicht nur darum, ein anderes Land kennenzulernen“, sagte er, „sondern darum, mich selbst kennenzulernen. Das wird eine ganz neue Erfahrung.“
Alexandra rührte in ihrer Latte macchiato. Sie achtete kaum auf Martins Worte, beobachtete stattdessen sein Gesicht, suchte nach einem Anzeichen, das ihn verriet. Vielleicht wartete er auf ein Zeichen ihrerseits und dachte, sie habe die Zettel noch nicht entdeckt.
„Sich einmal von den gesellschaftlichen Fesseln lösen. Von Verpflichtungen und Erwartungen, mal auf den ganzen technischen Schnickschnack verzichten. Mal in sich selbst hören. Sich selbst sehen. Darum wird es gehen.“ Er schaute Alexandra in die Augen. „Ist alles klar bei dir?“
„Ja, sicher“, sagte sie und trank einen Schluck. „Klingt gut“, log sie. In Wirklichkeit hielt sie nichts von diesem Selbstfindungs-Mist. Menschen, die sich zu Hause verloren, würden sich nicht in einem fremden Land neu entdecken. Das war esoterischer Schwachsinn. Und aufs Handy konnte man auch hier verzichten, dazu musste man keine tausende von Kilometern reisen.
„Komm doch mit“, sagte Martin. „Ich bin flexibel, was die Planung angeht.“
Alexandra murmelte etwas von viel Stress im Beruf und knapper Kohle. Sie überlegte, ob Martin und sie zusammenpassten. Sie fand seine Haare einen Tick zu lang, und seine Augen standen zu eng beieinander. Aber wer war sie, dass sie Ansprüche ans Äußere stellen durfte?
Als er auf die Toilette ging, lehnte sich Mona vor. „Was ist los mit dir?“, flüsterte sie. „Du siehst richtig scheiße aus.“
Alexandra kramte den Zettel hervor. „Den hab ich gestern Abend auf meinem Kopfhörer gefunden.“
Mona las den Zettel. „Und?“
„Auf meinem Kopfhörer. Der steht im Schlafzimmer.“
„Und?“ Als würde Mona mit einem Kind sprechen. Wie konnte sie so begriffsstutzig sein?
„Herrgott, in meinem Schlafzimmer. Wann soll Martin in mein Schlafzimmer gegangen sein?“
„Vielleicht, nachdem er auf dem Klo war?“
Das war auch Alexandra eingefallen. „Und du findest das nicht komisch? Während er pinkeln geht, schleicht er durch meine Wohnung und verteilt Zettel?“
„Hast du noch mehr gefunden?“
„Nein. Und ich hab die halbe Nacht kein Auge zugetan und alles auf den Kopf gestellt. Der spinnt doch.“
„Er ist halt ein verrückter Kerl. Vielleicht findet er das romantisch. Manche Männer ticken so.“
„Und was da steht: Lauscht nicht der Vernunft. Was soll das heißen?“
Mona überlegte. „Keine Ahnung. Frag ihn halt.“
„Sicher nicht.“
„Warum nicht? Vielleicht wartet er darauf?“
„Warum spricht er nicht einfach mit mir?“
„Wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem du nicht mit ihm sprichst: Er hat Angst.“
„Ich hab keine Angst.“
„Natürlich. Immer, wenn dir ein Mann nahe kommt, kriegst du Angst und rennst weg.“
Alexandra hatte keine Lust auf eine Grundsatzdiskussion. „Ich weiß einfach nicht, was ich von ihm will. Und solange ich das nicht weiß, bring ich überhaupt nichts zur Sprache.“
„Du musst es zur Sprache bringen. Sonst denkt er, du lehnst ihn ab, und du wirst nie –“
„Er kommt“, flüsterte Alexandra und steckte den Zettel weg.
Nachdem Martin sich gesetzt hatte, kramte Mona ihr Handy hervor. „Malek hat gerade geschrieben“, sagte sie und warf ihrer Schwester ein schräges Lächeln zu. „Ich muss leider los, ihn vom Bahnhof abholen.“
Sie stand auf, und Alexandra spürte, wie ihre Knie weich wurden. Bei der Vorstellung, allein mit Martin zurückzubleiben, bekam sie kalte Hände. Ihr fiel nichts ein, um ihre Schwester aufzuhalten, sie konnte nicht einmal vorschlagen, dass sie alle gehen sollten, weil ihre Latte noch halb voll war.
Als Mona verschwunden war, stellte sich jener Moment der Stille ein, den Alexandra fürchtete. Ihr passierte das nur, wenn sie allein mit einem Mann zusammen war. Als würde das irgendwelche Schotten in ihr schließen. Am liebsten hätte sie gesagt: Können wir uns nicht einfach einvernehmlich anschweigen? Vielleicht würde das Spiel mit offenen Karten den Augenblick weniger peinlich machen.
Martin ging es offenbar ähnlich. Er rutschte hin und her und trank seine Cola. Sein Indien-Pulver schien verschossen, bis ihm einfiel: „Hey, kennst du einen Satz, in dem nur 'in' und 'der' vorkommt?“
Alexandra schüttelte den Kopf.
„Der Inder in der Inderin“, sagte Martin und gackerte.
