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Wenn Menschen ihre Gesichter verlieren
Menschen ohne Gesichter
Ich gehe beinahe jeden Tag meines Lebens zielstrebig zu meiner Arbeitsstelle, erledige meinen Job so gut es nur geht, dies immer in der ständigen Gewissheit, dass morgen wieder derselbe Tag in Grün auf mich wartet, am Abend setze ich mich dann in den Zug, steige an meiner Haltestelle aus, trinke zu Hause schließlich entspannt ein kleines Bierchen mit dem Nachbarn und schlafe letzten Endes friedlich vor dem Fernseher ein. Wie ich bereits erwähnte, lege ich die Strecke zur Firma mit der Bahn zurück, deshalb durchquere ich jeden Tag meines Lebens hektisch und eilend das Bahnhofsgelände, bis ich endlich zu meinem Zug gelange.
Doch nicht gestern. Gestern war alles anders...
Wie gewohnt war ich pünktlich um 7.30 Uhr am städtischen Bahnhof anzutreffen, doch als ich mich inmitten dieser wuselnden, umherlaufenden, reisenden Menge befand, musste ich einfach stehen bleiben. Bisher nahm ich all diese Menschen nicht wirklich wahr. Sie waren für mich nicht mehr als Wesen ohne Gesichter, Leidende der Großstadt ohne greifbare Seele. Normalerweise drängelte ich mich, leise vor mich her fluchend, durch diese Menge, machte mich dort und da dünn um gerade noch durch diese eine Lücke hier und hier zu passen und benutzte manchmal auch clevere Umwege um schneller an mein Ziel zu kommen... Aber die Menge nahm ich nie wirklich wahr, außer gestern. Denn an diesem Tag konnte ich nicht mehr tun als stehen zu bleiben, um dabei zuzusehen wie diese Menschen langsam aber stetig wieder zu einzelnen Individuen wurden.
Ich sah mich um und realisierte auf einmal die wartende, schwangere Frau vor dem Zug auf Gleis 1 und begann mich gleichzeitig zu fragen, was den Obdachlosen hinter mir wohl so weit gebracht hat, um hier bei den Toiletten zu übernachten. Auf einmal bemerkte ich, wie erniedrigend die Arbeit der Putzfrauen dieses Bahnhofs war, welche die Schlafstätten dieser Menschen reinigten und konnte mich in ihre Lage versetzen. Ein Leben voller schweißtreibender Arbeit hinter Eimern und Putzlappen und weit und breit kein Mensch, der dies respektiert und würdigt.
Aber ich registrierte auch den Herrn im Gucci-Anzug, der vier Fahrkartenautomaten neben mir in sein brandneues Nokia brabbelte. Ob ihm das viele Geld wirklich glücklich macht oder ob er dieses nur als Füllmaterial für sein ausgehöhltes Leben verwendet, wird wohl nie jemand erfahren... Auf jeden Fall rauschte er Sekunden später mit einem gut operierten Pamela Anderson-Verschnitt gen Süden davon.
Seinen Platz nahm nun ein älterer Herr mit Hut ein, sein Blick war weise und sein Gesicht konnte man mit einem Baumstamm vergleichen, voller Furchen, natürlich und geformt vom Leben. Er hielt eine circa ebenso alte Dame an der Hand, sie glich sich seinem Erscheinungsbild erstaunlich nahe an, die beiden vermittelten mir den Eindruck, in einer Art Symbiose zu leben, der eine schien vom anderen zu profitieren, zu lernen und mit dem andern zu wachsen.
Ich war überwältigt über meine neue Denk,- und Sichtweise, Menschen zu betrachten und zu beurteilen.
Doch dann, als mein Zug auf dem 5er Gleis ankam und ich mich noch mächtig sputen musste um ihn zu erreichen, verloren die Menschen ihre Gesichter und wurden wieder zum Teil der Großstadt, sie mutierten zu kleinen Komparsen eines billigen Films...
Hektisch suchte ich mir einen Sitzplatz und ließ mich neben irgend so einem pubertierenden Jüngling nieder. Oder war es doch eine Dame um die 40?