Alexandra zwang sich zu einem Lächeln. Frag ihn, dachte sie. Frag ihn jetzt. Frag ihn und beende das Ganze.
Eine andere Stimme sagte: Du hast Zeit. Warum etwas riskieren?
Nach wenigen Minuten war ihre Latte leer, und als Martin vorschlug, zu bezahlen, nickte sie.
Ich habe so etwas noch nie erlebt, und ich war schon verliebt. Mehrere Male.
Dieses Mal ist es mehr als Verliebtsein, mehr als Liebe. Ich begehre dieses Mädchen, diese Frau wie nichts zuvor in meinem Leben. Mit jedem Herzschlag denke ich an sie, Nacht für Nacht träume ich von ihr. Nicht davon, sie zu ficken – da denke ich nicht mal dran. Sie ist keine Frau, der ich den Vortritt lasse, um ihr auf den Arsch zu starren oder an die ich beim Wichsen denke. Dafür gibt es andere, sie würde ich damit nur beschmutzen.
Ich träume davon, mit ihr am Strand zu sitzen und den Sonnenuntergang zu beobachten. Davon, mit ihr an Heiligabend zu später Stunde über den verlassenen Marktplatz zu schlendern und sie vor dem leuchtenden Weihnachtsbaum zu küssen.
Mann, ist das schnulzig. Ich erkenne mich nicht wieder. Was macht diese Frau mit mir? Ich kann nicht mal sagen, ob es wunderschön oder bis über die Maßen qualvoll ist. Meistens ist es beides.
Mit dieser Frau will ich den Rest meines Lebens verbringen. Sie ist mein Sonnenschein.
Und noch immer sieht sie mich nicht. Dabei muss sie doch merken, was Sache ist. Wie deutlich muss ich noch werden? Ob sie mich absichtlich ignoriert?
Ich glaube, das würde ich nicht aushalten. Ich würde durchdrehen.
Vielleicht muss ich einfach noch einen Schritt weiter gehen.
„Erzähl die Geschichte“, sagte Malek und trank einen Schluck Bier.
Martin schüttelte den Kopf.
„Na komm schon, erzähl sie. Die ist der Hammer.“
Sie saßen zu viert in der Wohnung von Mona und Malek. Es war ein Donnerstagabend, Alexandra musste am nächsten Tag nur vier Stunden arbeiten und hatte beschlossen, sich zu betrinken. Sie war beim dritten Glas Wein und damit auf einem guten Weg.
„Wie alt war ich damals?“, fragte Martin. „Achtzehn? Kann mich da überhaupt nicht richtig dran erinnern.“
Malek lachte. „Klar, aber nicht, weil du achtzehn warst, sondern weil du total dicht warst.“
„Jetzt erzähl schon“, drängte Mona. „Es bleibt auch unter uns.“
Alexandra trank einen Schluck Wein und genoss die Wärme, die er brachte.
„Pfff“, machte Malek. „Da waren mindestens zehn Leute dabei. Das ist kein Geheimnis.“
„Die waren doch alle genauso blau“, sagte Martin.
„Also, wenn du sie nicht erzählen willst, dann tu ich's halt.“ Malek stellt seine Bierflasche ab. „Wir waren bei Evelyn zum Geburtstag, und –“
Martin hob einen Finger. „Steffi.“
„Was?“
„Es war der Geburtstag von Steffi, nicht Evelyn.“
„Was jetzt? Ich denk, du kannst dich an nix erinnern.“
„Ich werd wohl noch Evelyn und Steffi unterscheiden können.“
Malek nickte langsam. „Ja, da wette ich drauf.“ Alexandra fragte sich, was das bedeuten mochte.
„Jedenfalls“, fuhr Malek fort, „war es recht spät, also früh am Morgen, und wir spielen dieses Spiel. Zwei Gruppen, jemand bekommt einen Film zugeflüstert und muss ihn pantomimisch vormachen, sodass seine Gruppe ihn errät.“ Malek begann zu kichern und fuhr mit der Hand über den Mund. „Also, irgendwer flüstert Martin was zu, und Martin, der war echt hinüber. Er steht auf, und wir sehen schon, das wird nix. Der schwankt, kriegt kaum die Augen auf, und jeder von uns denkt, gleich haut's ihn auf die Fresse oder er kotzt. Und was macht er?“
Wieder wurde Malek durch sein eigenes Lachen unterbrochen. Martin fitzelte am Etikett seiner Bierflasche herum. „Er packt seinen – seinen Zeppelin aus und pinkelt vor versammelter Mannschaft auf den Teppich.“
„Igitt“, rief Mona. „Ist nicht dein Ernst.“
Alexandra trank einen großen Schluck.
„Angeblich soll es so gewesen sein“, sagte Martin.
„Ach, angeblich. Klar war das so. Haben wir doch alle gesehen. Sei froh, dass es keiner gefilmt hat.“ Malek lachte sich halb tot; Mona wusste anscheinend nicht, ob sie lachen oder das Gesicht verziehen sollte.
„Und was soll das für ein Film gewesen sein?“, fragte Alexandra, und da verstummte Malek. Er sah sie an, als könne sie nicht bis drei zählen. „The Big Lebowski natürlich. Was denn sonst?“
Alexandra kannte den Film nicht und hatte das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. Malek konnte sie nicht leiden, das war offensichtlich, auch wenn Mona das immer leugnete. Alexandra vermutete, er betrachtete sie als Monas hässliches Anhängsel, einen Wurmfortsatz.
Irgendwann sah sie, wie Malek Monas Hand nahm, und sie goss Wein nach. Die beiden erzählten von ihren Reisen, von vergangenen und zukünftigen. Alexandra war seit drei Jahren nicht im Urlaub gewesen, nicht, weil sie kein Geld hatte, sondern weil sie nicht alleine reisen wollte. Das war doch scheiße. Einmal hatte sie mit dem Gedanken gespielt, eine Single-Reise zu buchen, sich dann aber vor dem Druck, dort jemanden kennenlernen zu müssen, gefürchtet. Nein, da verbrachte sie ihre freien Tage lieber auf der Couch mit einem guten Buch.
Sie trank einen weiteren Schluck, dann noch einen. Ein Schleier legte sich vor ihre Augen.
Mona. Mit dreizehn hatte sie ihren ersten Verehrer, der erste unter Unzähligen. In der Schule hatten sie ihr Zettel geschrieben, später weiße Rosen zum Geburtstag geschickt. Unfassbar, dass Alexandra zur gleichen Zeit aus dem gleichen Leib gekrochen war. Sie hasste die Reaktionen, wenn Fremde erfuhren, dass sie Zwillinge waren. In der Schule hatten viele laut herausgelacht oder den Verdacht geäußert, verarscht zu werden. Heute waren die Leute höflicher, aber selbst deren Augen weiteten sich, selbst deren Mundwinkel zuckten. Alexandra sah sie jedes Mal, diese unwillkürlichen Erwiderungen, das Erstaunen, wie wenn man jemanden traf, dessen Gesicht von einer Brandnarbe entstellt war. Man konnte noch so höflich sein, man schaute einfach drauf, und wenn es nur für eine halbe Sekunde war.
Irgendwann schweifte Alexandras Blick zu Martin, und sie fragte sich, was sie so schlimm an ihm fand. Er hatte nicht Maleks Wuschelhaare oder seinen ausgeprägten Bizeps, na und? Vielleicht hatte Mona recht und sie rannte davon. Vielleicht hatte er eine Chance verdient.
Alexandra lehnte sich zurück. Sie wusste, ihre Gedanken entsprangen dem Wein, aber das war ihr egal. Für den Augenblick genoss sie das Gefühl, begehrt zu werden.
Auf dem Heimweg plante sie die nächsten Schritte. Am besten, sie würde mit Martin unter vier Augen reden. Momentan hatte sie das Gefühl, ein Gespräch führen zu können, und wenn das am Wein lag, dann scheiß drauf. Dann würde sie sich eben abends mit ihm treffen und ein oder zwei Gläser trinken. Wenn es die Zunge lockerte, warum nicht?
Als ihr Haus in Sicht kam, kramte sie nach den Schlüsseln. Sie würde –
Sie stockte, als sei sie gegen eine Wand gelaufen. Ihre Hand verharrte in der Tasche, ihr Mund stand offen. Wie aus weiter Ferne hörte sie ihr Keuchen. Sie blickte das Mietshaus hoch, bis in den vierten Stock, bis unter das Dach. Bis zu ihrer Wohnung. Dort brannte Licht.
Die Welt um sie herum wurde klar. Die wohlig-warmen, weingeschwängerten Gedanken zogen davon wie Schwaden im Wind, und Entsetzen überfiel sie, kalt wie das Licht ihrer Wohnung.
Hatte sie es angelassen?
Nein. Unmöglich. Sie ließ das Licht nie brennen. Im Gegenteil, sie kehrte dreimal zurück, um sich zu vergewissern, dass das Licht aus und alle Fenster zu waren.
Heute Abend auch?
Sie war nicht sicher.
Scheiße, sie konnte sich nicht erinnern.
Langsam zog sie den Schlüssel hervor.
Und jetzt? Sollte sie die Polizei rufen? Die würden sie doch für bescheuert halten, wenn sich herausstellte, dass nur die Leselampe brannte. Außerdem – würde ein Eindringling das Licht brennen lassen? Mitten in der Nacht?
Nein, es musste ihr Fehler sein.
Sie betrat das Haus und schlich die Treppen hoch, fröstelte und schwitzte.
Als sie vor ihrer Wohnungstür stand, suchte sie nach Spuren.
Lächerlich. Als würde ein Einbrecher seine Schuhe draußen ausziehen.
Da ist kein Einbrecher drin. Da ist überhaupt niemand drin. Da brennt bloß Licht.
Sie schloss die Tür auf und spähte in den Flur. Aus der Wohnung kam kein Ton. Minutenlang blieb sie auf der Schwelle stehen, ehe sie sich hineinwagte, gehemmt, als würde sie in einen kalten See steigen. Sie traute sich nicht, zu rufen, weil sie Angst vor dem Klang ihrer Stimme hatte.
Nach und nach schritt sie die Räume ab, machte Licht, schaute in die Schränke und unter das Bett. Die Wohnung war leer. Natürlich war sie das.
Erleichtert atmete sie aus. Immerhin war sie jetzt nüchtern.
Sie ging ins Badezimmer, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen.
Morgen würde sie darüber lachen. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, auf den Schreck einen Wein aufzumachen, als sie das Gelb im Spiegel entdeckte.
Sie wirbelte herum.
Der Zettel klebte auf dem Wäschekorb. Behutsam, wie in Trance, durchquerte Alexandra ihr Badezimmer und nahm den Zettel ab. Einen Moment zuckten die Buchstaben vor ihren Augen.
Die Nase, sie tanzt
zum Geruch deines Körpers.
So süß. Und so faul.
Sie setzte sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Wanne. Ihre Gedanken kreisten, doch zwei Dinge waren klar: Die Nachrichten kamen nicht von Martin. Und derjenige, der sie geschrieben hatte, begehrte sie nicht.
Einen Augenblick glaubte sie, sich übergeben zu müssen, doch anstelle des Abendessens kamen nur Tränen.
„Jetzt beruhig dich“, sagte Mona und reichte ihrer Schwester ein Taschentuch.
„Vergiss es.“ Alexandra wischte Monas Hand beiseite. Sie hatte eine zweite schlaflose Nacht hinter sich. Wieder hatte sie in allen Schränken und Schubladen nachgesehen, aber nichts entdeckt. Erst in den frühen Morgenstunden schlief sie ein, und als zwei Stunden später der Wecker klingelte, stand sie nur auf, um sich krankzumelden. Sie wartete bis in den Nachmittag, ehe sie zu Mona fuhr, weil Malek dann trainierte.
„Und der war wieder im Badezimmer?“
Alexandra nickte. „Direkt auf meinem Wäschekorb.“ Mit den Handballen rieb sie ihre Augen. Sie hasste es, vor Mona zu weinen.
„Pervers.“ Mona blickte auf das Papier. Dann: „Kann es sein, dass der vor drei Tagen schon da war? Als du die anderen beiden gefunden hast?“
„Was glaubst du? Dass Martin an dem Abend drei Zettel verteilt hat?“
„Ja.“
„Der Zettel war auf meinem Wäschekorb, verdammt. Natürlich hätte ich den gesehen. Ich hab neulich nachts meine ganze Wohnung durchsucht.“
„Und wer war seitdem in deiner Wohnung?“
„Niemand. Außer mir.“
„Mann, das ist echt gruselig. Wie soll das gegangen sein?“
Alexandra zögerte zwei Sekunden. Dann sagte sie: „Es gibt eine Erklärung.“
Mona blickte auf. „Ach ja?“
„Ja. Wir waren uns einig, dass es nur Martin, Malek oder du sein können. Nun, Martin scheidet aus. Er mag ein schräger Kerl sein, so schräg ist er nicht. Bleiben Malek und du.“
Die einsetzende Stille schien Alexandras Haut zu zerschneiden. Im Inneren ihres Kopfes dröhnte ihr Herzschlag.
„Was soll das heißen?“ Mona sprach leise, als würden unsichtbare Ohren lauschen.
„Mir ist gestern was klar geworden. Die Idee, dass Martin durch meine Wohnung schleicht und Zettel verteilt, war von Anfang an Blödsinn. Es muss jemand sein, der in meine Wohnung geht, während ich weg bin. Es muss jemand sein, der einen Schlüssel hat. Und den habt nur ihr.“
Mona stand auf. „Soll das heißen, du glaubst, ich hab die Zettel geschrieben?“
„Nein. Nicht du. Aber Malek.“
Alexandra hatte sich vorgenommen, die Reaktion ihrer Schwester genau zu beobachten: Mona öffnete den Mund, schloss ihn wieder. An ihrer Schläfe pulsierte eine Ader. War sie überrascht?
„Als wir uns gestern hier getroffen haben, kam er später dazu“, sagte Alexandra. „Weil er in meiner Wohnung war und den Zettel auf den Korb geklebt hat. Dabei hat er einen Fehler gemacht. Er hat das Licht brennen lassen.“
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“
„Es ist die einzige logische Erklärung. Malek schreibt diese Zettel, weil er – weil er – “
„Ja? Sag schon, warum sollte mein Freund diese Zettel schreiben?“
„Weil er mir Angst machen will. Weil er mich nicht mag.“ Als Alexandra den Gedanken aussprach, klang er weniger plausibel als in ihrem Kopf.
„Ach so“, rief Mona. „Jetzt kommt die Leier wieder. Und weil er dich nicht mag, klebt er Zettel in deine Wohnung, während du weg bist. Soll ich dir mal sagen, wie das klingt? Total verblödet klingt das. Warten wir doch, bis er wieder da ist, und fragen ihn selbst.“
Alexandra wich einen Schritt zurück. „Mona, bitte. Überleg doch mal. Wer sollte es sonst sein?“
„Martin natürlich.“ Mona schleuderte ihrer Schwester die Worte ins Gesicht. „Der ist genauso bescheuert wie du. Und weil du seit zwei Tagen rumrennst wie ein aufgeschrecktes Huhn, hast du den Zettel auf dem Wäschekorb erst letzte Nacht gesehen. Das ist so dämlich, ich –“
„Zeig mir den Schlüssel.“
Mona blickte Alexandra an, als hätte sie von ihr eine Ohrfeige kassiert. „Wie bitte?“
„Zeig mir den Schlüssel. Ich will ihn sehen.“
Zwei rote Flecken tauchten auf Monas Stirn auf. Alexandra wusste, die erschienen auch bei ihr, wenn sie wütend war, und sie fragte sich, ob das jetzt der Fall war.
Mona drehte sich weg und stürzte an ihre Kommode. „Weißt du was, du kannst deinen Schlüssel wiederhaben. Ich hab keinen Bock, als Perverse verdächtigt zu werden.“ Sie riss die oberste Schublade auf und begann, darin zu wühlen. „Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass du irgendwann durchdrehst, wenn du dauernd allein bist. Du bist –“
Mona stockte. Aus der Schublade holte sie ein Telefonbuch, den Abfallkalender und einen Regenschirm hervor und legte alles auf die Kommode. „Das kann doch nicht sein“, murmelte sie.
„Was? Was ist?“
„Nichts.“
„Der Schlüssel ist weg, stimmt's? Ich hab's gewusst. Glaubst du mir jetzt?“
Mona öffnete die zweite Schublade, griff hinein und hielt ihrer Schwester den Schlüssel vors Gesicht. Alexandra erkannte ihn an dem Anhänger, einem vierblättrigen Kleeblatt.
„Soviel dazu“, sagte Mona.
„Er war nicht da, wo du ihn hingelegt hast.“
„Doch, genau da war er. In der Schublade.“
Alexandra wollte sich setzen. Ein Teil von ihr hatte gehofft, ihre Schwester würde zu ihr stehen. Doch jetzt sah sie, dass Mona auf Maleks Seite stand. Ihn vielleicht sogar deckte, weil sie nicht zugeben wollte, dass jemand den Schlüssel von der einen in die andere Schublade gelegt hatte.
„Geh nach Hause, Alexandra. Geh nach Hause und leg dich ins Bett. Du wirst sonst noch paranoid. Und ich rede mit Martin. Das ist ja nicht mehr mit anzusehen, wie du –“
„Das wirst du nicht.“ Alexandra war überrascht, wie tief ihre Stimme klang. Sie war unendlich müde. „Martin hat nichts damit zu tun, und es geht ihn auch nichts an. Halt du dich da gefälligst raus.“
Mit diesen Worten rauschte sie an ihrer Schwester vorbei aus der Wohnung.
Eine Weile schritt sie ziellos durch die Stadt. Malek? Oder Martin? Oder Mona selbst, und nur Gott allein wusste, welche wahnsinnigen Gründe sie haben mochte. Wem sollte sie noch trauen?
Machte sich jemand einen Spaß? Oder wurde sie bedroht?
Sie ging in den Stadtpark, setzte sich auf eine Bank am See. Als ein Mann vorbeiging, hatte Alexandra das Gefühl, er starrte sie an.
Du wirst paranoid.
Ja, Mona hatte recht. Es war ihre Schuld, dass es so weit gekommen war, weil sie wieder einmal zu feige war.
Als es dämmerte, stand sie auf und ging nach Hause. Sie fühlte sich erleichtert, denn sie hatte eine Entscheidung getroffen, um dieses unwürdige Spiel zu beenden.
In ihrer Wohnung angekommen, nahm sie ihr Handy hervor und rief Mona an, erreichte jedoch nur die Mailbox. Obwohl sie es hasste, auf die Dinger zu sprechen, begann sie: „Hallo Mona, ich bin's. Ich bin – ich habe einen Entschluss gefasst. So kann es nicht weitergehen. Ich – ich –“ Sie stockte, suchte nach Wörtern, und genau deshalb hasste sie Mailboxen. „Ich sag das nicht auf deine Mailbox. Ruf mich an, bitte. Es ist dringend.“
Dann legte sie auf. Sie wollte, dass sich alle vier irgendwo trafen – egal wo, Hauptsache morgen, und nicht in Alexandras Wohnung. Dann würde sie die drei Zettel auf den Tisch legen und die ganze Gruppe damit konfrontieren. Sie war überzeugt, das würde den Urheber dermaßen unter Druck setzen, dass er gestehen musste und gleichzeitig vor den anderen bloßgestellt wäre.
Sie würde angreifen. Diese Einigelei musste aufhören.
Dann ging sie an die Wohnungstür, verriegelte sie und ließ den Schlüssel stecken.
Ich habe seit drei Tagen nicht geschlafen. Manche Leute verwenden das als Floskel, obwohl sie genug schlafen. Sie meinen dann: Ich konnte kaum einschlafen. Oder: Ich bin früh wachgeworden.
Bei mir stimmt es. Ich bin seit drei Tagen wach. Ich habe dauernd Kopfschmerzen. Ich bin erschöpft, aber nicht müde. Wenn ich mein Gesicht im Spiegel betrachte, sehe ich, wie die Haut sich spannt. Wenn ich esse, wird mir schlecht, also lass ich es.
Letzte Nacht habe ich ihren Namen geschrieben. Ganze Seiten habe ich damit gefüllt. Ich habe ihr Gedichte geschrieben, die ich nie abschicke. Ich weiß, dass ich sie niemals bekomme. Allein die Gewissheit, dass es ein solches Mädchen gibt, macht mich wahnsinnig. Sie ist alles, was ich mir jemals gewünscht habe – und, schlimmer noch, alles was ich bin, alles was ich habe und jemals erreichen werde, verblasst, weil ich weiß, dass diese hellste Sonne niemals für mich scheinen wird.
Es gibt ein Sprichwort: Nur derjenige, welcher das äußerste Unglück empfunden hat, ist fähig, das höchste Glück zu genießen. Ich erfahre jetzt den umgekehrten Fall.
Ich weiß, dass sie nächste Woche Geburtstag hat. Sie wird zweiundzwanzig, und ich werde ihr an diesem Tag zweiundzwanzig weiße Rosen schicken. Sozusagen meine letzte Hoffnung.
Da fällt mir noch ein Sprichwort ein: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Genau genommen stimmt das nicht. Zuletzt stirbt man immer selbst.
Als Alexandra aufwachte, zeigte ihr Wecker kurz nach halb vier.
Sie schwitzte. Nein, das war untertrieben. Sie lief aus. Die Zunge klebte an ihrem Gaumen.
Sie schlug die feuchte Bettdecke zurück und stand auf. In der Dunkelheit tapste sie durch das Schlafzimmer und ging auf die Toilette. Sie überlegte, ihr Nachthemd in die Wäsche zu werfen, aber ein anderes würde sie genauso durchschwitzen.
Nachdem sie sich erleichtert hatte, betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel. Aufgequollen, die Augen halb geschlossen. Sie musste schauen, dass sie noch ein wenig Schlaf bekam. Mona hatte sich nicht mehr gemeldet, hoffentlich –
„Nein. Oh nein.“
Als Alexandra den vierten Zettel entdeckte, wünschte sie sich, zu schlafen. Es gab diese Träume, die einem als solche bewusst waren; Alexandra kannte sogar ihre Namen – luzide Träume –, aber ebenso klar war ihr, dass dies kein Traum war. Es war schlimmer.
Sie löste den Zettel, der auf ihrem Nachthemd klebte, feucht vom eigenen Schweiß.
Die Finger gleiten
auf und ab, auf und ab, auf
und ganz tief hinein.
Sie ließ ihn fallen, und er landete im Waschbecken. Die Schlussfolgerung war banal.
Jemand war in ihrer Wohnung.
Ihr Körper schlotterte, weiße Lichter blitzten vor ihren Augen. Sie drehte sich zum Flur, die Dunkelheit glich einem Schlund. Sie spürte die Tränen auf ihren Wangen nicht, sah sie aber im Spiegel. Nie zuvor hatte sie solche Angst gehabt. Sie wusste, es gab kein Entrinnen, und dieses Wissen lähmte sie.
Sie schleppte sich aus dem Bad, schaltete das Licht im Flur an. Sie spürte ihn. Roch ihn.
Wer bist du?
„Hallo?“, sagte sie. Krächzte es. „Ich rufe die Polizei.“
Ihr Handy lag im Wohnzimmer, und als sie dort war und das Licht anknipste, sah sie auf dem Couchtisch – direkt neben dem Telefon – eine einzelne weiße Rose liegen.
Diese Rose löste etwas in ihr, sie spürte, wie sich ein Schrei durch ihren Körper quälte.
„Hallo, Alexandra“, sagte eine Stimme hinter ihr, und sie wirbelte herum und wollte schreien, endlich schreien, doch in diesem Moment wurde ihr ein Tuch auf den Mund gedrückt, und ihre Welt versank in einem stechenden Geruch.
Dann wurde alles schwarz.
Als sie zu sich kam, saß sie in ihrem Wohnzimmer. Die Rollläden waren heruntergelassen, durch die Ritzen sah sie graues Dämmerlicht. Ihre Hände waren auf dem Rücken verbunden, ein Tuch steckte in ihrem Mund. Gott, ihr Mund war so trocken. Sie sehnte sich nach einem Schluck Wasser.
Ihr gegenüber saß ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Er mochte in ihrem Alter sein. Sein rechtes Augenlid hing herunter.
„Guten Morgen, Alexandra“, sagte er. Seine Stimme klang weich. „Ich bin Daniel.“ Als wären sie sich beim Frühstück in einer Jugendherberge über den Weg gelaufen. „Wenn du versprichst, keinen Mucks zu machen, nehm ich das Tuch ab. Du musst aber leise sein. Versprochen?“
Alexandras Augen zuckten. Auf dem Tisch vor ihr stand ein Glas Wasser, daneben lag eine Mappe. Gleich würde sie sich übergeben.
„Versprochen? Du musst nicken, um es mir zu versprechen.“
Alexandra nickte. Hauptsache, er nahm ihr dieses Ding aus dem Mund.
„Gut. Du musst wissen, ich traue dir. Da wir uns aber nicht gut kennen, habe ich eine kleine – nun, sagen wir, eine Rückversicherung mitgebracht.“ Er zückte ein Messer. „Das ist ein Kenyo. Ein japanisches Filetier-Messer. Es gleitet durch deinen Hals wie durch Gelee. Solltest du auf die dumme Idee kommen, zu schreien.“
Alexandra starrte auf die Klinge, atmete hektisch. Die Welt verschwamm, als ihre Augen sich mit Tränen füllten, und einen Moment war sie überzeugt, an dem Tuch zu ersticken.
Der Fremde stand auf und schnitt ihr die Fesseln an den Handgelenken durch, anschließend entfernte er das Tuch.
„Bitte“, begann Alexandra. Das Sprechen schmerzte in der Kehle. „Bitte. Nehmen Sie, was Sie wollen. Ich habe Bargeld. Und dann verschwinden Sie. Ich habe Sie nicht gesehen. Ich werde keine Anzeige erstatten. Bitte.“
Der Mann lächelte. Er wusste, dass er mit seinem Aussehen unter Tausenden zu erkennen war.
„Ich bin nicht hier, um etwas zu nehmen, Alexandra. Ich bin hier, um etwas zu geben.“
„Was?“, fragte Alexandra, weil sie dachte, ihn nicht richtig verstanden zu haben.
„Ich bringe einen Ausgleich.“
Er rückte seinen Stuhl neben sie, wie ein Nachhilfelehrer. Dann öffnete er die Mappe.
„Ich möchte, dass du dir das ansiehst“, sagte er.
Alexandra hätte gern einen Schluck Wasser getrunken, ihre Kehle fühlte sich rau und wund an, doch sie traute sich nicht, danach zu fragen. Stattdessen blickte sie in die Mappe.
Sie enthielt vier Zeitungsausschnitte. Vierundzwanzigjähriger Mann stirbt bei Unfall. Ein Artikel hatte ein Bild abgedruckt. Darauf war ein ausgebranntes Autowrack zu sehen, das auf einer Wiese vor einem Baum stand.
Der Fremde tippte auf die Mappe. „Mein Bruder. Er ist in seinem Auto verbrannt.“ Er sagte das in einem plaudernden Tonfall, wie: Mein Bruder. Er spielt gerne Fußball.
„Das – oh Gott, das tut mir leid.“ Alexandra blickte auf das Datum. Das war über vier Jahre her.
„Die Ärzte meinten, er hat noch gelebt, als er gegen den Baum fuhr. Das Feuer hat ihn getötet. Ich glaube nicht, dass das seine Absicht war.“
Alexandra verstand nicht. Sie schüttelte den Kopf. „Bitte – was – wer sind Sie? Was wollen Sie?“
Der Mann ignorierte sie. „In den Artikeln steht, es war ein Unfall. Eine gerade Straße, mitten in der Nacht. Gut, mein Bruder war stockbetrunken. Trotzdem. Ich meine, glauben wir das? Steigt er einfach so zum Spaß mitten in der Nacht in sein Auto und verwechselt die Landstraße zwischen Schotten und Wilster mit der Nordschleife auf dem Nürburgring? Glauben wir das? Nun, vielleicht. Glauben wir es einen Moment.“
Er schlug die nächste Seite der Mappe auf. Darin befand sich die Kopie eines handgeschriebenen Textes.
„Wir glauben es, bis wir sein Tagebuch sehen.“
Der Mann nahm die Seite, und während er vorlas, zuckte sein herabhängendes Augenlid: „Ich habe in meinem Leben an vieles geglaubt. An das Christkind, zum Beispiel, oder daran, dass man vom vielen Fernsehen viereckige Augen bekommt. Ich habe geglaubt, dass Freundschaften ewig halten, und eine Zeit lang ging ich in die Kirche und glaubte an Gott. Nur eines habe ich immer geleugnet: Liebe auf den ersten Blick. Und ausgerechnet die hat mich erwischt.“
Der Mann ließ die Seite sinken.
„Er schreibt über eine Frau, in die er acht Monate verliebt war. Man könnte sagen, er war verrückt nach ihr, und in diesem Fall ist das keine Redewendung. Er hat ein paar Annäherungsversuche gestartet, und die Frau hat ihn weder abgewiesen, noch ist sie darauf eingegangen. Man könnte sagen, sie hat mit ihm gespielt, und das hat ihn krank gemacht. So krank, dass er eines Nachts dachte, der Baum wäre die bessere Alternative.“
Alexandra verstand nicht. „Bitte – was –?“
„Du kennst diese Frau. Ihr Name ist Mona Schneider.“
Alexandra schluchzte. „Wenn es um Mona geht, was wollen Sie dann von mir?“
„Ich will, dass sie dasselbe durchmacht wie ich. Ich will sehen, wie sie auf den Selbstmord der Schwester reagiert. Das interessiert mich.“
„Das ist doch – das ist doch total krank.“
„Natürlich ist es krank. Mein Bruder war krank, und sein Tod hat meine Mutter so krank gemacht, dass sie die Abgase ihres Autos eingeatmet hat. Sie hat überlebt, und jetzt liegt sie im Bett und starrt den ganzen Tag an die Decke. Das wiederum macht meinen Vater krank. Siehst du, wie es von einem zum anderen springt? Wie ein Virus. Die ganze Welt ist ein einziger kranker Scheiß. Du bist doch alt genug, um das zu wissen.“
Alexandra versuchte, vor dem Atem des Mannes zurückzuweichen. Er roch süß, als habe er im Dunkeln Gummibärchen genascht.
„Und was sollten dann die Zettel?“
Der Mann beugte sich vor. „Es waren Gedichte meines Bruders. Leicht abgeändert, aber passender. Er hatte nie den Mut, sie abzusenden. Weißt du, Alexandra, die meisten Menschen empfinden den Schmerz, der ihren Liebsten zugefügt wird, schlimmer als eigenes Leid. Die Verzweiflung eines nahen Angehörigen ist schwerer zu ertragen als die eigene. Ich musste mit ansehen, wie mein Bruder verzweifelte, und ich konnte nichts tun, bis eines Nachts die Polizei bei uns klingelte. Ich will, dass Mona dasselbe erfährt. Wie gesagt, es geht hier nicht um dich. Was ich tue, tue ich für Mona.“
Alexandra spürte eine Leere in sich. Sie hatte das Gefühl, immer weiterreden zu müssen. „Wie sind Sie hier reingekommen?“
„Es ist mein Beruf. Schlüsseldienst.“ Der Mann stand auf. „Genug geplaudert, Alexandra. Ich mache dir jetzt ein Angebot. Option eins. Du bist sicher durstig. Du trinkst dieses Glas Wasser, zusätzlich mit ein paar Tabletten. Du schläfst friedlich ein. Keine Sauerei, kein Vergleich zu einem brennenden Auto. Ich verlasse diese Wohnung, und niemand aus deiner Familie wird mich je wieder zu Gesicht kriegen. Oder du wählst Option zwei. Du weigerst dich, das Glas zu trinken. Dann schneide ich dir die Kehle durch, fahre zu Mona und mache dasselbe bei ihr. Und wenn ich schon dabei bin, statte ich deinen Eltern einen Besuch ab. Und vielleicht noch ein paar Leuten mehr, die du so kennst. Nun, was meinst du?“
Er grinste. Er grinste.
Alexandra heulte. „Bitte, lassen Sie mich. Ich bitte Sie.“
Er schüttelte langsam den Kopf. „Alexandra. Alexandra. Wenn man es genau nimmt, tu ich dir einen Gefallen. Was hast du denn vom Leben, dass du so daran hängst?“
Alexandra wünschte sich, Mona in die Arme zu nehmen. Sie bereute es, gestern mit ihr gestritten zu haben. Sie ein paar Sekunden zu umarmen, dafür würde sie alles geben.
Der Mann nahm das Glas in die freie Hand.
„Nun“, sagte er. „Die Wahl liegt bei dir. Wasser oder Messer?“
Auf dem Regal hinter dem Mann stand ein Foto, auf dem Mona und Alexandra auf dem Eiffelturm zu sehen waren. Sie hatten es vor vielen Jahren aufgenommen, in ihren ersten Ferien ohne Eltern. Ganz allein waren sie für eine Woche nach Paris gefahren. Es war die schönste Woche in Alexandras Leben. Auf der Rückseite des Fotos stand: Beste Freundinnen pour toujours.
Alexandra traf eine Wahl.
Als Mona aufwachte, war Maleks Betthälfte leer. Verschlafen blickte sie auf die Uhr. Kurz nach zehn. Und Malek war schon wieder im Fitness-Studio.
Obwohl es gestern spät geworden war, fühlte sie sich ausgeruht. Als sie gegen halb vier nach Hause gekommen waren, hätte sie beinahe von Alexandra und den Zetteln erzählt. Aber Malek würde es Martin weitererzählen, und das war sicher nicht in Alexandras Interesse.
Trotzdem – irgendwas musste sie tun. Sie wollte Alexandra helfen, auch wenn sie ihr die Szene von gestern übel nahm. Wie konnte sie allen Ernstes Malek beschuldigen? Das war absurd. Aber sie tat Mona leid. Seit Jahren wünschte sie ihrer Schwester einen Freund, irgendeinen lieben Typen, der sie anständig behandelte, wie sie es verdiente. In der Beziehung hatte Alexandra viel Pech gehabt, und jetzt kam dieser Idiot Martin mit seinen albernen Zetteln.
Mona griff nach dem Handy und sah, dass jemand auf ihre Mailbox gesprochen hatte. Sie hörte die Nachricht ab, und Alexandras Stimme erklang: „Hallo Mona, ich bin's. Ich bin – ich habe einen Entschluss gefasst. So kann es nicht weitergehen. Ich – ich – ich sag das nicht auf deine Mailbox. Ruf mich an, bitte. Es ist dringend.“
Mona legte auf. Was sollte das? Sie rief Alexandra zurück, erreichte sie nicht und legte auf. Sie stieg aus dem Bett und beschloss, erst mal zu frühstücken. Dann würde sie duschen und es nochmal bei ihrer Schwester versuchen. Sie würden das schon regeln.
Mona zog sich Sportklamotten an und verließ das Haus, um Brötchen zu holen. Als sie an ihrem Golf vorbeiging, blieb sie stehen.
Was soll das schon wieder?
Unter dem Scheibenwischer klemmte eine einzelne weiße Rose.